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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Jede starke, irgendwo sich sammelnde Macht kommt in Konflikt mit den überlieferten
Ordnungen, will sie zu ihren Gunsten ändern. Das geht nicht ohne Streit, und
insofern ist dieser der Ausdruck des Lebens, der Neubildung, des Fortschrittes. Es ist
das Recht des Kräftigeren und Besseren zu siegen; aber jeder solche Sieg soll nicht
bloß das Individuum, sondern zugleich die Gesamtheit fördern. Ist es für diese besser,
daß über dem Sieg einzelne zu Grunde gehen, so muß das in den Kauf genommen
werden. Wie in den großen Kämpfen der Geschichte ganze Völker und ganze Klassen,
so müssen zu schwache, zurückgebliebene Familien und Personen im wirtschaftlichen und
socialen Kampfe des Lebens untergehen. Verkommene Aristokratien, verkümmerte Mittel-
stände, tief gesunkene Schichten des Proletariats sind zeitweise so wenig zu retten, als
an gewissen Stellen körperlich und geistig schwache Individuen. Die Ausstoßung des
Unvollkommenen ist der Preis des Fortschrittes in der Entwickelung. Aber ob im ein-
zelnen Fall das schwächere Volk, die bedrohte Klasse, die notleidenden Individuen nicht
mehr zu retten seien, ob sie nicht neben Fehlern und Schwächen noch entwickelungs-
fähige Kräfte haben, ob sie nicht durch Erziehung, Unterstützung, Übergangsmaßregeln
zu retten seien, ob nicht der jeweilige Druck gerade neue Eigenschaften zu Tage fördere
und sie so wieder emporhebe, das ist eine offene Frage, über die stets nur das Leben
entscheiden kann. Jeder solche Kampf ist ein unendlich komplizierter, von vielen ver-
schiedenen Eigenschaften, Konjunkturen und Zufällen abhängiger. Die Regierungen,
Parteien und Klassen, die führenden Geister werden je nach ihrer Kenntnis der persön-
lichen Kräfte und der Gesamtverhältnisse, je nach ihrer Auffassung des Gesamtwohles
und der wünschenswerten Entwickelung bald für Milderung und Einschränkung des
Kampfes, für Unterstützung der Schwachen, bald für ihre Preisgebung und Gestattung
des Kampfes sein. Nur darf das Losungswort "freie Bahn für den Starken" nicht
stets als selbstverständlich gelten: es kommt unter Umständen nicht sowohl der guten
und entwickelungsfähigen, sondern auch der rohen und der gemeinen Kraft zu gute.
Der deutsche Bauernstand ist durch eine glückliche Politik vom 17.--19. Jahrhundert
gerettet worden, der englische ist zu Grunde gegangen; wollen wir etwa darum England
preisen?

So unzweifelhaft es immer Kämpfe wird geben müssen, so sicher ist es oft die
Aufgabe der Politik, sie zu mildern und das Entwickelungsfähige zu retten. Die
Hoffnung der Socialdemokratie, daß es je eine Zeit ohne Konkurrenz, ohne Kampf,
ohne Kriege geben werde, ist so einseitig und so falsch, als die Freude des cynischen
Aristokraten und Millionärs, der das Elend der Massen nur als die notwendige Folge
ihrer Schwäche und Fehler, seinen Besitz als die Folge seiner Eigenschaften ansieht. Wir
werden die Hoffnung nicht aufgeben, daß im Laufe der Geschichte auf die Dauer die
Stärke siegt, die zugleich die sittlich größere Kraft, die entwickelungsfähigsten Keime
in sich birgt. Aber davon giebt es im einzelnen viele Ausnahmen, besonders überall
da, wo Ehrlichkeit mit Unehrlichkeit, die Kraft der Vergangenheit mit der der Zukunft
ringt. Und daher ist der Schutz hiegegen häufig eine sittliche Pflicht der Gesellschaft;
sonst müßten wir auch die Diebe, Räuber und Mörder walten lassen.

Die Gefahr, daß wir durch Sitte, Moral und Recht, durch den Schutz der Schwachen
eine einschläfernde Streitlosigkeit erzeugen, ist zumal in unserer Zeit sehr gering. Die
heutige wirtschaftliche Konkurrenz ist gegen früher so enorm gewachsen, daß die weit-
gehendsten socialen Reformen und Schutzmaßregeln den schwächeren Elementen der Ge-
sellschaft den Schutz und die Hülfe nicht geben, die sie früher hatten. Auch in der
humanisiertesten Gesellschaft wird mit immer dichterer Bevölkerung der Kampf um Ehre,
Besitz, Einkommen, Macht nicht aufhören, so wenig als der Kampf zwischen den socialen
Gruppen und den Staaten aufhören wird, der in gewissem Sinne eben deshalb
berechtigter ist, als er stets die einzelnen, die Glieder einer Klasse, die Bürger eines
Staates zusammenfaßt, sie nötigt, ihre kleinlichen egoistischen Leidenschaften zurückzudrängen
und für Gesamtinteressen materieller und idealer Art einzutreten. Damit wird der Streit
zurückgedrängt, der Patriotismus belebt, die sittlichen Kräfte geschult und gefördert.
Große Kriege -- solche mit günstigen und solche mit ungünstigen Erfolgen -- wurden

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
Jede ſtarke, irgendwo ſich ſammelnde Macht kommt in Konflikt mit den überlieferten
Ordnungen, will ſie zu ihren Gunſten ändern. Das geht nicht ohne Streit, und
inſofern iſt dieſer der Ausdruck des Lebens, der Neubildung, des Fortſchrittes. Es iſt
das Recht des Kräftigeren und Beſſeren zu ſiegen; aber jeder ſolche Sieg ſoll nicht
bloß das Individuum, ſondern zugleich die Geſamtheit fördern. Iſt es für dieſe beſſer,
daß über dem Sieg einzelne zu Grunde gehen, ſo muß das in den Kauf genommen
werden. Wie in den großen Kämpfen der Geſchichte ganze Völker und ganze Klaſſen,
ſo müſſen zu ſchwache, zurückgebliebene Familien und Perſonen im wirtſchaftlichen und
ſocialen Kampfe des Lebens untergehen. Verkommene Ariſtokratien, verkümmerte Mittel-
ſtände, tief geſunkene Schichten des Proletariats ſind zeitweiſe ſo wenig zu retten, als
an gewiſſen Stellen körperlich und geiſtig ſchwache Individuen. Die Ausſtoßung des
Unvollkommenen iſt der Preis des Fortſchrittes in der Entwickelung. Aber ob im ein-
zelnen Fall das ſchwächere Volk, die bedrohte Klaſſe, die notleidenden Individuen nicht
mehr zu retten ſeien, ob ſie nicht neben Fehlern und Schwächen noch entwickelungs-
fähige Kräfte haben, ob ſie nicht durch Erziehung, Unterſtützung, Übergangsmaßregeln
zu retten ſeien, ob nicht der jeweilige Druck gerade neue Eigenſchaften zu Tage fördere
und ſie ſo wieder emporhebe, das iſt eine offene Frage, über die ſtets nur das Leben
entſcheiden kann. Jeder ſolche Kampf iſt ein unendlich komplizierter, von vielen ver-
ſchiedenen Eigenſchaften, Konjunkturen und Zufällen abhängiger. Die Regierungen,
Parteien und Klaſſen, die führenden Geiſter werden je nach ihrer Kenntnis der perſön-
lichen Kräfte und der Geſamtverhältniſſe, je nach ihrer Auffaſſung des Geſamtwohles
und der wünſchenswerten Entwickelung bald für Milderung und Einſchränkung des
Kampfes, für Unterſtützung der Schwachen, bald für ihre Preisgebung und Geſtattung
des Kampfes ſein. Nur darf das Loſungswort „freie Bahn für den Starken“ nicht
ſtets als ſelbſtverſtändlich gelten: es kommt unter Umſtänden nicht ſowohl der guten
und entwickelungsfähigen, ſondern auch der rohen und der gemeinen Kraft zu gute.
Der deutſche Bauernſtand iſt durch eine glückliche Politik vom 17.—19. Jahrhundert
gerettet worden, der engliſche iſt zu Grunde gegangen; wollen wir etwa darum England
preiſen?

So unzweifelhaft es immer Kämpfe wird geben müſſen, ſo ſicher iſt es oft die
Aufgabe der Politik, ſie zu mildern und das Entwickelungsfähige zu retten. Die
Hoffnung der Socialdemokratie, daß es je eine Zeit ohne Konkurrenz, ohne Kampf,
ohne Kriege geben werde, iſt ſo einſeitig und ſo falſch, als die Freude des cyniſchen
Ariſtokraten und Millionärs, der das Elend der Maſſen nur als die notwendige Folge
ihrer Schwäche und Fehler, ſeinen Beſitz als die Folge ſeiner Eigenſchaften anſieht. Wir
werden die Hoffnung nicht aufgeben, daß im Laufe der Geſchichte auf die Dauer die
Stärke ſiegt, die zugleich die ſittlich größere Kraft, die entwickelungsfähigſten Keime
in ſich birgt. Aber davon giebt es im einzelnen viele Ausnahmen, beſonders überall
da, wo Ehrlichkeit mit Unehrlichkeit, die Kraft der Vergangenheit mit der der Zukunft
ringt. Und daher iſt der Schutz hiegegen häufig eine ſittliche Pflicht der Geſellſchaft;
ſonſt müßten wir auch die Diebe, Räuber und Mörder walten laſſen.

Die Gefahr, daß wir durch Sitte, Moral und Recht, durch den Schutz der Schwachen
eine einſchläfernde Streitloſigkeit erzeugen, iſt zumal in unſerer Zeit ſehr gering. Die
heutige wirtſchaftliche Konkurrenz iſt gegen früher ſo enorm gewachſen, daß die weit-
gehendſten ſocialen Reformen und Schutzmaßregeln den ſchwächeren Elementen der Ge-
ſellſchaft den Schutz und die Hülfe nicht geben, die ſie früher hatten. Auch in der
humaniſierteſten Geſellſchaft wird mit immer dichterer Bevölkerung der Kampf um Ehre,
Beſitz, Einkommen, Macht nicht aufhören, ſo wenig als der Kampf zwiſchen den ſocialen
Gruppen und den Staaten aufhören wird, der in gewiſſem Sinne eben deshalb
berechtigter iſt, als er ſtets die einzelnen, die Glieder einer Klaſſe, die Bürger eines
Staates zuſammenfaßt, ſie nötigt, ihre kleinlichen egoiſtiſchen Leidenſchaften zurückzudrängen
und für Geſamtintereſſen materieller und idealer Art einzutreten. Damit wird der Streit
zurückgedrängt, der Patriotismus belebt, die ſittlichen Kräfte geſchult und gefördert.
Große Kriege — ſolche mit günſtigen und ſolche mit ungünſtigen Erfolgen — wurden

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[68/0084] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. Jede ſtarke, irgendwo ſich ſammelnde Macht kommt in Konflikt mit den überlieferten Ordnungen, will ſie zu ihren Gunſten ändern. Das geht nicht ohne Streit, und inſofern iſt dieſer der Ausdruck des Lebens, der Neubildung, des Fortſchrittes. Es iſt das Recht des Kräftigeren und Beſſeren zu ſiegen; aber jeder ſolche Sieg ſoll nicht bloß das Individuum, ſondern zugleich die Geſamtheit fördern. Iſt es für dieſe beſſer, daß über dem Sieg einzelne zu Grunde gehen, ſo muß das in den Kauf genommen werden. Wie in den großen Kämpfen der Geſchichte ganze Völker und ganze Klaſſen, ſo müſſen zu ſchwache, zurückgebliebene Familien und Perſonen im wirtſchaftlichen und ſocialen Kampfe des Lebens untergehen. Verkommene Ariſtokratien, verkümmerte Mittel- ſtände, tief geſunkene Schichten des Proletariats ſind zeitweiſe ſo wenig zu retten, als an gewiſſen Stellen körperlich und geiſtig ſchwache Individuen. Die Ausſtoßung des Unvollkommenen iſt der Preis des Fortſchrittes in der Entwickelung. Aber ob im ein- zelnen Fall das ſchwächere Volk, die bedrohte Klaſſe, die notleidenden Individuen nicht mehr zu retten ſeien, ob ſie nicht neben Fehlern und Schwächen noch entwickelungs- fähige Kräfte haben, ob ſie nicht durch Erziehung, Unterſtützung, Übergangsmaßregeln zu retten ſeien, ob nicht der jeweilige Druck gerade neue Eigenſchaften zu Tage fördere und ſie ſo wieder emporhebe, das iſt eine offene Frage, über die ſtets nur das Leben entſcheiden kann. Jeder ſolche Kampf iſt ein unendlich komplizierter, von vielen ver- ſchiedenen Eigenſchaften, Konjunkturen und Zufällen abhängiger. Die Regierungen, Parteien und Klaſſen, die führenden Geiſter werden je nach ihrer Kenntnis der perſön- lichen Kräfte und der Geſamtverhältniſſe, je nach ihrer Auffaſſung des Geſamtwohles und der wünſchenswerten Entwickelung bald für Milderung und Einſchränkung des Kampfes, für Unterſtützung der Schwachen, bald für ihre Preisgebung und Geſtattung des Kampfes ſein. Nur darf das Loſungswort „freie Bahn für den Starken“ nicht ſtets als ſelbſtverſtändlich gelten: es kommt unter Umſtänden nicht ſowohl der guten und entwickelungsfähigen, ſondern auch der rohen und der gemeinen Kraft zu gute. Der deutſche Bauernſtand iſt durch eine glückliche Politik vom 17.—19. Jahrhundert gerettet worden, der engliſche iſt zu Grunde gegangen; wollen wir etwa darum England preiſen? So unzweifelhaft es immer Kämpfe wird geben müſſen, ſo ſicher iſt es oft die Aufgabe der Politik, ſie zu mildern und das Entwickelungsfähige zu retten. Die Hoffnung der Socialdemokratie, daß es je eine Zeit ohne Konkurrenz, ohne Kampf, ohne Kriege geben werde, iſt ſo einſeitig und ſo falſch, als die Freude des cyniſchen Ariſtokraten und Millionärs, der das Elend der Maſſen nur als die notwendige Folge ihrer Schwäche und Fehler, ſeinen Beſitz als die Folge ſeiner Eigenſchaften anſieht. Wir werden die Hoffnung nicht aufgeben, daß im Laufe der Geſchichte auf die Dauer die Stärke ſiegt, die zugleich die ſittlich größere Kraft, die entwickelungsfähigſten Keime in ſich birgt. Aber davon giebt es im einzelnen viele Ausnahmen, beſonders überall da, wo Ehrlichkeit mit Unehrlichkeit, die Kraft der Vergangenheit mit der der Zukunft ringt. Und daher iſt der Schutz hiegegen häufig eine ſittliche Pflicht der Geſellſchaft; ſonſt müßten wir auch die Diebe, Räuber und Mörder walten laſſen. Die Gefahr, daß wir durch Sitte, Moral und Recht, durch den Schutz der Schwachen eine einſchläfernde Streitloſigkeit erzeugen, iſt zumal in unſerer Zeit ſehr gering. Die heutige wirtſchaftliche Konkurrenz iſt gegen früher ſo enorm gewachſen, daß die weit- gehendſten ſocialen Reformen und Schutzmaßregeln den ſchwächeren Elementen der Ge- ſellſchaft den Schutz und die Hülfe nicht geben, die ſie früher hatten. Auch in der humaniſierteſten Geſellſchaft wird mit immer dichterer Bevölkerung der Kampf um Ehre, Beſitz, Einkommen, Macht nicht aufhören, ſo wenig als der Kampf zwiſchen den ſocialen Gruppen und den Staaten aufhören wird, der in gewiſſem Sinne eben deshalb berechtigter iſt, als er ſtets die einzelnen, die Glieder einer Klaſſe, die Bürger eines Staates zuſammenfaßt, ſie nötigt, ihre kleinlichen egoiſtiſchen Leidenſchaften zurückzudrängen und für Geſamtintereſſen materieller und idealer Art einzutreten. Damit wird der Streit zurückgedrängt, der Patriotismus belebt, die ſittlichen Kräfte geſchult und gefördert. Große Kriege — ſolche mit günſtigen und ſolche mit ungünſtigen Erfolgen — wurden

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/84>, abgerufen am 22.11.2024.