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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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wollten bis in die neuere Zeit vielmehr ein Sollen lehren, Ideale pre-
digen, als das Geschehende aus Ursachen zu erklären. Mögen sie daher
in steigendem Maße den empirischen Stoff der psychologischen, gesell-
schaftlichen und sonstigen Tatsachen in sich aufnehmen; es liegt ihnen
doch in erster Linie daran, einen einheitlichen Ausgangspunkt der Ver-
pflichtung, eine Erklärung des Sollens zu finden. Das können sie nur
durch ein Verfahren, das zwischen Glauben und Wissen die Mitte
hält. Sie suchen intuitiv, synthetisch, mit der Phantasie sich ein Bild
von der Welt und der Weltregierung, von den in ihr herrschenden
Prinzipien und Ideen, von ihrer Entwickelung und vom Zusammen-
hange alles Menschenschicksals mit der Welt und ihrem Mittelpunkte,
vom Zwecke des Menschenlebens und seiner Zukunft zu machen. Sie
benutzen dazu die empirische Kenntnis der Welt; soweit sie nicht
reicht, verfahren sie teleologisch, d. h. sie suchen von einem Bilde
des Ganzen aus das einzelne, als zweckmäßig diesem Ganzen dienend,
zu begreifen, durch reflektierende Urteile so den Stoff unter allgemei-
nen Gesichtspunkten zu ordnen, wie Kant uns das in der Kritik der
Urteilskraft näher auseinander gesetzt hat. Alle bedeutenden Philo-
sophen seither haben zugegeben, daß so die Teleologie als ein berech-
tigtes Reflexionsprinzip, als ein heuristisches Hilfsmittel benutzt wer-
den, als eine symbolisierende Ergänzung der empirischen Wissenschaft
zur Seite treten müsse und dürfe. Es ist der Versuch einer Ausdeutung
des Ganzen und seiner Zwecke. Die Vorstellung, daß die Welt eine
einheitliche sei, daß es ein Stufenreich der Natur und der Geschichte,
einen Fortschritt und eine Vervollkommnung, eine Entwickelung gebe,
ist in der Hauptsache nur so zu gewinnen.

Die teleologische Betrachtung ist die wichtigste Art, eine Summe von
Erscheinungen, deren inneren kausalen Zusammenhang wir noch nicht
kennen, als ein Ganzes zu begreifen. Sie ist mit der systematischen in-
sofern verwandt, als auch diese eine Summe von Erscheinungen oder
Wahrheiten einheitlich ordnen und begreifen will; aber der einheitlich
ordnende Gedanke muß hier nicht notwendig ein Zweckgedanke sein
und die systematische Anordnung schließt noch den weiteren Gedanken
ein, alle einzelnen Teile des Ganzen in der Reihenfolge vorzuführen,
wie es der inneren Zusammengehörigkeit entspricht.

Die ethischen Betrachtungen bedürfen der Teleologie deshalb in so
besonderem Maße, weil alle sittlichen Werturteile aus Gefühlen und
Vorstellungen hervorgehen, die sich auf den Gesamtinhalt und Ge-
samtzweck des menschlichen Lebens beziehen.

Die teleologischen Betrachtungen und die ethischen Systeme haben in
sich eine Geschichte, sie haben sich veredelt und geläutert; aber ihre
Sätze, wenigstens ein großer Teil derselben, stellen keine Wahrheit dar,
die bei allen Menschen in gleicher Weise durchdringen müßte. Es sind

wollten bis in die neuere Zeit vielmehr ein Sollen lehren, Ideale pre-
digen, als das Geschehende aus Ursachen zu erklären. Mögen sie daher
in steigendem Maße den empirischen Stoff der psychologischen, gesell-
schaftlichen und sonstigen Tatsachen in sich aufnehmen; es liegt ihnen
doch in erster Linie daran, einen einheitlichen Ausgangspunkt der Ver-
pflichtung, eine Erklärung des Sollens zu finden. Das können sie nur
durch ein Verfahren, das zwischen Glauben und Wissen die Mitte
hält. Sie suchen intuitiv, synthetisch, mit der Phantasie sich ein Bild
von der Welt und der Weltregierung, von den in ihr herrschenden
Prinzipien und Ideen, von ihrer Entwickelung und vom Zusammen-
hange alles Menschenschicksals mit der Welt und ihrem Mittelpunkte,
vom Zwecke des Menschenlebens und seiner Zukunft zu machen. Sie
benutzen dazu die empirische Kenntnis der Welt; soweit sie nicht
reicht, verfahren sie teleologisch, d. h. sie suchen von einem Bilde
des Ganzen aus das einzelne, als zweckmäßig diesem Ganzen dienend,
zu begreifen, durch reflektierende Urteile so den Stoff unter allgemei-
nen Gesichtspunkten zu ordnen, wie Kant uns das in der Kritik der
Urteilskraft näher auseinander gesetzt hat. Alle bedeutenden Philo-
sophen seither haben zugegeben, daß so die Teleologie als ein berech-
tigtes Reflexionsprinzip, als ein heuristisches Hilfsmittel benutzt wer-
den, als eine symbolisierende Ergänzung der empirischen Wissenschaft
zur Seite treten müsse und dürfe. Es ist der Versuch einer Ausdeutung
des Ganzen und seiner Zwecke. Die Vorstellung, daß die Welt eine
einheitliche sei, daß es ein Stufenreich der Natur und der Geschichte,
einen Fortschritt und eine Vervollkommnung, eine Entwickelung gebe,
ist in der Hauptsache nur so zu gewinnen.

Die teleologische Betrachtung ist die wichtigste Art, eine Summe von
Erscheinungen, deren inneren kausalen Zusammenhang wir noch nicht
kennen, als ein Ganzes zu begreifen. Sie ist mit der systematischen in-
sofern verwandt, als auch diese eine Summe von Erscheinungen oder
Wahrheiten einheitlich ordnen und begreifen will; aber der einheitlich
ordnende Gedanke muß hier nicht notwendig ein Zweckgedanke sein
und die systematische Anordnung schließt noch den weiteren Gedanken
ein, alle einzelnen Teile des Ganzen in der Reihenfolge vorzuführen,
wie es der inneren Zusammengehörigkeit entspricht.

Die ethischen Betrachtungen bedürfen der Teleologie deshalb in so
besonderem Maße, weil alle sittlichen Werturteile aus Gefühlen und
Vorstellungen hervorgehen, die sich auf den Gesamtinhalt und Ge-
samtzweck des menschlichen Lebens beziehen.

Die teleologischen Betrachtungen und die ethischen Systeme haben in
sich eine Geschichte, sie haben sich veredelt und geläutert; aber ihre
Sätze, wenigstens ein großer Teil derselben, stellen keine Wahrheit dar,
die bei allen Menschen in gleicher Weise durchdringen müßte. Es sind

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[23/0027] wollten bis in die neuere Zeit vielmehr ein Sollen lehren, Ideale pre- digen, als das Geschehende aus Ursachen zu erklären. Mögen sie daher in steigendem Maße den empirischen Stoff der psychologischen, gesell- schaftlichen und sonstigen Tatsachen in sich aufnehmen; es liegt ihnen doch in erster Linie daran, einen einheitlichen Ausgangspunkt der Ver- pflichtung, eine Erklärung des Sollens zu finden. Das können sie nur durch ein Verfahren, das zwischen Glauben und Wissen die Mitte hält. Sie suchen intuitiv, synthetisch, mit der Phantasie sich ein Bild von der Welt und der Weltregierung, von den in ihr herrschenden Prinzipien und Ideen, von ihrer Entwickelung und vom Zusammen- hange alles Menschenschicksals mit der Welt und ihrem Mittelpunkte, vom Zwecke des Menschenlebens und seiner Zukunft zu machen. Sie benutzen dazu die empirische Kenntnis der Welt; soweit sie nicht reicht, verfahren sie teleologisch, d. h. sie suchen von einem Bilde des Ganzen aus das einzelne, als zweckmäßig diesem Ganzen dienend, zu begreifen, durch reflektierende Urteile so den Stoff unter allgemei- nen Gesichtspunkten zu ordnen, wie Kant uns das in der Kritik der Urteilskraft näher auseinander gesetzt hat. Alle bedeutenden Philo- sophen seither haben zugegeben, daß so die Teleologie als ein berech- tigtes Reflexionsprinzip, als ein heuristisches Hilfsmittel benutzt wer- den, als eine symbolisierende Ergänzung der empirischen Wissenschaft zur Seite treten müsse und dürfe. Es ist der Versuch einer Ausdeutung des Ganzen und seiner Zwecke. Die Vorstellung, daß die Welt eine einheitliche sei, daß es ein Stufenreich der Natur und der Geschichte, einen Fortschritt und eine Vervollkommnung, eine Entwickelung gebe, ist in der Hauptsache nur so zu gewinnen. Die teleologische Betrachtung ist die wichtigste Art, eine Summe von Erscheinungen, deren inneren kausalen Zusammenhang wir noch nicht kennen, als ein Ganzes zu begreifen. Sie ist mit der systematischen in- sofern verwandt, als auch diese eine Summe von Erscheinungen oder Wahrheiten einheitlich ordnen und begreifen will; aber der einheitlich ordnende Gedanke muß hier nicht notwendig ein Zweckgedanke sein und die systematische Anordnung schließt noch den weiteren Gedanken ein, alle einzelnen Teile des Ganzen in der Reihenfolge vorzuführen, wie es der inneren Zusammengehörigkeit entspricht. Die ethischen Betrachtungen bedürfen der Teleologie deshalb in so besonderem Maße, weil alle sittlichen Werturteile aus Gefühlen und Vorstellungen hervorgehen, die sich auf den Gesamtinhalt und Ge- samtzweck des menschlichen Lebens beziehen. Die teleologischen Betrachtungen und die ethischen Systeme haben in sich eine Geschichte, sie haben sich veredelt und geläutert; aber ihre Sätze, wenigstens ein großer Teil derselben, stellen keine Wahrheit dar, die bei allen Menschen in gleicher Weise durchdringen müßte. Es sind

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/27>, abgerufen am 19.04.2024.