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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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rung man nicht übernimmt, sind wertlose Wechsel auf eine unbekannte Zu-
kunft.
Etwas ganz anderes und sehr wünschenswertes ist es, daß man, wo Lehrer
und Zuhörer dafür vorhanden sind, besondere Vorlesungen über Geschichte der
Volkswirtschaft, über Geschichte der Finanzen eines Staates, über Geschichte
und Methode der Wissenschaft halte, daß man aus der praktischen Natio-
nalökonomie zu groß gewordene Teile, wie Sozialpolitik, Verkehrswesen, Bank-
wesen, Agrarpolitik zu besonderen Vorlesungen ausscheide. Das geschieht schon
in umfassendem Maße z. B. in London und Paris, auf den amerikanischen
Universitäten, in Deutschland noch viel zu wenig.
3 Neuerdings hat ein großer wissenschaftlicher Streit darüber Platz gegriffen,
ob die Naturwissenschaften einerseits, die Geistes- und Kulturwissenschaften
(wie sie Rickert nennen will) andererseits grundsätzlich ganz verschiedene
Methoden anzuwenden hätten. Da der Streit auch auf die Volkswirtschafts-
lehre, hauptsächlich aber auf die ihr so nahestehende Geschichtswissenschaft
übergriff, so muß er hier kurz geschildert werden, so wenig wir ihn auch
nach allen Seiten vorführen können.
Nachdem Dilthey dem methodologischen Gegensatz der Wissenschaften vom
Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte zu den Naturwissenschaften
scharf betont und aus der historischen Richtung der ersteren gefolgert hatte,
daß für sie die Auffassung des Individualen ebensogut einen letzten Zweck
bilde wie die Entwickelung abstrakter Gleichförmigkeiten, wurde diese Forde-
rung von Windelband und Rickert zur schroffsten Antithese erweitert. Sie
gehen von der nicht zu leugnenden Tatsache aus, daß seit zwei Jahrhunderten
die Erkenntnistheorie sich einseitig an die Naturwissenschaften angeschlossen
habe; und das habe die Folge gehabt, daß man auch die Geisteswissenschaften
nach einseitig naturwissenschaftlicher Methode habe ausbilden wollen. Sie for-
dern also eine getrennte Erkenntnistheorie für die beiden großen Gebiete der
Wissenschaften. Die Naturwissenschaften, sagt Windelband, suchen allge-
meine Gesetze, sind Gesetzeswissenschaften, die Geisteswissenschaften suchen
besondere geschichtliche Tatsachen, sind Ereigniswissenschaften; jene haben
nomothetische Denkformen und Untersuchungen, diese idiographische, noe-
tische (verstehende). Dort überwiegt die Abstraktion, hier die Anschaulichkeit.
Beide Methoden sind gleich notwendig, lassen sich aber nicht aufeinander
zurückführen.
Rickert geht im ganzen ähnliche Wege; auch ihm ist der Gegensatz zur Na-
turwissenschaft hauptsächlich die Geschichte, deren Begriff er bald in engerem
Sinne für sich, bald im Sinne der gesamten historischen Kulturwissenschaf-
ten anwendet. Über die Aufgabe der Naturwissenschaft sagt er: das Ideal
einer allgemeinen Theorie der Körperwelt ist, die anschauliche Mannigfaltig-
keit der Körper im Raume in ein übersehbares System von Begriffen zu ord-
nen. Die Welt ist im Grunde überall dieselbe. Alle Verschiedenheit und
aller Wechsel beruht auf der Bewegung eines unveränderlichen elementaren
Substrates im Raum. Diese Bewegung wird von einheitlichen Gesetzen be-
herrscht, die aufzusuchen, mathematisch zu formulieren und in ein System zu
bringen, Aufgabe der Wissenschaft ist. Die körperliche Natur ist also zu ver-
stehen als ein Mechanismus. Dagegen, sagt er, gibt es Dinge und Vor-
rung man nicht übernimmt, sind wertlose Wechsel auf eine unbekannte Zu-
kunft.
Etwas ganz anderes und sehr wünschenswertes ist es, daß man, wo Lehrer
und Zuhörer dafür vorhanden sind, besondere Vorlesungen über Geschichte der
Volkswirtschaft, über Geschichte der Finanzen eines Staates, über Geschichte
und Methode der Wissenschaft halte, daß man aus der praktischen Natio-
nalökonomie zu groß gewordene Teile, wie Sozialpolitik, Verkehrswesen, Bank-
wesen, Agrarpolitik zu besonderen Vorlesungen ausscheide. Das geschieht schon
in umfassendem Maße z. B. in London und Paris, auf den amerikanischen
Universitäten, in Deutschland noch viel zu wenig.
3 Neuerdings hat ein großer wissenschaftlicher Streit darüber Platz gegriffen,
ob die Naturwissenschaften einerseits, die Geistes- und Kulturwissenschaften
(wie sie Rickert nennen will) andererseits grundsätzlich ganz verschiedene
Methoden anzuwenden hätten. Da der Streit auch auf die Volkswirtschafts-
lehre, hauptsächlich aber auf die ihr so nahestehende Geschichtswissenschaft
übergriff, so muß er hier kurz geschildert werden, so wenig wir ihn auch
nach allen Seiten vorführen können.
Nachdem Dilthey dem methodologischen Gegensatz der Wissenschaften vom
Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte zu den Naturwissenschaften
scharf betont und aus der historischen Richtung der ersteren gefolgert hatte,
daß für sie die Auffassung des Individualen ebensogut einen letzten Zweck
bilde wie die Entwickelung abstrakter Gleichförmigkeiten, wurde diese Forde-
rung von Windelband und Rickert zur schroffsten Antithese erweitert. Sie
gehen von der nicht zu leugnenden Tatsache aus, daß seit zwei Jahrhunderten
die Erkenntnistheorie sich einseitig an die Naturwissenschaften angeschlossen
habe; und das habe die Folge gehabt, daß man auch die Geisteswissenschaften
nach einseitig naturwissenschaftlicher Methode habe ausbilden wollen. Sie for-
dern also eine getrennte Erkenntnistheorie für die beiden großen Gebiete der
Wissenschaften. Die Naturwissenschaften, sagt Windelband, suchen allge-
meine Gesetze, sind Gesetzeswissenschaften, die Geisteswissenschaften suchen
besondere geschichtliche Tatsachen, sind Ereigniswissenschaften; jene haben
nomothetische Denkformen und Untersuchungen, diese idiographische, noe-
tische (verstehende). Dort überwiegt die Abstraktion, hier die Anschaulichkeit.
Beide Methoden sind gleich notwendig, lassen sich aber nicht aufeinander
zurückführen.
Rickert geht im ganzen ähnliche Wege; auch ihm ist der Gegensatz zur Na-
turwissenschaft hauptsächlich die Geschichte, deren Begriff er bald in engerem
Sinne für sich, bald im Sinne der gesamten historischen Kulturwissenschaf-
ten anwendet. Über die Aufgabe der Naturwissenschaft sagt er: das Ideal
einer allgemeinen Theorie der Körperwelt ist, die anschauliche Mannigfaltig-
keit der Körper im Raume in ein übersehbares System von Begriffen zu ord-
nen. Die Welt ist im Grunde überall dieselbe. Alle Verschiedenheit und
aller Wechsel beruht auf der Bewegung eines unveränderlichen elementaren
Substrates im Raum. Diese Bewegung wird von einheitlichen Gesetzen be-
herrscht, die aufzusuchen, mathematisch zu formulieren und in ein System zu
bringen, Aufgabe der Wissenschaft ist. Die körperliche Natur ist also zu ver-
stehen als ein Mechanismus. Dagegen, sagt er, gibt es Dinge und Vor-
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[75/0079] ² rung man nicht übernimmt, sind wertlose Wechsel auf eine unbekannte Zu- kunft. Etwas ganz anderes und sehr wünschenswertes ist es, daß man, wo Lehrer und Zuhörer dafür vorhanden sind, besondere Vorlesungen über Geschichte der Volkswirtschaft, über Geschichte der Finanzen eines Staates, über Geschichte und Methode der Wissenschaft halte, daß man aus der praktischen Natio- nalökonomie zu groß gewordene Teile, wie Sozialpolitik, Verkehrswesen, Bank- wesen, Agrarpolitik zu besonderen Vorlesungen ausscheide. Das geschieht schon in umfassendem Maße z. B. in London und Paris, auf den amerikanischen Universitäten, in Deutschland noch viel zu wenig. ³ Neuerdings hat ein großer wissenschaftlicher Streit darüber Platz gegriffen, ob die Naturwissenschaften einerseits, die Geistes- und Kulturwissenschaften (wie sie Rickert nennen will) andererseits grundsätzlich ganz verschiedene Methoden anzuwenden hätten. Da der Streit auch auf die Volkswirtschafts- lehre, hauptsächlich aber auf die ihr so nahestehende Geschichtswissenschaft übergriff, so muß er hier kurz geschildert werden, so wenig wir ihn auch nach allen Seiten vorführen können. Nachdem Dilthey dem methodologischen Gegensatz der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte zu den Naturwissenschaften scharf betont und aus der historischen Richtung der ersteren gefolgert hatte, daß für sie die Auffassung des Individualen ebensogut einen letzten Zweck bilde wie die Entwickelung abstrakter Gleichförmigkeiten, wurde diese Forde- rung von Windelband und Rickert zur schroffsten Antithese erweitert. Sie gehen von der nicht zu leugnenden Tatsache aus, daß seit zwei Jahrhunderten die Erkenntnistheorie sich einseitig an die Naturwissenschaften angeschlossen habe; und das habe die Folge gehabt, daß man auch die Geisteswissenschaften nach einseitig naturwissenschaftlicher Methode habe ausbilden wollen. Sie for- dern also eine getrennte Erkenntnistheorie für die beiden großen Gebiete der Wissenschaften. Die Naturwissenschaften, sagt Windelband, suchen allge- meine Gesetze, sind Gesetzeswissenschaften, die Geisteswissenschaften suchen besondere geschichtliche Tatsachen, sind Ereigniswissenschaften; jene haben nomothetische Denkformen und Untersuchungen, diese idiographische, noe- tische (verstehende). Dort überwiegt die Abstraktion, hier die Anschaulichkeit. Beide Methoden sind gleich notwendig, lassen sich aber nicht aufeinander zurückführen. Rickert geht im ganzen ähnliche Wege; auch ihm ist der Gegensatz zur Na- turwissenschaft hauptsächlich die Geschichte, deren Begriff er bald in engerem Sinne für sich, bald im Sinne der gesamten historischen Kulturwissenschaf- ten anwendet. Über die Aufgabe der Naturwissenschaft sagt er: das Ideal einer allgemeinen Theorie der Körperwelt ist, die anschauliche Mannigfaltig- keit der Körper im Raume in ein übersehbares System von Begriffen zu ord- nen. Die Welt ist im Grunde überall dieselbe. Alle Verschiedenheit und aller Wechsel beruht auf der Bewegung eines unveränderlichen elementaren Substrates im Raum. Diese Bewegung wird von einheitlichen Gesetzen be- herrscht, die aufzusuchen, mathematisch zu formulieren und in ein System zu bringen, Aufgabe der Wissenschaft ist. Die körperliche Natur ist also zu ver- stehen als ein Mechanismus. Dagegen, sagt er, gibt es Dinge und Vor-

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/79>, abgerufen am 27.04.2024.