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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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herigen Psychologie und der geschichtlichen Welt". Wundt betont noch 1908,
daß natürlich die Vertreter der Geisteswissenschaften aus der heutigen wissen-
schaftlichen Psychologie keinen Nutzen hätten ziehen können. Aber um so ener-
gischer fordert er die Ausbildung einer individuellen und gesellschaftlichen be-
schreibenden Psychologie neben den heute angebauten erklärenden Teilen dieser
Wissenschaft. Und hat nicht längst die Herbartsche Schule Beiträge dazu ge-
liefert; hat nicht Horwicz mit seinen psychologischen Analysen, hat nicht
Theodor Waitz mit seiner Anthropologie der Naturvölker, haben nicht Ratzel
und Andere wichtige Bausteine zu einer solchen geliefert. G. Rümelins Reden
und Aufsätze enthalten zahlreiche Beiträge zur beschreibenden Psychologie.
Ebenso die ganze neuere Soziologie; ich erinnere nur an Le Bon's Psychologie
du socialisme (1902) und an Ch. Letourneau's Psychologie ethnique (1901),
an der gewiß viel zu tadeln ist, die aber doch auf dem Wege sich bewegt,
auf dem die Zukunft der beschreibenden Psychologie liegt. Hugo Münster-
berg trägt sich mit der Absicht, eine Psychologie der sozialen Klassen zu schaf-
fen.
Auch die Mehrzahl der wissenschaftlichen Nationalökonomen hat sich mehr
und mehr auf diesen Boden gestellt und begonnen an den Vorarbeiten zu einer
beschreibenden Psychologie teilzunehmen. Sax sagt: nationalökonomische Theo-
rie ist angewandte Psychologie. Hasbach hat wertvolle Versuche gemacht, die
großen volkswirtschaftlichen Gelehrten, die er behandelt, auf das System ihrer
psychologischen Vorstellungen zu prüfen und den Zusammenhang desselben mit
deren volkswirtschaftlichen Lehren, Idealen und Forderungen nachzuweisen.
Ich habe Ähnliches versucht in bezug auf die drei großen führenden Schulen
der Nationalökonomie; ich habe in meinem Grundriß die Rassen und Haupt-
völker als psychologische Typen zu charakterisieren unternommen, nur zu dem
Zweck, um den Anfänger vor dem vorschnellen Generalisieren aus dem Typus
des sog. Wirtschaftsmenschen oder des egoistischen schottischen oder jüdi-
schen Geschäftsmannes zu bewahren. Knapp schrieb mir nach Erscheinen mei-
nes ersten Bandes des Grundrisses, in der Betonung des Psychologischen finde
er das Charakteristische mehr als in der des Historischen. Brentano hat in
glücklicher Weise die ältere und die neuere Arbeiterpsyche zu fassen gesucht.
F. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden Gerech-
tigkeit bei der Preisbildung sowie die Wirkung den Eigennutzes im Groß-
verkehr -- abweichend vom Kleinverkehr -- festzustellen gesucht. Unsere ganze
große wirtschaftlich beschreibende Literatur hat fast durchaus psychologische
Analysen zum Ausgangspunkt. Sombarts Aufsatz über den kapitalistischen Un-
ternehmer im Archiv f. Soz. W. und sein neuestes Buch über die Juden ruhen
in erster Linie auf psychologischer Analyse. Meine ganzen Untersuchungen
über Gesellschafts-, Genossenschafts-, Aktienwesen usw. gehen von den ver-
schiedenen psychologischen Voraussetzungen dieser Formen aus. A. Wagner
hat seiner Grundlegung eine psychologische Trieblehre eingefügt; ich habe
meinem Grundriß in der Einleitung einen Abriß der individualen und massen-
psychologischen Verursachung wirtschaftlichen Handelns einverleiben zu müs-
sen geglaubt. Und alle diese Ansätze werden siegreich weiter sich ausbilden,
so unvollkommen sie heute noch sein mögen.
13 Am einfachsten ist der hauptsächlich 1880 bis 1900 herrschende Streit zwischen
herigen Psychologie und der geschichtlichen Welt“. Wundt betont noch 1908,
daß natürlich die Vertreter der Geisteswissenschaften aus der heutigen wissen-
schaftlichen Psychologie keinen Nutzen hätten ziehen können. Aber um so ener-
gischer fordert er die Ausbildung einer individuellen und gesellschaftlichen be-
schreibenden Psychologie neben den heute angebauten erklärenden Teilen dieser
Wissenschaft. Und hat nicht längst die Herbartsche Schule Beiträge dazu ge-
liefert; hat nicht Horwicz mit seinen psychologischen Analysen, hat nicht
Theodor Waitz mit seiner Anthropologie der Naturvölker, haben nicht Ratzel
und Andere wichtige Bausteine zu einer solchen geliefert. G. Rümelins Reden
und Aufsätze enthalten zahlreiche Beiträge zur beschreibenden Psychologie.
Ebenso die ganze neuere Soziologie; ich erinnere nur an Le Bon’s Psychologie
du socialisme (1902) und an Ch. Letourneau’s Psychologie éthnique (1901),
an der gewiß viel zu tadeln ist, die aber doch auf dem Wege sich bewegt,
auf dem die Zukunft der beschreibenden Psychologie liegt. Hugo Münster-
berg trägt sich mit der Absicht, eine Psychologie der sozialen Klassen zu schaf-
fen.
Auch die Mehrzahl der wissenschaftlichen Nationalökonomen hat sich mehr
und mehr auf diesen Boden gestellt und begonnen an den Vorarbeiten zu einer
beschreibenden Psychologie teilzunehmen. Sax sagt: nationalökonomische Theo-
rie ist angewandte Psychologie. Hasbach hat wertvolle Versuche gemacht, die
großen volkswirtschaftlichen Gelehrten, die er behandelt, auf das System ihrer
psychologischen Vorstellungen zu prüfen und den Zusammenhang desselben mit
deren volkswirtschaftlichen Lehren, Idealen und Forderungen nachzuweisen.
Ich habe Ähnliches versucht in bezug auf die drei großen führenden Schulen
der Nationalökonomie; ich habe in meinem Grundriß die Rassen und Haupt-
völker als psychologische Typen zu charakterisieren unternommen, nur zu dem
Zweck, um den Anfänger vor dem vorschnellen Generalisieren aus dem Typus
des sog. Wirtschaftsmenschen oder des egoistischen schottischen oder jüdi-
schen Geschäftsmannes zu bewahren. Knapp schrieb mir nach Erscheinen mei-
nes ersten Bandes des Grundrisses, in der Betonung des Psychologischen finde
er das Charakteristische mehr als in der des Historischen. Brentano hat in
glücklicher Weise die ältere und die neuere Arbeiterpsyche zu fassen gesucht.
F. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden Gerech-
tigkeit bei der Preisbildung sowie die Wirkung den Eigennutzes im Groß-
verkehr — abweichend vom Kleinverkehr — festzustellen gesucht. Unsere ganze
große wirtschaftlich beschreibende Literatur hat fast durchaus psychologische
Analysen zum Ausgangspunkt. Sombarts Aufsatz über den kapitalistischen Un-
ternehmer im Archiv f. Soz. W. und sein neuestes Buch über die Juden ruhen
in erster Linie auf psychologischer Analyse. Meine ganzen Untersuchungen
über Gesellschafts-, Genossenschafts-, Aktienwesen usw. gehen von den ver-
schiedenen psychologischen Voraussetzungen dieser Formen aus. A. Wagner
hat seiner Grundlegung eine psychologische Trieblehre eingefügt; ich habe
meinem Grundriß in der Einleitung einen Abriß der individualen und massen-
psychologischen Verursachung wirtschaftlichen Handelns einverleiben zu müs-
sen geglaubt. Und alle diese Ansätze werden siegreich weiter sich ausbilden,
so unvollkommen sie heute noch sein mögen.
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[92/0096] ¹² herigen Psychologie und der geschichtlichen Welt“. Wundt betont noch 1908, daß natürlich die Vertreter der Geisteswissenschaften aus der heutigen wissen- schaftlichen Psychologie keinen Nutzen hätten ziehen können. Aber um so ener- gischer fordert er die Ausbildung einer individuellen und gesellschaftlichen be- schreibenden Psychologie neben den heute angebauten erklärenden Teilen dieser Wissenschaft. Und hat nicht längst die Herbartsche Schule Beiträge dazu ge- liefert; hat nicht Horwicz mit seinen psychologischen Analysen, hat nicht Theodor Waitz mit seiner Anthropologie der Naturvölker, haben nicht Ratzel und Andere wichtige Bausteine zu einer solchen geliefert. G. Rümelins Reden und Aufsätze enthalten zahlreiche Beiträge zur beschreibenden Psychologie. Ebenso die ganze neuere Soziologie; ich erinnere nur an Le Bon’s Psychologie du socialisme (1902) und an Ch. Letourneau’s Psychologie éthnique (1901), an der gewiß viel zu tadeln ist, die aber doch auf dem Wege sich bewegt, auf dem die Zukunft der beschreibenden Psychologie liegt. Hugo Münster- berg trägt sich mit der Absicht, eine Psychologie der sozialen Klassen zu schaf- fen. Auch die Mehrzahl der wissenschaftlichen Nationalökonomen hat sich mehr und mehr auf diesen Boden gestellt und begonnen an den Vorarbeiten zu einer beschreibenden Psychologie teilzunehmen. Sax sagt: nationalökonomische Theo- rie ist angewandte Psychologie. Hasbach hat wertvolle Versuche gemacht, die großen volkswirtschaftlichen Gelehrten, die er behandelt, auf das System ihrer psychologischen Vorstellungen zu prüfen und den Zusammenhang desselben mit deren volkswirtschaftlichen Lehren, Idealen und Forderungen nachzuweisen. Ich habe Ähnliches versucht in bezug auf die drei großen führenden Schulen der Nationalökonomie; ich habe in meinem Grundriß die Rassen und Haupt- völker als psychologische Typen zu charakterisieren unternommen, nur zu dem Zweck, um den Anfänger vor dem vorschnellen Generalisieren aus dem Typus des sog. Wirtschaftsmenschen oder des egoistischen schottischen oder jüdi- schen Geschäftsmannes zu bewahren. Knapp schrieb mir nach Erscheinen mei- nes ersten Bandes des Grundrisses, in der Betonung des Psychologischen finde er das Charakteristische mehr als in der des Historischen. Brentano hat in glücklicher Weise die ältere und die neuere Arbeiterpsyche zu fassen gesucht. F. J. Neumann hat die Mitwirkung der austeilenden und entgeltenden Gerech- tigkeit bei der Preisbildung sowie die Wirkung den Eigennutzes im Groß- verkehr — abweichend vom Kleinverkehr — festzustellen gesucht. Unsere ganze große wirtschaftlich beschreibende Literatur hat fast durchaus psychologische Analysen zum Ausgangspunkt. Sombarts Aufsatz über den kapitalistischen Un- ternehmer im Archiv f. Soz. W. und sein neuestes Buch über die Juden ruhen in erster Linie auf psychologischer Analyse. Meine ganzen Untersuchungen über Gesellschafts-, Genossenschafts-, Aktienwesen usw. gehen von den ver- schiedenen psychologischen Voraussetzungen dieser Formen aus. A. Wagner hat seiner Grundlegung eine psychologische Trieblehre eingefügt; ich habe meinem Grundriß in der Einleitung einen Abriß der individualen und massen- psychologischen Verursachung wirtschaftlichen Handelns einverleiben zu müs- sen geglaubt. Und alle diese Ansätze werden siegreich weiter sich ausbilden, so unvollkommen sie heute noch sein mögen. ¹³ Am einfachsten ist der hauptsächlich 1880 bis 1900 herrschende Streit zwischen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/96>, abgerufen am 28.04.2024.