Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

gewesen, welche in der menschlichen Seele das Erinnerungsvermögen
zu bilden halfen, welche die Menschen zum Vergleich und Unterschei-
den hinleiteten und endlich zur Erforschung der Ursachen dieser
Regelmäßigkeiten hinführten, wie ja auch dieser feste und rhythmische
Gang der sich wiederholenden Naturerscheinungen für den Menschen
zum Anlaß wurde, stets wieder zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, die
Stunden des Tages und die Tage des Jahres planvoll einzuteilen, das
Leben darnach zu gestalten.

Auch die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre heftete sich zu-
erst an die Konstatierung der Wiederkehr gleicher Erscheinungen.
Man bemerkte dieselbe Hauswirtschaft, denselben Güteraustausch, die
gleiche Einrichtung des Geldes, dieselbe Arbeitsteilung, dieselben wirt-
schaftlichen Klassen, das gleiche Zusammenwirken von Unternehmern
und Arbeitern, man entdeckte dieselbe Wiederholung von Preisbe-
wegungen, dieselben Wirkungen guten und schlechten Geldes, reicher
und armer Ernten, dieselben Regelmäßigkeiten in den Zahlen der
Geburten, der Sterbefälle, der Ehen. Und je mehr ein noch wenig ge-
schulter Verstand schon das Ähnliche für gleich hält, desto mehr war
man zunächst geneigt, überwiegend auf diese gröberen Übereinstim-
mungen und Regelmäßigkeiten zu achten, sie zu registrieren und so
in einer beschränkten Summe sich regelmäßig begleitender oder sich
regelmäßig folgender Erscheinungen das Wesen der Wissenschaft zu
sehen. Die Zusammenstellung einiger typischen Formen gesellschaft-
licher Organisation und gesellschaftlichen Verkehrs nebst den regel-
mäßigen Veränderungen und Bewegungen innerhalb dieser Formen,
all das abstrahiert aus den westeuropäischen, hauptsächlich englisch-
französischen Zuständen von 1750--1850, das war der Gegenstand
der älteren Volkswirtschaftslehre. Die Formen erklärte man nicht
näher, sondern nahm sie als gegeben und selbstverständlich an, man
bildete sich ein, sie seien als eine direkte Folge der menschlichen
Natur stets vorhanden gewesen und bei allen Völkern zu treffen. Was
man aus Ursachen erklären wollte, war wesentlich die Preisbildung und
die Einkommensverteilung zwischen Grundeigentümern, Kapitalisten
(man dachte bei diesem Worte wesentlich an die Klasse der Unter-
nehmer) und Arbeitern. Und die Regeln, die man aus der angeblichen
allgemeinen Menschennatur über Preisbildung und Einkommensvertei-
lung abgeleitet, nannte man Gesetze, man sprach vom Gesetz von An-
gebot und Nachfrage, von dem Gesetz, daß bei freiem Mitbewerbe die
Preise nach den Kosten gravitieren, vom Gesetz der Grundrente, vom
ehernen Lohngesetz, ja von den "unzähligen Naturgesetzen" der Volks-
wirtschaft; und bald darauf nannte man jede Regelmäßigkeit von
Zahlen, welche die Statistik ergab, ein statistisches Gesetz, z. B. die
Tatsache, daß auf 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß von

gewesen, welche in der menschlichen Seele das Erinnerungsvermögen
zu bilden halfen, welche die Menschen zum Vergleich und Unterschei-
den hinleiteten und endlich zur Erforschung der Ursachen dieser
Regelmäßigkeiten hinführten, wie ja auch dieser feste und rhythmische
Gang der sich wiederholenden Naturerscheinungen für den Menschen
zum Anlaß wurde, stets wieder zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, die
Stunden des Tages und die Tage des Jahres planvoll einzuteilen, das
Leben darnach zu gestalten.

Auch die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre heftete sich zu-
erst an die Konstatierung der Wiederkehr gleicher Erscheinungen.
Man bemerkte dieselbe Hauswirtschaft, denselben Güteraustausch, die
gleiche Einrichtung des Geldes, dieselbe Arbeitsteilung, dieselben wirt-
schaftlichen Klassen, das gleiche Zusammenwirken von Unternehmern
und Arbeitern, man entdeckte dieselbe Wiederholung von Preisbe-
wegungen, dieselben Wirkungen guten und schlechten Geldes, reicher
und armer Ernten, dieselben Regelmäßigkeiten in den Zahlen der
Geburten, der Sterbefälle, der Ehen. Und je mehr ein noch wenig ge-
schulter Verstand schon das Ähnliche für gleich hält, desto mehr war
man zunächst geneigt, überwiegend auf diese gröberen Übereinstim-
mungen und Regelmäßigkeiten zu achten, sie zu registrieren und so
in einer beschränkten Summe sich regelmäßig begleitender oder sich
regelmäßig folgender Erscheinungen das Wesen der Wissenschaft zu
sehen. Die Zusammenstellung einiger typischen Formen gesellschaft-
licher Organisation und gesellschaftlichen Verkehrs nebst den regel-
mäßigen Veränderungen und Bewegungen innerhalb dieser Formen,
all das abstrahiert aus den westeuropäischen, hauptsächlich englisch-
französischen Zuständen von 1750—1850, das war der Gegenstand
der älteren Volkswirtschaftslehre. Die Formen erklärte man nicht
näher, sondern nahm sie als gegeben und selbstverständlich an, man
bildete sich ein, sie seien als eine direkte Folge der menschlichen
Natur stets vorhanden gewesen und bei allen Völkern zu treffen. Was
man aus Ursachen erklären wollte, war wesentlich die Preisbildung und
die Einkommensverteilung zwischen Grundeigentümern, Kapitalisten
(man dachte bei diesem Worte wesentlich an die Klasse der Unter-
nehmer) und Arbeitern. Und die Regeln, die man aus der angeblichen
allgemeinen Menschennatur über Preisbildung und Einkommensvertei-
lung abgeleitet, nannte man Gesetze, man sprach vom Gesetz von An-
gebot und Nachfrage, von dem Gesetz, daß bei freiem Mitbewerbe die
Preise nach den Kosten gravitieren, vom Gesetz der Grundrente, vom
ehernen Lohngesetz, ja von den „unzähligen Naturgesetzen“ der Volks-
wirtschaft; und bald darauf nannte man jede Regelmäßigkeit von
Zahlen, welche die Statistik ergab, ein statistisches Gesetz, z. B. die
Tatsache, daß auf 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß von

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0070" n="66"/>
gewesen, welche in der menschlichen Seele das Erinnerungsvermögen<lb/>
zu bilden halfen, welche die Menschen zum Vergleich und Unterschei-<lb/>
den hinleiteten und endlich zur Erforschung der Ursachen dieser<lb/>
Regelmäßigkeiten hinführten, wie ja auch dieser feste und rhythmische<lb/>
Gang der sich wiederholenden Naturerscheinungen für den Menschen<lb/>
zum Anlaß wurde, stets wieder zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, die<lb/>
Stunden des Tages und die Tage des Jahres planvoll einzuteilen, das<lb/>
Leben darnach zu gestalten.</p><lb/>
        <p>Auch die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre heftete sich zu-<lb/>
erst an die Konstatierung der Wiederkehr gleicher Erscheinungen.<lb/>
Man bemerkte dieselbe Hauswirtschaft, denselben Güteraustausch, die<lb/>
gleiche Einrichtung des Geldes, dieselbe Arbeitsteilung, dieselben wirt-<lb/>
schaftlichen Klassen, das gleiche Zusammenwirken von Unternehmern<lb/>
und Arbeitern, man entdeckte dieselbe Wiederholung von Preisbe-<lb/>
wegungen, dieselben Wirkungen guten und schlechten Geldes, reicher<lb/>
und armer Ernten, dieselben Regelmäßigkeiten in den Zahlen der<lb/>
Geburten, der Sterbefälle, der Ehen. Und je mehr ein noch wenig ge-<lb/>
schulter Verstand schon das Ähnliche für gleich hält, desto mehr war<lb/>
man zunächst geneigt, überwiegend auf diese gröberen Übereinstim-<lb/>
mungen und Regelmäßigkeiten zu achten, sie zu registrieren und so<lb/>
in einer beschränkten Summe sich regelmäßig begleitender oder sich<lb/>
regelmäßig folgender Erscheinungen das Wesen der Wissenschaft zu<lb/>
sehen. Die Zusammenstellung einiger typischen Formen gesellschaft-<lb/>
licher Organisation und gesellschaftlichen Verkehrs nebst den regel-<lb/>
mäßigen Veränderungen und Bewegungen innerhalb dieser Formen,<lb/>
all das abstrahiert aus den westeuropäischen, hauptsächlich englisch-<lb/>
französischen Zuständen von 1750&#x2014;1850, das war der Gegenstand<lb/>
der älteren Volkswirtschaftslehre. Die Formen erklärte man nicht<lb/>
näher, sondern nahm sie als gegeben und selbstverständlich an, man<lb/>
bildete sich ein, sie seien als eine direkte Folge der menschlichen<lb/>
Natur stets vorhanden gewesen und bei allen Völkern zu treffen. Was<lb/>
man aus Ursachen erklären wollte, war wesentlich die Preisbildung und<lb/>
die Einkommensverteilung zwischen Grundeigentümern, Kapitalisten<lb/>
(man dachte bei diesem Worte wesentlich an die Klasse der Unter-<lb/>
nehmer) und Arbeitern. Und die Regeln, die man aus der angeblichen<lb/>
allgemeinen Menschennatur über Preisbildung und Einkommensvertei-<lb/>
lung abgeleitet, nannte man Gesetze, man sprach vom Gesetz von An-<lb/>
gebot und Nachfrage, von dem Gesetz, daß bei freiem Mitbewerbe die<lb/>
Preise nach den Kosten gravitieren, vom Gesetz der Grundrente, vom<lb/>
ehernen Lohngesetz, ja von den &#x201E;unzähligen Naturgesetzen&#x201C; der Volks-<lb/>
wirtschaft; und bald darauf nannte man jede Regelmäßigkeit von<lb/>
Zahlen, welche die Statistik ergab, ein statistisches Gesetz, z. B. die<lb/>
Tatsache, daß auf 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß von<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0070] gewesen, welche in der menschlichen Seele das Erinnerungsvermögen zu bilden halfen, welche die Menschen zum Vergleich und Unterschei- den hinleiteten und endlich zur Erforschung der Ursachen dieser Regelmäßigkeiten hinführten, wie ja auch dieser feste und rhythmische Gang der sich wiederholenden Naturerscheinungen für den Menschen zum Anlaß wurde, stets wieder zu gleicher Zeit dasselbe zu tun, die Stunden des Tages und die Tage des Jahres planvoll einzuteilen, das Leben darnach zu gestalten. Auch die Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre heftete sich zu- erst an die Konstatierung der Wiederkehr gleicher Erscheinungen. Man bemerkte dieselbe Hauswirtschaft, denselben Güteraustausch, die gleiche Einrichtung des Geldes, dieselbe Arbeitsteilung, dieselben wirt- schaftlichen Klassen, das gleiche Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitern, man entdeckte dieselbe Wiederholung von Preisbe- wegungen, dieselben Wirkungen guten und schlechten Geldes, reicher und armer Ernten, dieselben Regelmäßigkeiten in den Zahlen der Geburten, der Sterbefälle, der Ehen. Und je mehr ein noch wenig ge- schulter Verstand schon das Ähnliche für gleich hält, desto mehr war man zunächst geneigt, überwiegend auf diese gröberen Übereinstim- mungen und Regelmäßigkeiten zu achten, sie zu registrieren und so in einer beschränkten Summe sich regelmäßig begleitender oder sich regelmäßig folgender Erscheinungen das Wesen der Wissenschaft zu sehen. Die Zusammenstellung einiger typischen Formen gesellschaft- licher Organisation und gesellschaftlichen Verkehrs nebst den regel- mäßigen Veränderungen und Bewegungen innerhalb dieser Formen, all das abstrahiert aus den westeuropäischen, hauptsächlich englisch- französischen Zuständen von 1750—1850, das war der Gegenstand der älteren Volkswirtschaftslehre. Die Formen erklärte man nicht näher, sondern nahm sie als gegeben und selbstverständlich an, man bildete sich ein, sie seien als eine direkte Folge der menschlichen Natur stets vorhanden gewesen und bei allen Völkern zu treffen. Was man aus Ursachen erklären wollte, war wesentlich die Preisbildung und die Einkommensverteilung zwischen Grundeigentümern, Kapitalisten (man dachte bei diesem Worte wesentlich an die Klasse der Unter- nehmer) und Arbeitern. Und die Regeln, die man aus der angeblichen allgemeinen Menschennatur über Preisbildung und Einkommensvertei- lung abgeleitet, nannte man Gesetze, man sprach vom Gesetz von An- gebot und Nachfrage, von dem Gesetz, daß bei freiem Mitbewerbe die Preise nach den Kosten gravitieren, vom Gesetz der Grundrente, vom ehernen Lohngesetz, ja von den „unzähligen Naturgesetzen“ der Volks- wirtschaft; und bald darauf nannte man jede Regelmäßigkeit von Zahlen, welche die Statistik ergab, ein statistisches Gesetz, z. B. die Tatsache, daß auf 16 Mädchen 17 Knaben geboren werden, daß von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/70
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/70>, abgerufen am 23.11.2024.