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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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die Vollkommenheit der ursprünglichen göttlichen Schöpfung auseinander-
setzte, welche die Welt dann sich selbst und ihren Naturgesetzen habe über-
lassen können.
Immer sind bei Petty, Hobbes, Locke, Cantillon, bei Quesnay und Montesquieu
die Naturgesetze und die göttlichen und Moralgesetze noch mehr oder weniger
eins und dasselbe. Es lag dem Naturrecht und der Verherrlichung der mensch-
lich individualistischen Triebe nahe, die Gesetze des Sollens und des Seins zu-
sammenfallen zu lassen, man identifizierte Selbsterhaltungstrieb und Pflicht-
gefühl, deren Durchsetzung das Geschehen erklärte. Für Hobbes ist die Lehre
von der ungeteilten starken Staatsgewalt die lex naturalis prima et fundamen-
talis; sie ist ihm zugleich Moralgebot und göttliches Gesetz, so sehr er daneben
das Gesellschaftsleben aus den selbstischen Trieben ableitete. Aber wie bei
Hobbes, so drängt auch sonst die Vorstellung von Gesetzen als Zusammenhän-
gen von Ursache und Wirkung vor, in die Gott nicht eingreift. Wenn Locke
gelegentlich von den "rules und laws of value" spricht, wenn Ricardo nach
"laws strebt, which determine the distribution of wealth," so schließen sie
sich dem Sprachgebrauch der Naturforscher an, die vor allem seit dem 18.
Jahrh. Naturgesetze suchten und fanden, welche auf eine strenge unabänder-
liche, von der Gottheit unberührte Wiederkehr der Koexistenz, noch mehr der
zeitlichen kausalen Folge der Erscheinungen zielten. Diese waren und blieben
aber bis auf den heutigen Tag in ihrem Charakter doch mannigfaltig verschieden.
Wir unterscheiden heute unter den Naturgesetzen kausale und empirische Ge-
setze; bei ersteren können wir im allgemeinen die Ursache der Wiederkehr
von Vorgängen, bei letzteren nicht; ferner unterscheidet man elementare und
abgeleitete Gesetze; Gesetze deren Folgen meß- und zählbare sind (d. h.
exakte) und solche, wo das nicht der Fall ist; einfache und komplexe Ge-
setze, je nachdem eine Ursache oder mehrere zusammenwirkende festge-
stellt sind; bei allen Naturgesetzen wird strenge ausnahmslose Wirkung an-
genommen, freilich mit der Einschränkung, daß überall Nebenumstände und
Gegenwirkungen auftreten können, welche den stets vorhandenen Druck der
Hauptursache aufheben oder modifizieren können. In den angewandten Natur-
wissenschaften handelt es sich hauptsächlich um solche komplexe Gesetze, die
scheinbar weniger streng sind, in ihrer sichtbaren Folge mehr nur Tendenzen
nach einer gewissen Richtung hin aufdecken, als vollständig gleiche Wirkungen
nach Art und Stärke.
Diese begriffliche Entwickelung der Naturgesetze, der Sprachgebrauch und
Sinn, der sich damit verband, übertrug sich nun auch auf die Geisteswissen-
schaften, vor allem auf die Volkswirtschaftslehre. Der glänzende Aufschwung
der Naturwissenschaft von 1750 bis 1900, die naheliegende Annahme, daß
die Denkgesetze und wissenschaftlichen Methoden einheitliche in gewissem
Sinne seien, trug dazu bei, wie die materialistischen Zeitströmungen. Man
übersah die Unterschiede, die im Stoffe liegen, man glaubte die einzelnen Gei-
steswissenschaften zu adeln, wenn man sie möglichst in naturwissenschaft-
liches Gewand steckte. Neuerdings trat dagegen eine sehr starke Reaktion ein,
die von Gesetzen in den Geisteswissenschaften überhaupt nichts wissen will
oder sie verächtlich als untergeordnete Hilfsmittel behandelt. Wir werden wei-
terhin sehen, wie das Berechtigte und das übers Ziel Hinausschießende in die-
ser Bewegung ist.
die Vollkommenheit der ursprünglichen göttlichen Schöpfung auseinander-
setzte, welche die Welt dann sich selbst und ihren Naturgesetzen habe über-
lassen können.
Immer sind bei Petty, Hobbes, Locke, Cantillon, bei Quesnay und Montesquieu
die Naturgesetze und die göttlichen und Moralgesetze noch mehr oder weniger
eins und dasselbe. Es lag dem Naturrecht und der Verherrlichung der mensch-
lich individualistischen Triebe nahe, die Gesetze des Sollens und des Seins zu-
sammenfallen zu lassen, man identifizierte Selbsterhaltungstrieb und Pflicht-
gefühl, deren Durchsetzung das Geschehen erklärte. Für Hobbes ist die Lehre
von der ungeteilten starken Staatsgewalt die lex naturalis prima et fundamen-
talis; sie ist ihm zugleich Moralgebot und göttliches Gesetz, so sehr er daneben
das Gesellschaftsleben aus den selbstischen Trieben ableitete. Aber wie bei
Hobbes, so drängt auch sonst die Vorstellung von Gesetzen als Zusammenhän-
gen von Ursache und Wirkung vor, in die Gott nicht eingreift. Wenn Locke
gelegentlich von den „rules und laws of value“ spricht, wenn Ricardo nach
„laws strebt, which determine the distribution of wealth,“ so schließen sie
sich dem Sprachgebrauch der Naturforscher an, die vor allem seit dem 18.
Jahrh. Naturgesetze suchten und fanden, welche auf eine strenge unabänder-
liche, von der Gottheit unberührte Wiederkehr der Koexistenz, noch mehr der
zeitlichen kausalen Folge der Erscheinungen zielten. Diese waren und blieben
aber bis auf den heutigen Tag in ihrem Charakter doch mannigfaltig verschieden.
Wir unterscheiden heute unter den Naturgesetzen kausale und empirische Ge-
setze; bei ersteren können wir im allgemeinen die Ursache der Wiederkehr
von Vorgängen, bei letzteren nicht; ferner unterscheidet man elementare und
abgeleitete Gesetze; Gesetze deren Folgen meß- und zählbare sind (d. h.
exakte) und solche, wo das nicht der Fall ist; einfache und komplexe Ge-
setze, je nachdem eine Ursache oder mehrere zusammenwirkende festge-
stellt sind; bei allen Naturgesetzen wird strenge ausnahmslose Wirkung an-
genommen, freilich mit der Einschränkung, daß überall Nebenumstände und
Gegenwirkungen auftreten können, welche den stets vorhandenen Druck der
Hauptursache aufheben oder modifizieren können. In den angewandten Natur-
wissenschaften handelt es sich hauptsächlich um solche komplexe Gesetze, die
scheinbar weniger streng sind, in ihrer sichtbaren Folge mehr nur Tendenzen
nach einer gewissen Richtung hin aufdecken, als vollständig gleiche Wirkungen
nach Art und Stärke.
Diese begriffliche Entwickelung der Naturgesetze, der Sprachgebrauch und
Sinn, der sich damit verband, übertrug sich nun auch auf die Geisteswissen-
schaften, vor allem auf die Volkswirtschaftslehre. Der glänzende Aufschwung
der Naturwissenschaft von 1750 bis 1900, die naheliegende Annahme, daß
die Denkgesetze und wissenschaftlichen Methoden einheitliche in gewissem
Sinne seien, trug dazu bei, wie die materialistischen Zeitströmungen. Man
übersah die Unterschiede, die im Stoffe liegen, man glaubte die einzelnen Gei-
steswissenschaften zu adeln, wenn man sie möglichst in naturwissenschaft-
liches Gewand steckte. Neuerdings trat dagegen eine sehr starke Reaktion ein,
die von Gesetzen in den Geisteswissenschaften überhaupt nichts wissen will
oder sie verächtlich als untergeordnete Hilfsmittel behandelt. Wir werden wei-
terhin sehen, wie das Berechtigte und das übers Ziel Hinausschießende in die-
ser Bewegung ist.
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[95/0099] ¹⁴ die Vollkommenheit der ursprünglichen göttlichen Schöpfung auseinander- setzte, welche die Welt dann sich selbst und ihren Naturgesetzen habe über- lassen können. Immer sind bei Petty, Hobbes, Locke, Cantillon, bei Quesnay und Montesquieu die Naturgesetze und die göttlichen und Moralgesetze noch mehr oder weniger eins und dasselbe. Es lag dem Naturrecht und der Verherrlichung der mensch- lich individualistischen Triebe nahe, die Gesetze des Sollens und des Seins zu- sammenfallen zu lassen, man identifizierte Selbsterhaltungstrieb und Pflicht- gefühl, deren Durchsetzung das Geschehen erklärte. Für Hobbes ist die Lehre von der ungeteilten starken Staatsgewalt die lex naturalis prima et fundamen- talis; sie ist ihm zugleich Moralgebot und göttliches Gesetz, so sehr er daneben das Gesellschaftsleben aus den selbstischen Trieben ableitete. Aber wie bei Hobbes, so drängt auch sonst die Vorstellung von Gesetzen als Zusammenhän- gen von Ursache und Wirkung vor, in die Gott nicht eingreift. Wenn Locke gelegentlich von den „rules und laws of value“ spricht, wenn Ricardo nach „laws strebt, which determine the distribution of wealth,“ so schließen sie sich dem Sprachgebrauch der Naturforscher an, die vor allem seit dem 18. Jahrh. Naturgesetze suchten und fanden, welche auf eine strenge unabänder- liche, von der Gottheit unberührte Wiederkehr der Koexistenz, noch mehr der zeitlichen kausalen Folge der Erscheinungen zielten. Diese waren und blieben aber bis auf den heutigen Tag in ihrem Charakter doch mannigfaltig verschieden. Wir unterscheiden heute unter den Naturgesetzen kausale und empirische Ge- setze; bei ersteren können wir im allgemeinen die Ursache der Wiederkehr von Vorgängen, bei letzteren nicht; ferner unterscheidet man elementare und abgeleitete Gesetze; Gesetze deren Folgen meß- und zählbare sind (d. h. exakte) und solche, wo das nicht der Fall ist; einfache und komplexe Ge- setze, je nachdem eine Ursache oder mehrere zusammenwirkende festge- stellt sind; bei allen Naturgesetzen wird strenge ausnahmslose Wirkung an- genommen, freilich mit der Einschränkung, daß überall Nebenumstände und Gegenwirkungen auftreten können, welche den stets vorhandenen Druck der Hauptursache aufheben oder modifizieren können. In den angewandten Natur- wissenschaften handelt es sich hauptsächlich um solche komplexe Gesetze, die scheinbar weniger streng sind, in ihrer sichtbaren Folge mehr nur Tendenzen nach einer gewissen Richtung hin aufdecken, als vollständig gleiche Wirkungen nach Art und Stärke. Diese begriffliche Entwickelung der Naturgesetze, der Sprachgebrauch und Sinn, der sich damit verband, übertrug sich nun auch auf die Geisteswissen- schaften, vor allem auf die Volkswirtschaftslehre. Der glänzende Aufschwung der Naturwissenschaft von 1750 bis 1900, die naheliegende Annahme, daß die Denkgesetze und wissenschaftlichen Methoden einheitliche in gewissem Sinne seien, trug dazu bei, wie die materialistischen Zeitströmungen. Man übersah die Unterschiede, die im Stoffe liegen, man glaubte die einzelnen Gei- steswissenschaften zu adeln, wenn man sie möglichst in naturwissenschaft- liches Gewand steckte. Neuerdings trat dagegen eine sehr starke Reaktion ein, die von Gesetzen in den Geisteswissenschaften überhaupt nichts wissen will oder sie verächtlich als untergeordnete Hilfsmittel behandelt. Wir werden wei- terhin sehen, wie das Berechtigte und das übers Ziel Hinausschießende in die- ser Bewegung ist.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/99>, abgerufen am 27.04.2024.