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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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auszulesende Deutung, daß das Volk wie ein Einzelsubiekt wirtschafte,
hat auch zu manchen schiefen Behauptungen und Angriffen Anlaß
gegeben. Aber mit Unrecht, sobald man die Worte richtig und nach
dem Kern der hierbei vorherrschenden Vorstellungen versteht.

Ein Volk ist eine durch Sprache und Abstammung, Sitte und Moral,
meist auch durch Recht und Kirche, Geschichte und Staatsverfassung
geeinte Vielheit von Personen, die in sich durch tausend- und millio-
nenfach engere Bande verbunden ist, als mit den Gliedern anderer
Völker. Diese Bande sind durch die modernen Nationalsprachen und
-Literaturen, durch die heutige Schulbildung, Presse und öffentliche
Meinung unendlich vervielfältigt worden. Wie es früher einen star-
ken inneren psychischen Zusammenhalt nur zwischen Familien-, Ge-
meinde- und Stammesgenossen gab, so ist heute ein solcher zwischen
den Gliedern des Volkes entstanden. Eine Summe einheitlicher Gefühle
beseelt das Volk, eine Summe einheitlicher Vorstellungen ist über die
Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten und erzeugt das, was wir
den einheitlichen Volksgeist nennen; er drückt sich in einheitlichen
Sitten, Strebungen und Willensakten aus, beherrscht das Tun und
Treiben aller einzelnen, auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite. Unter
den zahlreichen konzentrischen und exzentrischen Kreisen psychischer
Übereinstimmung, welche im Seelenleben der Gesellschaft einheitliche
Kräfte und Kraftzentren schafft, ist der Kreis, den wir mit dem Worte
Volk bezeichnen, der höchste und kräftigste; es stehen und wirken
neben ihm weitere, der Völkergemeinschaft angehörige und engere, die
er einschließt und beherrscht, die teilweise auch im Gegensatze zu ihm
stehen. Aber er ist zunächst der maßgebende, eine große geistige und
Willenseinheit unter den Volksgenossen schaffende; an diese halb un-
bewußte, halb bewußte, ohne einheitliches Kommando einheitlich wir-
kende Kraft denkt man, wo man vom Volke im höheren Sinne des
Wortes redet. In diesem Sinne ist auch die Volkswirtschaft eine auf
psychischen Kräften und ihrer Konzentration und Übereinstimmung
beruhende Einheit.

Aber nicht bloß dadurch. Die Einzelwirtschaften einer Gemeinde und
eines Kreises waren schon früher durch Tauschverkehr und Arbeits-
teilung verbunden; jetzt sind es ebenso die Einzelwirtschaften eines
ganzen Volkes und Staates: der freie, innere Markt für Waren und
Leistungen, der Freizügigkeit, die nationale Arbeitsteilung, die heutigen
Verkehrsmittel haben die Einzelwirtschaften desselben Staates jetzt in
einer Weise verbunden, wie es früher nur die Nachbarwirtschaften
waren. Reichen analoge Fäden heute schon weit über den Staat hinaus
und erzeugen eine Weltwirtschaft, so sind sie doch viel schwächer, als
die im Inneren vorhandenen; die Volkswirtschaft ist heute noch die
Hauptsache; ob es in späteren Jahrhunderten die Weltwirtschaft sein

auszulesende Deutung, daß das Volk wie ein Einzelsubiekt wirtschafte,
hat auch zu manchen schiefen Behauptungen und Angriffen Anlaß
gegeben. Aber mit Unrecht, sobald man die Worte richtig und nach
dem Kern der hierbei vorherrschenden Vorstellungen versteht.

Ein Volk ist eine durch Sprache und Abstammung, Sitte und Moral,
meist auch durch Recht und Kirche, Geschichte und Staatsverfassung
geeinte Vielheit von Personen, die in sich durch tausend- und millio-
nenfach engere Bande verbunden ist, als mit den Gliedern anderer
Völker. Diese Bande sind durch die modernen Nationalsprachen und
-Literaturen, durch die heutige Schulbildung, Presse und öffentliche
Meinung unendlich vervielfältigt worden. Wie es früher einen star-
ken inneren psychischen Zusammenhalt nur zwischen Familien-, Ge-
meinde- und Stammesgenossen gab, so ist heute ein solcher zwischen
den Gliedern des Volkes entstanden. Eine Summe einheitlicher Gefühle
beseelt das Volk, eine Summe einheitlicher Vorstellungen ist über die
Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten und erzeugt das, was wir
den einheitlichen Volksgeist nennen; er drückt sich in einheitlichen
Sitten, Strebungen und Willensakten aus, beherrscht das Tun und
Treiben aller einzelnen, auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite. Unter
den zahlreichen konzentrischen und exzentrischen Kreisen psychischer
Übereinstimmung, welche im Seelenleben der Gesellschaft einheitliche
Kräfte und Kraftzentren schafft, ist der Kreis, den wir mit dem Worte
Volk bezeichnen, der höchste und kräftigste; es stehen und wirken
neben ihm weitere, der Völkergemeinschaft angehörige und engere, die
er einschließt und beherrscht, die teilweise auch im Gegensatze zu ihm
stehen. Aber er ist zunächst der maßgebende, eine große geistige und
Willenseinheit unter den Volksgenossen schaffende; an diese halb un-
bewußte, halb bewußte, ohne einheitliches Kommando einheitlich wir-
kende Kraft denkt man, wo man vom Volke im höheren Sinne des
Wortes redet. In diesem Sinne ist auch die Volkswirtschaft eine auf
psychischen Kräften und ihrer Konzentration und Übereinstimmung
beruhende Einheit.

Aber nicht bloß dadurch. Die Einzelwirtschaften einer Gemeinde und
eines Kreises waren schon früher durch Tauschverkehr und Arbeits-
teilung verbunden; jetzt sind es ebenso die Einzelwirtschaften eines
ganzen Volkes und Staates: der freie, innere Markt für Waren und
Leistungen, der Freizügigkeit, die nationale Arbeitsteilung, die heutigen
Verkehrsmittel haben die Einzelwirtschaften desselben Staates jetzt in
einer Weise verbunden, wie es früher nur die Nachbarwirtschaften
waren. Reichen analoge Fäden heute schon weit über den Staat hinaus
und erzeugen eine Weltwirtschaft, so sind sie doch viel schwächer, als
die im Inneren vorhandenen; die Volkswirtschaft ist heute noch die
Hauptsache; ob es in späteren Jahrhunderten die Weltwirtschaft sein

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[11/0015] auszulesende Deutung, daß das Volk wie ein Einzelsubiekt wirtschafte, hat auch zu manchen schiefen Behauptungen und Angriffen Anlaß gegeben. Aber mit Unrecht, sobald man die Worte richtig und nach dem Kern der hierbei vorherrschenden Vorstellungen versteht. Ein Volk ist eine durch Sprache und Abstammung, Sitte und Moral, meist auch durch Recht und Kirche, Geschichte und Staatsverfassung geeinte Vielheit von Personen, die in sich durch tausend- und millio- nenfach engere Bande verbunden ist, als mit den Gliedern anderer Völker. Diese Bande sind durch die modernen Nationalsprachen und -Literaturen, durch die heutige Schulbildung, Presse und öffentliche Meinung unendlich vervielfältigt worden. Wie es früher einen star- ken inneren psychischen Zusammenhalt nur zwischen Familien-, Ge- meinde- und Stammesgenossen gab, so ist heute ein solcher zwischen den Gliedern des Volkes entstanden. Eine Summe einheitlicher Gefühle beseelt das Volk, eine Summe einheitlicher Vorstellungen ist über die Schwelle des nationalen Bewußtseins getreten und erzeugt das, was wir den einheitlichen Volksgeist nennen; er drückt sich in einheitlichen Sitten, Strebungen und Willensakten aus, beherrscht das Tun und Treiben aller einzelnen, auch nach ihrer wirtschaftlichen Seite. Unter den zahlreichen konzentrischen und exzentrischen Kreisen psychischer Übereinstimmung, welche im Seelenleben der Gesellschaft einheitliche Kräfte und Kraftzentren schafft, ist der Kreis, den wir mit dem Worte Volk bezeichnen, der höchste und kräftigste; es stehen und wirken neben ihm weitere, der Völkergemeinschaft angehörige und engere, die er einschließt und beherrscht, die teilweise auch im Gegensatze zu ihm stehen. Aber er ist zunächst der maßgebende, eine große geistige und Willenseinheit unter den Volksgenossen schaffende; an diese halb un- bewußte, halb bewußte, ohne einheitliches Kommando einheitlich wir- kende Kraft denkt man, wo man vom Volke im höheren Sinne des Wortes redet. In diesem Sinne ist auch die Volkswirtschaft eine auf psychischen Kräften und ihrer Konzentration und Übereinstimmung beruhende Einheit. Aber nicht bloß dadurch. Die Einzelwirtschaften einer Gemeinde und eines Kreises waren schon früher durch Tauschverkehr und Arbeits- teilung verbunden; jetzt sind es ebenso die Einzelwirtschaften eines ganzen Volkes und Staates: der freie, innere Markt für Waren und Leistungen, der Freizügigkeit, die nationale Arbeitsteilung, die heutigen Verkehrsmittel haben die Einzelwirtschaften desselben Staates jetzt in einer Weise verbunden, wie es früher nur die Nachbarwirtschaften waren. Reichen analoge Fäden heute schon weit über den Staat hinaus und erzeugen eine Weltwirtschaft, so sind sie doch viel schwächer, als die im Inneren vorhandenen; die Volkswirtschaft ist heute noch die Hauptsache; ob es in späteren Jahrhunderten die Weltwirtschaft sein

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/15>, abgerufen am 16.04.2024.