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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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lehre ein Verfahren, das solche Synthesen versucht, unentbehrlich und
berechtigt.

VI.
DIE SYSTEME ODER ALLGEMEINEN THEORIEN ÜBER
STAAT, RECHT UND VOLKSWIRTSCHAFT

In dem Maße, als das gesellschaftliche Leben komplizierter wurde, die
Arbeitsteilung besondere Berufe schuf, in diesen besonderen Berufs-
kreisen ein spezielles Wissen sich sammelte und systematisch zusam-
mengefaßt oder stückweise von Spezialisten behandelt wurde, ent-
standen die besonderen Wissenschaften vom Staate, vom Rechte, von
der Volkswirtschaft. Diese Wissenschaften hatten von Anfang an ihren
konkreten Stoff, mit einer Summe einzelner Beobachtungen, Urteile,
Wahrheiten; sie suchten aber, zumal im Anfang und soweit ihre Be-
handlung in den Händen von Philosophen, Moralisten, Volksbeglückern
lag, zugleich und in erster Linie eine einheitliche systematische Form
und oberste letzte Prinzipien, aus denen die einzelnen Regeln des Han-
delns abzuleiten wären. Sie stellten sich insofern auch nach der Aus-
scheidung aus der Ethik als Teile der Moralsysteme, als basiert auf eine
bestimmte Weltanschauung dar. Und so bildeten sich die verschiedenen
Staats- und Rechtstheorien, die verschiedenen Volkswirtschaftstheorien,
die teils gleichzeitig nebeneinander entstanden und einander bekämpf-
ten, teils in ihrem historischen Wechsel, in ihrem bald steigenden, bald
sinkenden Einfluß einander ablösten. Sie sind in dem Punkte allen
Glaubens- und allen Moralsystemen gleich, daß keines dieser Systeme
für sich die volle Wahrheit und in seinen obersten Prinzipien unan-
fechtbare Erkenntnis darstellt. Sie nähern sich nur in ihrer Gesamt-
heit dieser an. Es sind die vorläufigen Versuche, aus den Bruchstücken
unserer Erkenntnis ein Ganzes zu machen, um so fähig zu werden, in
einheitlicher Weise Ideale aufzustellen und das praktische Leben zu
regulieren.

Daher haben entgegengesetzte Staatstheorien seit den Tagen der So-
phisten und seit den großen mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen
Kaiser und Papst das politische und rechtliche Leben beherrscht; die
einen leiten den Staat aus einem Vertrage der Individuen, die anderen
aus einer göttlichen Ordnung und dem Einfluß objektiver Mächte ab.
So haben wir, seit es eine volkswirtschaftliche Literatur von Bedeutung
gibt, konservative, liberale, ultramontane und sozialistische Theorien,
die den verschiedenen prinzipiellen Standpunkten in der Staatsauffas-
sung, in der Ethik und in der Philosophie entsprechen; sie stellen
hauptsächlich verschiedene Ideale für die wirtschaftliche Moral, für die

lehre ein Verfahren, das solche Synthesen versucht, unentbehrlich und
berechtigt.

VI.
DIE SYSTEME ODER ALLGEMEINEN THEORIEN ÜBER
STAAT, RECHT UND VOLKSWIRTSCHAFT

In dem Maße, als das gesellschaftliche Leben komplizierter wurde, die
Arbeitsteilung besondere Berufe schuf, in diesen besonderen Berufs-
kreisen ein spezielles Wissen sich sammelte und systematisch zusam-
mengefaßt oder stückweise von Spezialisten behandelt wurde, ent-
standen die besonderen Wissenschaften vom Staate, vom Rechte, von
der Volkswirtschaft. Diese Wissenschaften hatten von Anfang an ihren
konkreten Stoff, mit einer Summe einzelner Beobachtungen, Urteile,
Wahrheiten; sie suchten aber, zumal im Anfang und soweit ihre Be-
handlung in den Händen von Philosophen, Moralisten, Volksbeglückern
lag, zugleich und in erster Linie eine einheitliche systematische Form
und oberste letzte Prinzipien, aus denen die einzelnen Regeln des Han-
delns abzuleiten wären. Sie stellten sich insofern auch nach der Aus-
scheidung aus der Ethik als Teile der Moralsysteme, als basiert auf eine
bestimmte Weltanschauung dar. Und so bildeten sich die verschiedenen
Staats- und Rechtstheorien, die verschiedenen Volkswirtschaftstheorien,
die teils gleichzeitig nebeneinander entstanden und einander bekämpf-
ten, teils in ihrem historischen Wechsel, in ihrem bald steigenden, bald
sinkenden Einfluß einander ablösten. Sie sind in dem Punkte allen
Glaubens- und allen Moralsystemen gleich, daß keines dieser Systeme
für sich die volle Wahrheit und in seinen obersten Prinzipien unan-
fechtbare Erkenntnis darstellt. Sie nähern sich nur in ihrer Gesamt-
heit dieser an. Es sind die vorläufigen Versuche, aus den Bruchstücken
unserer Erkenntnis ein Ganzes zu machen, um so fähig zu werden, in
einheitlicher Weise Ideale aufzustellen und das praktische Leben zu
regulieren.

Daher haben entgegengesetzte Staatstheorien seit den Tagen der So-
phisten und seit den großen mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen
Kaiser und Papst das politische und rechtliche Leben beherrscht; die
einen leiten den Staat aus einem Vertrage der Individuen, die anderen
aus einer göttlichen Ordnung und dem Einfluß objektiver Mächte ab.
So haben wir, seit es eine volkswirtschaftliche Literatur von Bedeutung
gibt, konservative, liberale, ultramontane und sozialistische Theorien,
die den verschiedenen prinzipiellen Standpunkten in der Staatsauffas-
sung, in der Ethik und in der Philosophie entsprechen; sie stellen
hauptsächlich verschiedene Ideale für die wirtschaftliche Moral, für die

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[26/0030] lehre ein Verfahren, das solche Synthesen versucht, unentbehrlich und berechtigt. VI. DIE SYSTEME ODER ALLGEMEINEN THEORIEN ÜBER STAAT, RECHT UND VOLKSWIRTSCHAFT In dem Maße, als das gesellschaftliche Leben komplizierter wurde, die Arbeitsteilung besondere Berufe schuf, in diesen besonderen Berufs- kreisen ein spezielles Wissen sich sammelte und systematisch zusam- mengefaßt oder stückweise von Spezialisten behandelt wurde, ent- standen die besonderen Wissenschaften vom Staate, vom Rechte, von der Volkswirtschaft. Diese Wissenschaften hatten von Anfang an ihren konkreten Stoff, mit einer Summe einzelner Beobachtungen, Urteile, Wahrheiten; sie suchten aber, zumal im Anfang und soweit ihre Be- handlung in den Händen von Philosophen, Moralisten, Volksbeglückern lag, zugleich und in erster Linie eine einheitliche systematische Form und oberste letzte Prinzipien, aus denen die einzelnen Regeln des Han- delns abzuleiten wären. Sie stellten sich insofern auch nach der Aus- scheidung aus der Ethik als Teile der Moralsysteme, als basiert auf eine bestimmte Weltanschauung dar. Und so bildeten sich die verschiedenen Staats- und Rechtstheorien, die verschiedenen Volkswirtschaftstheorien, die teils gleichzeitig nebeneinander entstanden und einander bekämpf- ten, teils in ihrem historischen Wechsel, in ihrem bald steigenden, bald sinkenden Einfluß einander ablösten. Sie sind in dem Punkte allen Glaubens- und allen Moralsystemen gleich, daß keines dieser Systeme für sich die volle Wahrheit und in seinen obersten Prinzipien unan- fechtbare Erkenntnis darstellt. Sie nähern sich nur in ihrer Gesamt- heit dieser an. Es sind die vorläufigen Versuche, aus den Bruchstücken unserer Erkenntnis ein Ganzes zu machen, um so fähig zu werden, in einheitlicher Weise Ideale aufzustellen und das praktische Leben zu regulieren. Daher haben entgegengesetzte Staatstheorien seit den Tagen der So- phisten und seit den großen mittelalterlichen Streitigkeiten zwischen Kaiser und Papst das politische und rechtliche Leben beherrscht; die einen leiten den Staat aus einem Vertrage der Individuen, die anderen aus einer göttlichen Ordnung und dem Einfluß objektiver Mächte ab. So haben wir, seit es eine volkswirtschaftliche Literatur von Bedeutung gibt, konservative, liberale, ultramontane und sozialistische Theorien, die den verschiedenen prinzipiellen Standpunkten in der Staatsauffas- sung, in der Ethik und in der Philosophie entsprechen; sie stellen hauptsächlich verschiedene Ideale für die wirtschaftliche Moral, für die

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/30>, abgerufen am 28.03.2024.