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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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schaft, der Menschenseele; daraus entspringen unsere Ideale, von hier
aus empfängt unser Handeln seine Impulse und Zwecke; hier liegt
die Wurzel für alle religiösen, ethischen, politischen, nationalökono-
mischen Systeme; hier entspringt die Weltanschauung und das Lebens-
ideal, die jeden Menschen im Innersten beherrschen, die seinen Zu-
sammenhang mit dem All und der Gottheit bestimmen. Es ist der
Weg teleologischer und synthetischer Betrachtung und Ausdeutung,
der aber in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen
je nach den wechselnden und sich vervollkommenden Weltbildern zu
verschiedenen Resultaten führen muß. Ist das die Schwäche dieses
Weges, so liegt seine Stärke darin, daß der Menschengeist in dieser
Weise sofort das Ganze und den großen Zusammenhang der Dinge
fassen kann; er ist dazu fähig, weil er alles geistige Geschehen von
innen her miterlebend dieses von Anfang an als ein Ganzes besitzt,
wenn auch zunächst nur in dunkeln Bildern und Ahnungen.

In die Umrisse des so begreiflich Gewordenen zeichnet nun der
trennende Verstand die Erkenntnis des einzelnen ein. Indem er die
Erscheinungen in ihre kleinen und kleinsten Teile auflöst, diese be-
obachtet und beschreibt, sie benennt und klassifiziert, kommt er mit
Hilfe der Induktion und Deduktion zur Erfassung der Ursachen, aus
denen alles einzelne entspringt. Die Ergebnisse dieser methodischen,
empirischen Einzelerkenntnis sind für jeden richtig Verfahrenden
dieselben; auf ihrem Gebiete gibt es keinen Zweifel und kein Schwan-
ken mehr. Je weiter der menschliche Geist auf diesem Wege vordringt,
desto mehr kann er auch in dem Begreifen des Ganzen zu feststehen-
den Ergebnissen kommen, desto geläuterter wird seine Weltanschauung,
werden seine Ideale werden, desto vollendeter wird er sein Handeln
einrichten können, desto richtiger sieht er in die Zukunft. Stets muß
er die beiden Wege der trennenden Analyse und der zusammenfassen-
den Synthese zu verbinden suchen. Es entspricht das seiner innersten
Geistesnatur, seinem Willen und seinem Triebe nach Erkenntnis.
"Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und
Verständnis von vornherein besessenen Ganzen", sagt Dilthey, "das ist
der Charakter der Geschichte der Geisteswissenschaften."

Das ist auch der Weg, den die Volkswirtschaftslehre zurückgelegt hat:
Von Vorstellungen und Zwecken der Familien-, Gemeinde- und
Staatswirtschaft ausgehend, ist sie auf dem Wege der Analyse des
Verkehrs und des arbeitenden Menschen, des Güterlebens und der
Ursachen des Reichtums zum Begriffe der Volkswirtschaft gekommen.
Sie ist eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes geworden,
hat sich als selbständiger Teil aus der Ethik losgelöst, seit die fort-
schreitende Einzelerkenntnis den vorläufigen Bildern des Ganzen, den
Idealforderungen und praktischen Lehren die Wage hielt. Sie ist

schaft, der Menschenseele; daraus entspringen unsere Ideale, von hier
aus empfängt unser Handeln seine Impulse und Zwecke; hier liegt
die Wurzel für alle religiösen, ethischen, politischen, nationalökono-
mischen Systeme; hier entspringt die Weltanschauung und das Lebens-
ideal, die jeden Menschen im Innersten beherrschen, die seinen Zu-
sammenhang mit dem All und der Gottheit bestimmen. Es ist der
Weg teleologischer und synthetischer Betrachtung und Ausdeutung,
der aber in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen
je nach den wechselnden und sich vervollkommenden Weltbildern zu
verschiedenen Resultaten führen muß. Ist das die Schwäche dieses
Weges, so liegt seine Stärke darin, daß der Menschengeist in dieser
Weise sofort das Ganze und den großen Zusammenhang der Dinge
fassen kann; er ist dazu fähig, weil er alles geistige Geschehen von
innen her miterlebend dieses von Anfang an als ein Ganzes besitzt,
wenn auch zunächst nur in dunkeln Bildern und Ahnungen.

In die Umrisse des so begreiflich Gewordenen zeichnet nun der
trennende Verstand die Erkenntnis des einzelnen ein. Indem er die
Erscheinungen in ihre kleinen und kleinsten Teile auflöst, diese be-
obachtet und beschreibt, sie benennt und klassifiziert, kommt er mit
Hilfe der Induktion und Deduktion zur Erfassung der Ursachen, aus
denen alles einzelne entspringt. Die Ergebnisse dieser methodischen,
empirischen Einzelerkenntnis sind für jeden richtig Verfahrenden
dieselben; auf ihrem Gebiete gibt es keinen Zweifel und kein Schwan-
ken mehr. Je weiter der menschliche Geist auf diesem Wege vordringt,
desto mehr kann er auch in dem Begreifen des Ganzen zu feststehen-
den Ergebnissen kommen, desto geläuterter wird seine Weltanschauung,
werden seine Ideale werden, desto vollendeter wird er sein Handeln
einrichten können, desto richtiger sieht er in die Zukunft. Stets muß
er die beiden Wege der trennenden Analyse und der zusammenfassen-
den Synthese zu verbinden suchen. Es entspricht das seiner innersten
Geistesnatur, seinem Willen und seinem Triebe nach Erkenntnis.
„Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und
Verständnis von vornherein besessenen Ganzen“, sagt Dilthey, „das ist
der Charakter der Geschichte der Geisteswissenschaften.“

Das ist auch der Weg, den die Volkswirtschaftslehre zurückgelegt hat:
Von Vorstellungen und Zwecken der Familien-, Gemeinde- und
Staatswirtschaft ausgehend, ist sie auf dem Wege der Analyse des
Verkehrs und des arbeitenden Menschen, des Güterlebens und der
Ursachen des Reichtums zum Begriffe der Volkswirtschaft gekommen.
Sie ist eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes geworden,
hat sich als selbständiger Teil aus der Ethik losgelöst, seit die fort-
schreitende Einzelerkenntnis den vorläufigen Bildern des Ganzen, den
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[72/0076] schaft, der Menschenseele; daraus entspringen unsere Ideale, von hier aus empfängt unser Handeln seine Impulse und Zwecke; hier liegt die Wurzel für alle religiösen, ethischen, politischen, nationalökono- mischen Systeme; hier entspringt die Weltanschauung und das Lebens- ideal, die jeden Menschen im Innersten beherrschen, die seinen Zu- sammenhang mit dem All und der Gottheit bestimmen. Es ist der Weg teleologischer und synthetischer Betrachtung und Ausdeutung, der aber in verschiedenen Zeiten und bei verschiedenen Menschen je nach den wechselnden und sich vervollkommenden Weltbildern zu verschiedenen Resultaten führen muß. Ist das die Schwäche dieses Weges, so liegt seine Stärke darin, daß der Menschengeist in dieser Weise sofort das Ganze und den großen Zusammenhang der Dinge fassen kann; er ist dazu fähig, weil er alles geistige Geschehen von innen her miterlebend dieses von Anfang an als ein Ganzes besitzt, wenn auch zunächst nur in dunkeln Bildern und Ahnungen. In die Umrisse des so begreiflich Gewordenen zeichnet nun der trennende Verstand die Erkenntnis des einzelnen ein. Indem er die Erscheinungen in ihre kleinen und kleinsten Teile auflöst, diese be- obachtet und beschreibt, sie benennt und klassifiziert, kommt er mit Hilfe der Induktion und Deduktion zur Erfassung der Ursachen, aus denen alles einzelne entspringt. Die Ergebnisse dieser methodischen, empirischen Einzelerkenntnis sind für jeden richtig Verfahrenden dieselben; auf ihrem Gebiete gibt es keinen Zweifel und kein Schwan- ken mehr. Je weiter der menschliche Geist auf diesem Wege vordringt, desto mehr kann er auch in dem Begreifen des Ganzen zu feststehen- den Ergebnissen kommen, desto geläuterter wird seine Weltanschauung, werden seine Ideale werden, desto vollendeter wird er sein Handeln einrichten können, desto richtiger sieht er in die Zukunft. Stets muß er die beiden Wege der trennenden Analyse und der zusammenfassen- den Synthese zu verbinden suchen. Es entspricht das seiner innersten Geistesnatur, seinem Willen und seinem Triebe nach Erkenntnis. „Fortschreitende Analysis eines von uns in unmittelbarem Wissen und Verständnis von vornherein besessenen Ganzen“, sagt Dilthey, „das ist der Charakter der Geschichte der Geisteswissenschaften.“ Das ist auch der Weg, den die Volkswirtschaftslehre zurückgelegt hat: Von Vorstellungen und Zwecken der Familien-, Gemeinde- und Staatswirtschaft ausgehend, ist sie auf dem Wege der Analyse des Verkehrs und des arbeitenden Menschen, des Güterlebens und der Ursachen des Reichtums zum Begriffe der Volkswirtschaft gekommen. Sie ist eine Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes geworden, hat sich als selbständiger Teil aus der Ethik losgelöst, seit die fort- schreitende Einzelerkenntnis den vorläufigen Bildern des Ganzen, den Idealforderungen und praktischen Lehren die Wage hielt. Sie ist

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/76>, abgerufen am 27.04.2024.