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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Die Institutionen und Organe; ihre Beurteilung.
auf das andere. Ein Volk mit ausgebildetem Vereinsleben überträgt seine Gewohn-
heiten vom politischen auf das wirtschaftliche Gebiet; ein Militärstaat mit schärfster
Centralisation übernimmt auch auf wirtschaftlichem Gebiete Funktionen, die anderswo
der Aktiengesellschaft, dem Vereine, der Kirche anheimfallen.

Es ist das Verdienst Schäffles, die Grundlinien einer allgemeinen Lehre von den
socialen Organen gezeichnet zu haben, nachdem die ganze Entwickelung der Wissenschaften
von Staat und Recht, Gesellschaft und Volkswirtschaft seit den letzten paar Jahr-
hunderten erwachsen war unter einem heftigen Schwanken der Über- und Unterschätzung
der Institutionen und der Organbildung. Die Ansichten in dieser Beziehung gehen
freilich auch heute noch je nach den Partei- und Klasseninteressen, je nach den geschichts-
philosophischen Standpunkten auseinander.

Der Merkantilismus und die Kameralistik überschätzten die Möglichkeit, durch Staat,
Gesetz und Fürstenwillen alles neu zu ordnen und zu schaffen; selbst Moral und Recht
galten den ersten Denkern von Hobbes bis auf Friedrich den Großen als Produkte
staatlicher Anordnung: die Institutionen galten ihnen deshalb alles, das freie Spiel
der Individuen wenig. Die Aufklärung kehrte die Sätze um und die liberale Doktrin
hält heute noch an diesem Vorstellungskreis fest: die individuellen Gefühle und Hand-
lungen, das freie Spiel der Verträge, das freie Vereinswesen und der Voluntarismus
werden gegenüber Staat, staatlichen Institutionen, festen und dauernden Organisationen
gerühmt; man fürchtet auf diesem liberalen Standpunkte, wie ihn z. B. Hartenstein in
seiner Ethik vertritt, daß bei jeder dauernden, festen Ausbildung von Institutionen die
einseitigen Interessen der Herrschenden zu sehr zu Worte kommen, daß jede Institution,
auch die zufällig einmal gelungene, rasch veralte, zum Hindernis für weitere Fortschritte
werde. Man beruft sich (Sir S. Maine) darauf, daß die Entwickelung der Gesellschaft
von Statusverhältnissen zu Verträgen führe, d. h. daß in älterer Zeit das Individuum
allseitig durch feste Institutionen gebunden, später durch ein System freier Verträge seine
Beziehungen zu anderen ordne.

Der ältere Socialismus ist dann wieder zur Überschätzung der Institutionen und
absichtlicher Organbildung zurückgekehrt; er glaubt durch äußerliche Anordnung des
gesellschaftlichen Lebens sogar die inneren Motive alles menschlichen Handelns ändern
zu können. Die Hegelsche Philosophie, die im Staate die höchste Sittlichkeit sucht, und
andere konservative Strömungen haben, wie die neueste europäische Staatspraxis, teils
alte Institutionen, wie die Zünfte, wieder günstiger angesehen und behandelt, teils
energisch für die Neubildung von Institutionen und Organen gekämpft. Die neueste
socialdemokratische Lehre verwirft ja den bestehenden Staat mit allen seinen Institutionen,
träumt entsprechend ihrem radikal-individualistischen Ursprung von einem freien Spiele
aller individuellen Kräfte; aber sie kommt mit dem ungeheuren Sprung, den auch sie
für das psychisch-sittliche Leben erwartet, doch zur Vorstellung einer absorbierenden Herr-
schaft öffentlicher Institutionen über alle private Willkür.

Der Streit ist im ganzen derselbe, wie der im letzten Abschnitte erörterte über den
Fortschritt von individueller Freiheit und positivem Rechte. Die liberalen Individualisten
verwechselten die Abschaffung veralteter Institutionen mit der Beseitigung aller dauernden
Einrichtungen. Sie überschätzten die Gefahr der Erstarrung in alten Institutionen für
unsere Zeit. Die öffentliche Diskussion, der Kampf der Parteien und Parlamente, die
gesetzgeberische Materialsammlung und Vorbereitung der Gesetze in den Ministerien geben
heute wenigstens eine gewisse Garantie für eine flüssige und gute Neubildung. Und so
wahr es ist, daß neuerdings vielfach der Vertrag an Stelle von Institutionen getreten
ist, neue Organbildungen und sociale Einrichtungen sehen wir doch in Masse daneben
entstehen. Und wir freuen uns, wenn sie der Entwickelung feste, sichere Bahnen weisen.
Es ist klar, daß die Institutionen, wenn sie segensreich wirken sollen, eine gewisse
Starrheit und Festigkeit haben müssen. Ihr Zweck ist ja, dem Guten, dem Lebens-
förderlichen, Zweckmäßigen die feste Form zu geben, die allein die Anwendung erleichtert,
die Erfahrungen der Vergangenheit fixiert, die Millionen abhält, die alten Mißgriffe
zu machen, sich ewig von neuem um dasselbe Ziel abzumühen. Offenbar liegt der

Die Inſtitutionen und Organe; ihre Beurteilung.
auf das andere. Ein Volk mit ausgebildetem Vereinsleben überträgt ſeine Gewohn-
heiten vom politiſchen auf das wirtſchaftliche Gebiet; ein Militärſtaat mit ſchärfſter
Centraliſation übernimmt auch auf wirtſchaftlichem Gebiete Funktionen, die anderswo
der Aktiengeſellſchaft, dem Vereine, der Kirche anheimfallen.

Es iſt das Verdienſt Schäffles, die Grundlinien einer allgemeinen Lehre von den
ſocialen Organen gezeichnet zu haben, nachdem die ganze Entwickelung der Wiſſenſchaften
von Staat und Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft ſeit den letzten paar Jahr-
hunderten erwachſen war unter einem heftigen Schwanken der Über- und Unterſchätzung
der Inſtitutionen und der Organbildung. Die Anſichten in dieſer Beziehung gehen
freilich auch heute noch je nach den Partei- und Klaſſenintereſſen, je nach den geſchichts-
philoſophiſchen Standpunkten auseinander.

Der Merkantilismus und die Kameraliſtik überſchätzten die Möglichkeit, durch Staat,
Geſetz und Fürſtenwillen alles neu zu ordnen und zu ſchaffen; ſelbſt Moral und Recht
galten den erſten Denkern von Hobbes bis auf Friedrich den Großen als Produkte
ſtaatlicher Anordnung: die Inſtitutionen galten ihnen deshalb alles, das freie Spiel
der Individuen wenig. Die Aufklärung kehrte die Sätze um und die liberale Doktrin
hält heute noch an dieſem Vorſtellungskreis feſt: die individuellen Gefühle und Hand-
lungen, das freie Spiel der Verträge, das freie Vereinsweſen und der Voluntarismus
werden gegenüber Staat, ſtaatlichen Inſtitutionen, feſten und dauernden Organiſationen
gerühmt; man fürchtet auf dieſem liberalen Standpunkte, wie ihn z. B. Hartenſtein in
ſeiner Ethik vertritt, daß bei jeder dauernden, feſten Ausbildung von Inſtitutionen die
einſeitigen Intereſſen der Herrſchenden zu ſehr zu Worte kommen, daß jede Inſtitution,
auch die zufällig einmal gelungene, raſch veralte, zum Hindernis für weitere Fortſchritte
werde. Man beruft ſich (Sir S. Maine) darauf, daß die Entwickelung der Geſellſchaft
von Statusverhältniſſen zu Verträgen führe, d. h. daß in älterer Zeit das Individuum
allſeitig durch feſte Inſtitutionen gebunden, ſpäter durch ein Syſtem freier Verträge ſeine
Beziehungen zu anderen ordne.

Der ältere Socialismus iſt dann wieder zur Überſchätzung der Inſtitutionen und
abſichtlicher Organbildung zurückgekehrt; er glaubt durch äußerliche Anordnung des
geſellſchaftlichen Lebens ſogar die inneren Motive alles menſchlichen Handelns ändern
zu können. Die Hegelſche Philoſophie, die im Staate die höchſte Sittlichkeit ſucht, und
andere konſervative Strömungen haben, wie die neueſte europäiſche Staatspraxis, teils
alte Inſtitutionen, wie die Zünfte, wieder günſtiger angeſehen und behandelt, teils
energiſch für die Neubildung von Inſtitutionen und Organen gekämpft. Die neueſte
ſocialdemokratiſche Lehre verwirft ja den beſtehenden Staat mit allen ſeinen Inſtitutionen,
träumt entſprechend ihrem radikal-individualiſtiſchen Urſprung von einem freien Spiele
aller individuellen Kräfte; aber ſie kommt mit dem ungeheuren Sprung, den auch ſie
für das pſychiſch-ſittliche Leben erwartet, doch zur Vorſtellung einer abſorbierenden Herr-
ſchaft öffentlicher Inſtitutionen über alle private Willkür.

Der Streit iſt im ganzen derſelbe, wie der im letzten Abſchnitte erörterte über den
Fortſchritt von individueller Freiheit und poſitivem Rechte. Die liberalen Individualiſten
verwechſelten die Abſchaffung veralteter Inſtitutionen mit der Beſeitigung aller dauernden
Einrichtungen. Sie überſchätzten die Gefahr der Erſtarrung in alten Inſtitutionen für
unſere Zeit. Die öffentliche Diskuſſion, der Kampf der Parteien und Parlamente, die
geſetzgeberiſche Materialſammlung und Vorbereitung der Geſetze in den Miniſterien geben
heute wenigſtens eine gewiſſe Garantie für eine flüſſige und gute Neubildung. Und ſo
wahr es iſt, daß neuerdings vielfach der Vertrag an Stelle von Inſtitutionen getreten
iſt, neue Organbildungen und ſociale Einrichtungen ſehen wir doch in Maſſe daneben
entſtehen. Und wir freuen uns, wenn ſie der Entwickelung feſte, ſichere Bahnen weiſen.
Es iſt klar, daß die Inſtitutionen, wenn ſie ſegensreich wirken ſollen, eine gewiſſe
Starrheit und Feſtigkeit haben müſſen. Ihr Zweck iſt ja, dem Guten, dem Lebens-
förderlichen, Zweckmäßigen die feſte Form zu geben, die allein die Anwendung erleichtert,
die Erfahrungen der Vergangenheit fixiert, die Millionen abhält, die alten Mißgriffe
zu machen, ſich ewig von neuem um dasſelbe Ziel abzumühen. Offenbar liegt der

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[63/0079] Die Inſtitutionen und Organe; ihre Beurteilung. auf das andere. Ein Volk mit ausgebildetem Vereinsleben überträgt ſeine Gewohn- heiten vom politiſchen auf das wirtſchaftliche Gebiet; ein Militärſtaat mit ſchärfſter Centraliſation übernimmt auch auf wirtſchaftlichem Gebiete Funktionen, die anderswo der Aktiengeſellſchaft, dem Vereine, der Kirche anheimfallen. Es iſt das Verdienſt Schäffles, die Grundlinien einer allgemeinen Lehre von den ſocialen Organen gezeichnet zu haben, nachdem die ganze Entwickelung der Wiſſenſchaften von Staat und Recht, Geſellſchaft und Volkswirtſchaft ſeit den letzten paar Jahr- hunderten erwachſen war unter einem heftigen Schwanken der Über- und Unterſchätzung der Inſtitutionen und der Organbildung. Die Anſichten in dieſer Beziehung gehen freilich auch heute noch je nach den Partei- und Klaſſenintereſſen, je nach den geſchichts- philoſophiſchen Standpunkten auseinander. Der Merkantilismus und die Kameraliſtik überſchätzten die Möglichkeit, durch Staat, Geſetz und Fürſtenwillen alles neu zu ordnen und zu ſchaffen; ſelbſt Moral und Recht galten den erſten Denkern von Hobbes bis auf Friedrich den Großen als Produkte ſtaatlicher Anordnung: die Inſtitutionen galten ihnen deshalb alles, das freie Spiel der Individuen wenig. Die Aufklärung kehrte die Sätze um und die liberale Doktrin hält heute noch an dieſem Vorſtellungskreis feſt: die individuellen Gefühle und Hand- lungen, das freie Spiel der Verträge, das freie Vereinsweſen und der Voluntarismus werden gegenüber Staat, ſtaatlichen Inſtitutionen, feſten und dauernden Organiſationen gerühmt; man fürchtet auf dieſem liberalen Standpunkte, wie ihn z. B. Hartenſtein in ſeiner Ethik vertritt, daß bei jeder dauernden, feſten Ausbildung von Inſtitutionen die einſeitigen Intereſſen der Herrſchenden zu ſehr zu Worte kommen, daß jede Inſtitution, auch die zufällig einmal gelungene, raſch veralte, zum Hindernis für weitere Fortſchritte werde. Man beruft ſich (Sir S. Maine) darauf, daß die Entwickelung der Geſellſchaft von Statusverhältniſſen zu Verträgen führe, d. h. daß in älterer Zeit das Individuum allſeitig durch feſte Inſtitutionen gebunden, ſpäter durch ein Syſtem freier Verträge ſeine Beziehungen zu anderen ordne. Der ältere Socialismus iſt dann wieder zur Überſchätzung der Inſtitutionen und abſichtlicher Organbildung zurückgekehrt; er glaubt durch äußerliche Anordnung des geſellſchaftlichen Lebens ſogar die inneren Motive alles menſchlichen Handelns ändern zu können. Die Hegelſche Philoſophie, die im Staate die höchſte Sittlichkeit ſucht, und andere konſervative Strömungen haben, wie die neueſte europäiſche Staatspraxis, teils alte Inſtitutionen, wie die Zünfte, wieder günſtiger angeſehen und behandelt, teils energiſch für die Neubildung von Inſtitutionen und Organen gekämpft. Die neueſte ſocialdemokratiſche Lehre verwirft ja den beſtehenden Staat mit allen ſeinen Inſtitutionen, träumt entſprechend ihrem radikal-individualiſtiſchen Urſprung von einem freien Spiele aller individuellen Kräfte; aber ſie kommt mit dem ungeheuren Sprung, den auch ſie für das pſychiſch-ſittliche Leben erwartet, doch zur Vorſtellung einer abſorbierenden Herr- ſchaft öffentlicher Inſtitutionen über alle private Willkür. Der Streit iſt im ganzen derſelbe, wie der im letzten Abſchnitte erörterte über den Fortſchritt von individueller Freiheit und poſitivem Rechte. Die liberalen Individualiſten verwechſelten die Abſchaffung veralteter Inſtitutionen mit der Beſeitigung aller dauernden Einrichtungen. Sie überſchätzten die Gefahr der Erſtarrung in alten Inſtitutionen für unſere Zeit. Die öffentliche Diskuſſion, der Kampf der Parteien und Parlamente, die geſetzgeberiſche Materialſammlung und Vorbereitung der Geſetze in den Miniſterien geben heute wenigſtens eine gewiſſe Garantie für eine flüſſige und gute Neubildung. Und ſo wahr es iſt, daß neuerdings vielfach der Vertrag an Stelle von Inſtitutionen getreten iſt, neue Organbildungen und ſociale Einrichtungen ſehen wir doch in Maſſe daneben entſtehen. Und wir freuen uns, wenn ſie der Entwickelung feſte, ſichere Bahnen weiſen. Es iſt klar, daß die Inſtitutionen, wenn ſie ſegensreich wirken ſollen, eine gewiſſe Starrheit und Feſtigkeit haben müſſen. Ihr Zweck iſt ja, dem Guten, dem Lebens- förderlichen, Zweckmäßigen die feſte Form zu geben, die allein die Anwendung erleichtert, die Erfahrungen der Vergangenheit fixiert, die Millionen abhält, die alten Mißgriffe zu machen, ſich ewig von neuem um dasſelbe Ziel abzumühen. Offenbar liegt der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/79>, abgerufen am 25.11.2024.