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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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übereinstimmung in allen sittlichen Urteilen, halte ich nur in ganz beschränk-
tem Sinne für wahr; sie trifft nur für Zeiten starker gesellschaftlicher Um-
bildung oder allgemeiner Verhetzung, Verwilderung und Auflösung zu.
2. Die Tatsache der historischen Entwickelung und Veränderung der sittlichen
Werturteile schließt natürlich die Folge in sich, daß dabei die verschiedenen
Parteien und Klassen, die verschiedenen Weltanschauungen verschiedene Ideale
der Reform aufstellen. Die einen verteidigen das Bestehende, die anderen ver-
langen größere oder kleinere Änderungen, rasche oder langsame Reformen.
Aber dabei bleiben meist gewisse letzte und wichtige Ideale und Werte un-
berührt, wenn auch der große Haufen von einer Umwertung aller Werte
spricht. Auch die Reformen knüpfen meist an bestehende oder alte Wertvor-
stellungen an. Es wird kürzere oder längere Zeit unsicher sein, was sich
ändert, was möglich ist, was Dauer hat. Zuletzt siegen die Führer im Kampfe
der Geister, deren sittliche Werturteile das Richtige, das Gute und Förder-
liche am besten treffen; sie siegen zuerst durch die Überzeugungskraft ihrer
Werturteile; erst später durch die Zustimmung der Massen. Alle Werturteile
bei solchen Umbildungen ausschalten, heiße sich dem blinden Ungefähr über-
lassen. Und wie sie im Leben die Herrschaft haben, so müssen sie auch in
der Wissenschaft, in den Erörterungen der Umbildung eine Rolle spielen. --
Man wird uns einwenden, daß wir so die Unentbehrlichkeit sittlicher Wert-
urteile in den Staats- und Sozialwissenschaften behaupten, nicht mehr wie
1890 ihre Zurückdrängung verlangen und den größeren Wert der reinen Kau-
saluntersuchung betonen. Darauf erwidern wir Folgendes.
Wir werfen zuerst einen Blick auf die Vorfrage: welche Ideale, welche sitt-
lichen Werturteile sind gemeint, welche aus der Volkswirtschaftslehre auszu-
scheiden seien, und an welche Grenzen der Volkswirtschaftslehre ist dabei
gedacht?
Niemand, auch die neueren Fanatiker der Ausscheidung verlangen nicht, daß
volkswirtschaftliche Ideale, daß sittliche Urteile überhaupt nicht mehr dis-
kutiert werden sollen. M. Weber betont, die historische Macht der sittlichen
Ideale könnte nicht hoch genug geschätzt, nicht dringlich genug dem geisti-
gen Verständnis erschlossen werden: nur von der "Erfahrungswissenschaft"
will er sie ausschließen. Er gibt zu, daß bei aller Auswahl der von den ein-
zelnen Gelehrten ergriffenen und untersuchten Fragen Werturteile die Ent-
scheidung geben. Auch Sombart sagt, "daß bei einer totalen Erörterung der
wirtschaftlichen Zusammenhänge der ethische Faktor niemals außer acht ge-
lassen werde". Im ganzen also kommt die Forderung dieser Kreise darauf
hinaus: wo empirische Erfahrung die sichere Grundlage für eine Erkenntnis
der Kausalzusammenhänge gebe, sollen nicht sittliche Ideale, politische Ge-
danken, die möglicherweise auf metaphysischem Gebiete, auf unempirischem
Boden gewachsen sind, als ausschlaggebend betrachtet werden. Das ist ganz
richtig und deckt sich mit dem Satze Riehls, den wir billigen: "was aus
wissenschaftlichen Gründen für falsch erklärt ist, daran kann man aus ethi-
schen Gründen nicht glauben". Aber ganz falsch ist es, wenn man das Wort
"wissenschaftlich" nun allgemein und ausschließlich für die exakte empi-
rische Erfahrung reservieren, aller Ethik oder gewissen Arten und Teilen der
Ethik diesen Namen absprechen will, wie es einige übereifrige Epigonen von
M. Weber tun. Die Ethik wird mehr und mehr auch zu einer Erfahrungs-
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übereinstimmung in allen sittlichen Urteilen, halte ich nur in ganz beschränk-
tem Sinne für wahr; sie trifft nur für Zeiten starker gesellschaftlicher Um-
bildung oder allgemeiner Verhetzung, Verwilderung und Auflösung zu.
2. Die Tatsache der historischen Entwickelung und Veränderung der sittlichen
Werturteile schließt natürlich die Folge in sich, daß dabei die verschiedenen
Parteien und Klassen, die verschiedenen Weltanschauungen verschiedene Ideale
der Reform aufstellen. Die einen verteidigen das Bestehende, die anderen ver-
langen größere oder kleinere Änderungen, rasche oder langsame Reformen.
Aber dabei bleiben meist gewisse letzte und wichtige Ideale und Werte un-
berührt, wenn auch der große Haufen von einer Umwertung aller Werte
spricht. Auch die Reformen knüpfen meist an bestehende oder alte Wertvor-
stellungen an. Es wird kürzere oder längere Zeit unsicher sein, was sich
ändert, was möglich ist, was Dauer hat. Zuletzt siegen die Führer im Kampfe
der Geister, deren sittliche Werturteile das Richtige, das Gute und Förder-
liche am besten treffen; sie siegen zuerst durch die Überzeugungskraft ihrer
Werturteile; erst später durch die Zustimmung der Massen. Alle Werturteile
bei solchen Umbildungen ausschalten, heiße sich dem blinden Ungefähr über-
lassen. Und wie sie im Leben die Herrschaft haben, so müssen sie auch in
der Wissenschaft, in den Erörterungen der Umbildung eine Rolle spielen. —
Man wird uns einwenden, daß wir so die Unentbehrlichkeit sittlicher Wert-
urteile in den Staats- und Sozialwissenschaften behaupten, nicht mehr wie
1890 ihre Zurückdrängung verlangen und den größeren Wert der reinen Kau-
saluntersuchung betonen. Darauf erwidern wir Folgendes.
Wir werfen zuerst einen Blick auf die Vorfrage: welche Ideale, welche sitt-
lichen Werturteile sind gemeint, welche aus der Volkswirtschaftslehre auszu-
scheiden seien, und an welche Grenzen der Volkswirtschaftslehre ist dabei
gedacht?
Niemand, auch die neueren Fanatiker der Ausscheidung verlangen nicht, daß
volkswirtschaftliche Ideale, daß sittliche Urteile überhaupt nicht mehr dis-
kutiert werden sollen. M. Weber betont, die historische Macht der sittlichen
Ideale könnte nicht hoch genug geschätzt, nicht dringlich genug dem geisti-
gen Verständnis erschlossen werden: nur von der „Erfahrungswissenschaft“
will er sie ausschließen. Er gibt zu, daß bei aller Auswahl der von den ein-
zelnen Gelehrten ergriffenen und untersuchten Fragen Werturteile die Ent-
scheidung geben. Auch Sombart sagt, „daß bei einer totalen Erörterung der
wirtschaftlichen Zusammenhänge der ethische Faktor niemals außer acht ge-
lassen werde“. Im ganzen also kommt die Forderung dieser Kreise darauf
hinaus: wo empirische Erfahrung die sichere Grundlage für eine Erkenntnis
der Kausalzusammenhänge gebe, sollen nicht sittliche Ideale, politische Ge-
danken, die möglicherweise auf metaphysischem Gebiete, auf unempirischem
Boden gewachsen sind, als ausschlaggebend betrachtet werden. Das ist ganz
richtig und deckt sich mit dem Satze Riehls, den wir billigen: „was aus
wissenschaftlichen Gründen für falsch erklärt ist, daran kann man aus ethi-
schen Gründen nicht glauben“. Aber ganz falsch ist es, wenn man das Wort
„wissenschaftlich“ nun allgemein und ausschließlich für die exakte empi-
rische Erfahrung reservieren, aller Ethik oder gewissen Arten und Teilen der
Ethik diesen Namen absprechen will, wie es einige übereifrige Epigonen von
M. Weber tun. Die Ethik wird mehr und mehr auch zu einer Erfahrungs-
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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/85>, abgerufen am 28.04.2024.