Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Der Kampf ums Dasein in Gesellschaft und Volkswirtschaft. der Arten aus einer geringeren Zahl von Wesen: das Princip der Zuchtwahl. Daßmit dieser großen Perspektive Darwins ein Fortschritt epochemachender Art erzielt sei, darüber ist heute kein Streit, wohl aber darüber, ob diese Vorgänge allein die Ent- stehung der Arten erklären oder nur in Verbindung mit anderen Thatsachen. Und noch mehr darüber, ob die Schlüsse generalisierender heißblütiger Schüler Darwins richtig seien, die nun ohne weiteres die gesellschaftlichen und volkswirtschaftlichen Erscheinungen einseitig und allein aus diesen Principien erklären wollen und sich gar zu dem Ge- danken versteigen, es gebe keinen anderen Fortschritt als den durch Kampf bedingten, und jede Hinderung und Abschwächung irgend eines Kampfes der Individuen und der Völker sei verfehlt, weil sie die Unfähigen erhalte und den Fähigen erschwere, den Erfolg für sich einzuheimsen, den Unfähigen zu knechten oder zu vernichten. Es wird so für die Volkswirtschaft und für die Gesellschaft, für das Verhalten der Individuen, der Klassen und der Völker das nackte Princip proklamiert, der Stärkere habe das Recht, den Schwächeren niederzuwerfen. Die mit diesen Fragen sich eröffnenden Zweifel und Kontroversen sind außer- Wir können, indem wir diese ethische Wahrheit versuchen historisch zu formulieren, Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 5
Der Kampf ums Daſein in Geſellſchaft und Volkswirtſchaft. der Arten aus einer geringeren Zahl von Weſen: das Princip der Zuchtwahl. Daßmit dieſer großen Perſpektive Darwins ein Fortſchritt epochemachender Art erzielt ſei, darüber iſt heute kein Streit, wohl aber darüber, ob dieſe Vorgänge allein die Ent- ſtehung der Arten erklären oder nur in Verbindung mit anderen Thatſachen. Und noch mehr darüber, ob die Schlüſſe generaliſierender heißblütiger Schüler Darwins richtig ſeien, die nun ohne weiteres die geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen einſeitig und allein aus dieſen Principien erklären wollen und ſich gar zu dem Ge- danken verſteigen, es gebe keinen anderen Fortſchritt als den durch Kampf bedingten, und jede Hinderung und Abſchwächung irgend eines Kampfes der Individuen und der Völker ſei verfehlt, weil ſie die Unfähigen erhalte und den Fähigen erſchwere, den Erfolg für ſich einzuheimſen, den Unfähigen zu knechten oder zu vernichten. Es wird ſo für die Volkswirtſchaft und für die Geſellſchaft, für das Verhalten der Individuen, der Klaſſen und der Völker das nackte Princip proklamiert, der Stärkere habe das Recht, den Schwächeren niederzuwerfen. Die mit dieſen Fragen ſich eröffnenden Zweifel und Kontroverſen ſind außer- Wir können, indem wir dieſe ethiſche Wahrheit verſuchen hiſtoriſch zu formulieren, Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 5
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Es iſt<lb/> der Gedanke, daß jede ſociale Gruppenbildung ſchon eine Negation gewiſſer, vor allem<lb/> der brutalen, der für unſittlich gehaltenen Reibungen und Kämpfe aller zu einer Gruppe<lb/> Gehörigen in ſich ſchließe, daß ſympathiſche Gefühle, Sitte, Moral und Recht gewiſſe<lb/> Kämpfe innerhalb der ſocialen Gruppen ſtets verhindert haben oder zu verhindern ſuchten.</p><lb/> <p>Wir können, indem wir dieſe ethiſche Wahrheit verſuchen hiſtoriſch zu formulieren,<lb/> ſagen: die Organiſation der Stämme, Völker und Staaten beruhte in älterer Zeit ganz<lb/> überwiegend nach innen auf ſympathiſchen, nach außen auf antipathiſchen Gefühlen,<lb/> nach innen auf Frieden, gegenſeitiger Hülfe und Gemeinſchaft, nach außen auf Gegenſatz,<lb/> Spannung und jedenfalls zeitweiligem, bis zur Vernichtung gehendem Kampfe. Aber es<lb/> fehlte daneben doch auch nicht der Gegenſatz im Inneren der Stämme, die friedliche<lb/> Beziehung nach außen. Nur überwog, je roher die Kultur war, das Umgekehrte. Je<lb/> höher ſie ſtieg, je größer die Gruppen, Stämme und Völker wurden, deſto mehr milderte<lb/> ſich auch der gemeinſame Kampf nach außen, deſto häufiger trat auch in den Beziehungen<lb/> der Völker untereinander an die Stelle der Kämpfe und der Vernichtung die friedliche<lb/> Arbeitsteilung, die Anpaſſung, die gegenſeitige Förderung. Im Inneren aber der<lb/> gefeſtigten größeren Gemeinſchaften mußte den kleineren Gruppen und Individuen<lb/> nun ein etwas größerer Spielraum der freien Selbſtbethätigung und damit weiteren<lb/> Streites eingeräumt werden; es entſtand hier ein gewiſſer Kampf der Gemeinden, der<lb/> Familien, der Unternehmungen, der Individuen, der aber ſtets in den Grenzen ſich<lb/> bewegte, welche durch die überlieferten ſympathiſchen Gefühle, durch die gemeinſamen<lb/> Intereſſen, durch Religion, Sitte, Recht und Moral gezogen wurden. So handelt es<lb/> ſich um eine fortſchreitende hiſtoriſche Verſchiebung der Gruppierung und der Kampf-<lb/> und Friedensbeziehungen der einzelnen und der Gruppen untereinander, um eine wechſelnde<lb/> Normierung und Zulaſſung der Kampfpunkte, der Kampfarten und der Kampfmittel.<lb/> Niemals hat der Kampf ſchlechtweg geherrſcht; er hätte zum Kriege aller gegen alle,<lb/> zur auflöſenden Anarchie geführt, er hätte niemals größere ſociale Gemeinſchaften ent-<lb/> ſtehen laſſen; er hätte durch die Reibung der Elemente untereinander jede große menſch-<lb/> liche Kraftzuſammenfaſſung und damit die großen Siege über die Natur, die Siege der<lb/> höheren Raſſe über die niedrigere, der beſſer über die ſchlechter organiſierten Gemein-<lb/> weſen verhindert. Niemals hat aber auch der Friede allein geherrſcht; ohne Kampf<lb/> zwiſchen den Stämmen und Staaten wäre keine hiſtoriſche Entwickelung entſtanden, ohne<lb/> Reibung im Inneren der Staaten und Volkswirtſchaften wäre kein Wettſtreit, kein Eifer,<lb/> keine große Anſtrengung möglich geweſen.</p><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 5</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [65/0081]
Der Kampf ums Daſein in Geſellſchaft und Volkswirtſchaft.
der Arten aus einer geringeren Zahl von Weſen: das Princip der Zuchtwahl. Daß
mit dieſer großen Perſpektive Darwins ein Fortſchritt epochemachender Art erzielt ſei,
darüber iſt heute kein Streit, wohl aber darüber, ob dieſe Vorgänge allein die Ent-
ſtehung der Arten erklären oder nur in Verbindung mit anderen Thatſachen. Und noch
mehr darüber, ob die Schlüſſe generaliſierender heißblütiger Schüler Darwins richtig
ſeien, die nun ohne weiteres die geſellſchaftlichen und volkswirtſchaftlichen Erſcheinungen
einſeitig und allein aus dieſen Principien erklären wollen und ſich gar zu dem Ge-
danken verſteigen, es gebe keinen anderen Fortſchritt als den durch Kampf bedingten,
und jede Hinderung und Abſchwächung irgend eines Kampfes der Individuen und der
Völker ſei verfehlt, weil ſie die Unfähigen erhalte und den Fähigen erſchwere, den Erfolg
für ſich einzuheimſen, den Unfähigen zu knechten oder zu vernichten. Es wird ſo für
die Volkswirtſchaft und für die Geſellſchaft, für das Verhalten der Individuen, der
Klaſſen und der Völker das nackte Princip proklamiert, der Stärkere habe das Recht,
den Schwächeren niederzuwerfen.
Die mit dieſen Fragen ſich eröffnenden Zweifel und Kontroverſen ſind außer-
ordentlich zahlreich und kompliziert; ſie hängen mit den Vererbungsfragen zuſammen,
liegen teilweiſe auf mediziniſchem und phyſiologiſchem Gebiete; ſie ſind zu einem guten
Teile noch nicht ganz geklärt. Aber ein Gedankengang iſt einfach; er entſpringt den
Betrachtungen, die uns hier beſchäftigen, und beſeitigt die ſtärkſte Unklarheit, die in den
Übertreibungen der Darwinianer, in der ſummariſchen Zuſammenfaſſung heterogener
Verhältniſſe und Urſachen unter dem Schlagwort „Kampf ums Daſein“ liegt. Es iſt
der Gedanke, daß jede ſociale Gruppenbildung ſchon eine Negation gewiſſer, vor allem
der brutalen, der für unſittlich gehaltenen Reibungen und Kämpfe aller zu einer Gruppe
Gehörigen in ſich ſchließe, daß ſympathiſche Gefühle, Sitte, Moral und Recht gewiſſe
Kämpfe innerhalb der ſocialen Gruppen ſtets verhindert haben oder zu verhindern ſuchten.
Wir können, indem wir dieſe ethiſche Wahrheit verſuchen hiſtoriſch zu formulieren,
ſagen: die Organiſation der Stämme, Völker und Staaten beruhte in älterer Zeit ganz
überwiegend nach innen auf ſympathiſchen, nach außen auf antipathiſchen Gefühlen,
nach innen auf Frieden, gegenſeitiger Hülfe und Gemeinſchaft, nach außen auf Gegenſatz,
Spannung und jedenfalls zeitweiligem, bis zur Vernichtung gehendem Kampfe. Aber es
fehlte daneben doch auch nicht der Gegenſatz im Inneren der Stämme, die friedliche
Beziehung nach außen. Nur überwog, je roher die Kultur war, das Umgekehrte. Je
höher ſie ſtieg, je größer die Gruppen, Stämme und Völker wurden, deſto mehr milderte
ſich auch der gemeinſame Kampf nach außen, deſto häufiger trat auch in den Beziehungen
der Völker untereinander an die Stelle der Kämpfe und der Vernichtung die friedliche
Arbeitsteilung, die Anpaſſung, die gegenſeitige Förderung. Im Inneren aber der
gefeſtigten größeren Gemeinſchaften mußte den kleineren Gruppen und Individuen
nun ein etwas größerer Spielraum der freien Selbſtbethätigung und damit weiteren
Streites eingeräumt werden; es entſtand hier ein gewiſſer Kampf der Gemeinden, der
Familien, der Unternehmungen, der Individuen, der aber ſtets in den Grenzen ſich
bewegte, welche durch die überlieferten ſympathiſchen Gefühle, durch die gemeinſamen
Intereſſen, durch Religion, Sitte, Recht und Moral gezogen wurden. So handelt es
ſich um eine fortſchreitende hiſtoriſche Verſchiebung der Gruppierung und der Kampf-
und Friedensbeziehungen der einzelnen und der Gruppen untereinander, um eine wechſelnde
Normierung und Zulaſſung der Kampfpunkte, der Kampfarten und der Kampfmittel.
Niemals hat der Kampf ſchlechtweg geherrſcht; er hätte zum Kriege aller gegen alle,
zur auflöſenden Anarchie geführt, er hätte niemals größere ſociale Gemeinſchaften ent-
ſtehen laſſen; er hätte durch die Reibung der Elemente untereinander jede große menſch-
liche Kraftzuſammenfaſſung und damit die großen Siege über die Natur, die Siege der
höheren Raſſe über die niedrigere, der beſſer über die ſchlechter organiſierten Gemein-
weſen verhindert. Niemals hat aber auch der Friede allein geherrſcht; ohne Kampf
zwiſchen den Stämmen und Staaten wäre keine hiſtoriſche Entwickelung entſtanden, ohne
Reibung im Inneren der Staaten und Volkswirtſchaften wäre kein Wettſtreit, kein Eifer,
keine große Anſtrengung möglich geweſen.
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