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Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893.

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Mag die neue Fassung seiner Methodenlehre Zeugnis für die tief-
gründige Arbeit ablegen, die der alte Schmoller auf diesen Stoff ver-
wandt hat, so wird man doch der alten Fassung in mancher Hinsicht
den Vorzug geben. Sie ist, da sie auf ins einzelne gehende literarische
Exkurse verzichtet und sich mehr auf das Grundsätzliche beschränkt,
abgerundeter und wirkt daher auch überzeugender.

Da wir den Text selber bringen, können wir verzichten, auf den Inhalt
näher einzugehen. Schmoller lehnt den Begriff einer von der Sozial-
wirtschaft losgelösten Volkswirtschaft ab. Er sieht in ihr ein einheit-
liches reales Ganzes, das trotz der Selbständigkeit der in ihr zusammen-
geschlossenen Einzel- und Korporationswirtschaften von einheitlichen
psychischen und materiellen Ursachen beherrscht wird, weil seine sämt-
lichen Teile in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Or-
gane nachweisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben. Dementsprechend
ist auch der Aufgabenkreis, den die Volkswirtschaftslehre zu erfüllen
hat, weit gefaßt. Sie soll die volkswirtschaftlichen Erscheinungen der
Kulturwelt in den Zusammenhang der natürlichen, biologischen und
technischen Entwicklung einerseits, der psychologischen, moralisch-
politischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklung anderseits
hineinstellen und so das Werden der Volkswirtschaft erklären. Das
wirtschaftliche Handeln aber und die wirtschaftlichen Institutionen
sollen nicht mehr allein aus Wertvorgängen oder aus irgend einem
Triebe, sondern aus den psychologischen Kräften überhaupt abgeleitet
und im Rahmen von Moral, Sitte und Recht begriffen werden.

Eine Riesenaufgabe, die somit der Nationalökonomie gestellt wird! Sie
kann nach Schmollers Meinung nur bewältigt werden auf der Grund-
lage mühevoller historisch-realistischer Einzeluntersuchungen. Sie erst
können den rechten Boden dafür geben, die Geschichte volkswirtschaft-
lich und sozialpolitisch zu begreifen und die nationalökonomische Theo-
rie empirisch zu unterbauen. Was so erstrebt wird und was Schmoller
Wirklichkeit werden sieht, ist eine völlige Erneuerung der national-
ökonomischen Wissenschaft. "In der Zukunft", so rief er schon 1883
Carl Menger zu, "wird für die Nationalökonomie eine neue Epoche
kommen, aber nur durch die Vermehrung historisch-deskriptiven Ma-
terials, das jetzt geschaffen wird, nicht durch weitere Destillation der
hundertmal destillierten abstrakten Sätze des alten Dogmatismus."

Wiederholt lehnt Schmoller die Aufforderung ab, eine allgemeine
Volkswirtschaftslehre zu schreiben. Dazu sei es noch nicht an der Zeit,
dazu bedürfe es einer noch Jahrzehnte dauernden intensiven Ge-
lehrtenarbeit. Ohne das letzte große Ziel aus dem Auge zu lassen, ent-
stehen Einzeluntersuchungen zur Gewinnung eines gesicherten Erfah-
rungswissens. Teils schreibt er sie selbst, teils regt er sie an. In seinem
Jahrbuch erscheint kein Jahrgang ohne einen Beitrag aus seiner Feder.

Mag die neue Fassung seiner Methodenlehre Zeugnis für die tief-
gründige Arbeit ablegen, die der alte Schmoller auf diesen Stoff ver-
wandt hat, so wird man doch der alten Fassung in mancher Hinsicht
den Vorzug geben. Sie ist, da sie auf ins einzelne gehende literarische
Exkurse verzichtet und sich mehr auf das Grundsätzliche beschränkt,
abgerundeter und wirkt daher auch überzeugender.

Da wir den Text selber bringen, können wir verzichten, auf den Inhalt
näher einzugehen. Schmoller lehnt den Begriff einer von der Sozial-
wirtschaft losgelösten Volkswirtschaft ab. Er sieht in ihr ein einheit-
liches reales Ganzes, das trotz der Selbständigkeit der in ihr zusammen-
geschlossenen Einzel- und Korporationswirtschaften von einheitlichen
psychischen und materiellen Ursachen beherrscht wird, weil seine sämt-
lichen Teile in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Or-
gane nachweisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben. Dementsprechend
ist auch der Aufgabenkreis, den die Volkswirtschaftslehre zu erfüllen
hat, weit gefaßt. Sie soll die volkswirtschaftlichen Erscheinungen der
Kulturwelt in den Zusammenhang der natürlichen, biologischen und
technischen Entwicklung einerseits, der psychologischen, moralisch-
politischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklung anderseits
hineinstellen und so das Werden der Volkswirtschaft erklären. Das
wirtschaftliche Handeln aber und die wirtschaftlichen Institutionen
sollen nicht mehr allein aus Wertvorgängen oder aus irgend einem
Triebe, sondern aus den psychologischen Kräften überhaupt abgeleitet
und im Rahmen von Moral, Sitte und Recht begriffen werden.

Eine Riesenaufgabe, die somit der Nationalökonomie gestellt wird! Sie
kann nach Schmollers Meinung nur bewältigt werden auf der Grund-
lage mühevoller historisch-realistischer Einzeluntersuchungen. Sie erst
können den rechten Boden dafür geben, die Geschichte volkswirtschaft-
lich und sozialpolitisch zu begreifen und die nationalökonomische Theo-
rie empirisch zu unterbauen. Was so erstrebt wird und was Schmoller
Wirklichkeit werden sieht, ist eine völlige Erneuerung der national-
ökonomischen Wissenschaft. „In der Zukunft“, so rief er schon 1883
Carl Menger zu, „wird für die Nationalökonomie eine neue Epoche
kommen, aber nur durch die Vermehrung historisch-deskriptiven Ma-
terials, das jetzt geschaffen wird, nicht durch weitere Destillation der
hundertmal destillierten abstrakten Sätze des alten Dogmatismus.“

Wiederholt lehnt Schmoller die Aufforderung ab, eine allgemeine
Volkswirtschaftslehre zu schreiben. Dazu sei es noch nicht an der Zeit,
dazu bedürfe es einer noch Jahrzehnte dauernden intensiven Ge-
lehrtenarbeit. Ohne das letzte große Ziel aus dem Auge zu lassen, ent-
stehen Einzeluntersuchungen zur Gewinnung eines gesicherten Erfah-
rungswissens. Teils schreibt er sie selbst, teils regt er sie an. In seinem
Jahrbuch erscheint kein Jahrgang ohne einen Beitrag aus seiner Feder.

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[6/0010] Mag die neue Fassung seiner Methodenlehre Zeugnis für die tief- gründige Arbeit ablegen, die der alte Schmoller auf diesen Stoff ver- wandt hat, so wird man doch der alten Fassung in mancher Hinsicht den Vorzug geben. Sie ist, da sie auf ins einzelne gehende literarische Exkurse verzichtet und sich mehr auf das Grundsätzliche beschränkt, abgerundeter und wirkt daher auch überzeugender. Da wir den Text selber bringen, können wir verzichten, auf den Inhalt näher einzugehen. Schmoller lehnt den Begriff einer von der Sozial- wirtschaft losgelösten Volkswirtschaft ab. Er sieht in ihr ein einheit- liches reales Ganzes, das trotz der Selbständigkeit der in ihr zusammen- geschlossenen Einzel- und Korporationswirtschaften von einheitlichen psychischen und materiellen Ursachen beherrscht wird, weil seine sämt- lichen Teile in engster Wechselwirkung stehen und seine zentralen Or- gane nachweisbare Wirkungen auf alle Teile ausüben. Dementsprechend ist auch der Aufgabenkreis, den die Volkswirtschaftslehre zu erfüllen hat, weit gefaßt. Sie soll die volkswirtschaftlichen Erscheinungen der Kulturwelt in den Zusammenhang der natürlichen, biologischen und technischen Entwicklung einerseits, der psychologischen, moralisch- politischen und gesellschaftlich-historischen Entwicklung anderseits hineinstellen und so das Werden der Volkswirtschaft erklären. Das wirtschaftliche Handeln aber und die wirtschaftlichen Institutionen sollen nicht mehr allein aus Wertvorgängen oder aus irgend einem Triebe, sondern aus den psychologischen Kräften überhaupt abgeleitet und im Rahmen von Moral, Sitte und Recht begriffen werden. Eine Riesenaufgabe, die somit der Nationalökonomie gestellt wird! Sie kann nach Schmollers Meinung nur bewältigt werden auf der Grund- lage mühevoller historisch-realistischer Einzeluntersuchungen. Sie erst können den rechten Boden dafür geben, die Geschichte volkswirtschaft- lich und sozialpolitisch zu begreifen und die nationalökonomische Theo- rie empirisch zu unterbauen. Was so erstrebt wird und was Schmoller Wirklichkeit werden sieht, ist eine völlige Erneuerung der national- ökonomischen Wissenschaft. „In der Zukunft“, so rief er schon 1883 Carl Menger zu, „wird für die Nationalökonomie eine neue Epoche kommen, aber nur durch die Vermehrung historisch-deskriptiven Ma- terials, das jetzt geschaffen wird, nicht durch weitere Destillation der hundertmal destillierten abstrakten Sätze des alten Dogmatismus.“ Wiederholt lehnt Schmoller die Aufforderung ab, eine allgemeine Volkswirtschaftslehre zu schreiben. Dazu sei es noch nicht an der Zeit, dazu bedürfe es einer noch Jahrzehnte dauernden intensiven Ge- lehrtenarbeit. Ohne das letzte große Ziel aus dem Auge zu lassen, ent- stehen Einzeluntersuchungen zur Gewinnung eines gesicherten Erfah- rungswissens. Teils schreibt er sie selbst, teils regt er sie an. In seinem Jahrbuch erscheint kein Jahrgang ohne einen Beitrag aus seiner Feder.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Die Volkswirtschaft, die Volkswirtschaftslehre und ihre Methode. Frankfurt (Main), 1893, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_volkswirtschaftslehre_1893/10>, abgerufen am 29.03.2024.