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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Geschichte chronologisch und erzählend, von den Staatswissenschaften
theoretisch und zusammenfassend vorgeführt wird. Und wenn das
Überlieferte lückenhaft ist, von dem wirklich Geschehenen nur einen
bescheidenen kleinen Teil ausmacht, so ist doch das Wichtigste seit
Jahrtausenden aufgezeichnet worden und wächst die Kunde des Ge-
schehenen in dem Maße, als es sich der Gegenwart nähert. Was die
Geschichte uns berichtet, ist jedenfalls millionenfach mehr, als was der
Forscher heute selbst sehen und beobachten kann. Und alles, was er
aus der Gegenwart an Beobachtung indirekt aufnimmt, ist Überliefe-
rung, welche ebenso lückenhaft sein kann, welche auf ihre Glaub-
würdigkeit ebenso geprüft werden muß. Gewiß hat die Gegenwart
viele Hilfsmittel der Beobachtung, die für die Vergangenheit fehlen;
und gewiß werden wir sie benutzen und voll ausnützen, auch eventuell
auf sie uns beschränken, wo wir sicher annehmen können, daß auch in
der Vergangenheit sich die Vorgänge ganz ebenso abgespielt haben wie
heute; es kann dies z. B. von gewissen elementaren Vorgängen des
Marktes angenommen werden. Aber die Vorfrage ist immer, ob in der
Tat früher die Motive, die Handlungen, die Ergebnisse ganz dieselben
waren. Und zur Feststellung hiervon dienen uns nur das historische
Material, die überlieferte Sprach- und Literaturdenkmäler, die über-
lieferten Sitten und wirtschaftlichen Einrichtungen. Die wichtigsten
volkswirtschaftlichen Prozesse jedenfalls verlaufen in Jahrzehnten und
Jahrhunderten, haben ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit, die
nur historisch aufzudecken ist.

Daß das historische Beobachtungsmaterial nur ein Teil des volkswirt-
schaftlich zu verwertenden sei, daß daneben geographisches, ethno-
logisches, statistisches, psychologisches und technisches ebenso in Be-
tracht komme, hat kein Vernünftiger je geleugnet. Und wenn K. Men-
ger neuerdings behauptet hat, es gebe "Einige", die erklärten, "die
Geschichte der Volkswirtschaft sei die allein berechtigte empirische
Grundlage für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der mensch-
lichen Wirtschaft", so hat er keine Spur eines Beweises dafür anzufüh-
ren vermocht. Die psychologische und statistische Empirie ist gerade
von den historischen Nationalökonomen stets zugleich mit Nachdruck
gefordert worden.

Wenn neuerdings A. Wagner die Überlegenheit der statistischen über
die historische Methode mit Nachdruck behauptet hat und der ersteren
die Beobachtung der Massen, das systematische Vorgehen, den tieferen
Einblick in die Kausalverhältnisse nachrühmt, so ist die größere
Brauchbarkeit der Statistik für die Erfassung der Quantitäten selbst-
verständlich zugegeben; in der allseitigen Beschreibung der Massen-
erscheinungen aber ist die Geschichte doch wirksamer, ebenso in der
Erfassung typischer Formen des Gesellschaftslebens, im Eindringen in

Geschichte chronologisch und erzählend, von den Staatswissenschaften
theoretisch und zusammenfassend vorgeführt wird. Und wenn das
Überlieferte lückenhaft ist, von dem wirklich Geschehenen nur einen
bescheidenen kleinen Teil ausmacht, so ist doch das Wichtigste seit
Jahrtausenden aufgezeichnet worden und wächst die Kunde des Ge-
schehenen in dem Maße, als es sich der Gegenwart nähert. Was die
Geschichte uns berichtet, ist jedenfalls millionenfach mehr, als was der
Forscher heute selbst sehen und beobachten kann. Und alles, was er
aus der Gegenwart an Beobachtung indirekt aufnimmt, ist Überliefe-
rung, welche ebenso lückenhaft sein kann, welche auf ihre Glaub-
würdigkeit ebenso geprüft werden muß. Gewiß hat die Gegenwart
viele Hilfsmittel der Beobachtung, die für die Vergangenheit fehlen;
und gewiß werden wir sie benutzen und voll ausnützen, auch eventuell
auf sie uns beschränken, wo wir sicher annehmen können, daß auch in
der Vergangenheit sich die Vorgänge ganz ebenso abgespielt haben wie
heute; es kann dies z. B. von gewissen elementaren Vorgängen des
Marktes angenommen werden. Aber die Vorfrage ist immer, ob in der
Tat früher die Motive, die Handlungen, die Ergebnisse ganz dieselben
waren. Und zur Feststellung hiervon dienen uns nur das historische
Material, die überlieferte Sprach- und Literaturdenkmäler, die über-
lieferten Sitten und wirtschaftlichen Einrichtungen. Die wichtigsten
volkswirtschaftlichen Prozesse jedenfalls verlaufen in Jahrzehnten und
Jahrhunderten, haben ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit, die
nur historisch aufzudecken ist.

Daß das historische Beobachtungsmaterial nur ein Teil des volkswirt-
schaftlich zu verwertenden sei, daß daneben geographisches, ethno-
logisches, statistisches, psychologisches und technisches ebenso in Be-
tracht komme, hat kein Vernünftiger je geleugnet. Und wenn K. Men-
ger neuerdings behauptet hat, es gebe „Einige“, die erklärten, „die
Geschichte der Volkswirtschaft sei die allein berechtigte empirische
Grundlage für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der mensch-
lichen Wirtschaft“, so hat er keine Spur eines Beweises dafür anzufüh-
ren vermocht. Die psychologische und statistische Empirie ist gerade
von den historischen Nationalökonomen stets zugleich mit Nachdruck
gefordert worden.

Wenn neuerdings A. Wagner die Überlegenheit der statistischen über
die historische Methode mit Nachdruck behauptet hat und der ersteren
die Beobachtung der Massen, das systematische Vorgehen, den tieferen
Einblick in die Kausalverhältnisse nachrühmt, so ist die größere
Brauchbarkeit der Statistik für die Erfassung der Quantitäten selbst-
verständlich zugegeben; in der allseitigen Beschreibung der Massen-
erscheinungen aber ist die Geschichte doch wirksamer, ebenso in der
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[42/0046] Geschichte chronologisch und erzählend, von den Staatswissenschaften theoretisch und zusammenfassend vorgeführt wird. Und wenn das Überlieferte lückenhaft ist, von dem wirklich Geschehenen nur einen bescheidenen kleinen Teil ausmacht, so ist doch das Wichtigste seit Jahrtausenden aufgezeichnet worden und wächst die Kunde des Ge- schehenen in dem Maße, als es sich der Gegenwart nähert. Was die Geschichte uns berichtet, ist jedenfalls millionenfach mehr, als was der Forscher heute selbst sehen und beobachten kann. Und alles, was er aus der Gegenwart an Beobachtung indirekt aufnimmt, ist Überliefe- rung, welche ebenso lückenhaft sein kann, welche auf ihre Glaub- würdigkeit ebenso geprüft werden muß. Gewiß hat die Gegenwart viele Hilfsmittel der Beobachtung, die für die Vergangenheit fehlen; und gewiß werden wir sie benutzen und voll ausnützen, auch eventuell auf sie uns beschränken, wo wir sicher annehmen können, daß auch in der Vergangenheit sich die Vorgänge ganz ebenso abgespielt haben wie heute; es kann dies z. B. von gewissen elementaren Vorgängen des Marktes angenommen werden. Aber die Vorfrage ist immer, ob in der Tat früher die Motive, die Handlungen, die Ergebnisse ganz dieselben waren. Und zur Feststellung hiervon dienen uns nur das historische Material, die überlieferte Sprach- und Literaturdenkmäler, die über- lieferten Sitten und wirtschaftlichen Einrichtungen. Die wichtigsten volkswirtschaftlichen Prozesse jedenfalls verlaufen in Jahrzehnten und Jahrhunderten, haben ihre Wurzeln in einer fernen Vergangenheit, die nur historisch aufzudecken ist. Daß das historische Beobachtungsmaterial nur ein Teil des volkswirt- schaftlich zu verwertenden sei, daß daneben geographisches, ethno- logisches, statistisches, psychologisches und technisches ebenso in Be- tracht komme, hat kein Vernünftiger je geleugnet. Und wenn K. Men- ger neuerdings behauptet hat, es gebe „Einige“, die erklärten, „die Geschichte der Volkswirtschaft sei die allein berechtigte empirische Grundlage für die theoretische Forschung auf dem Gebiete der mensch- lichen Wirtschaft“, so hat er keine Spur eines Beweises dafür anzufüh- ren vermocht. Die psychologische und statistische Empirie ist gerade von den historischen Nationalökonomen stets zugleich mit Nachdruck gefordert worden. Wenn neuerdings A. Wagner die Überlegenheit der statistischen über die historische Methode mit Nachdruck behauptet hat und der ersteren die Beobachtung der Massen, das systematische Vorgehen, den tieferen Einblick in die Kausalverhältnisse nachrühmt, so ist die größere Brauchbarkeit der Statistik für die Erfassung der Quantitäten selbst- verständlich zugegeben; in der allseitigen Beschreibung der Massen- erscheinungen aber ist die Geschichte doch wirksamer, ebenso in der Erfassung typischer Formen des Gesellschaftslebens, im Eindringen in

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/46>, abgerufen am 24.04.2024.