Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Natürliche und sittliche Kräfte; Institutionen und Organe. Indem der Niederschlag aller sittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn- Wir versuchen diese Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte 31. Die gesellschaftlichen Institutionen und Organe treten uns als Wir verstehen unter einer politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen Institution Alle ältere Organbildung geht aus der Geschlechts- und Blutsgemeinschaft hervor: Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe. Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn- Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte 31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0077" n="61"/> <fw place="top" type="header">Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.</fw><lb/> <p>Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn-<lb/> heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation<lb/> überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes<lb/> Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen<lb/> Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und<lb/> ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten<lb/> ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich<lb/> zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig-<lb/> ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung<lb/> jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der<lb/> Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze<lb/> Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die<lb/> Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch<lb/> Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen<lb/> Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme<lb/> mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und<lb/> arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt-<lb/> niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das<lb/> Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr<lb/> ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen<lb/> wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten<lb/> Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.</p><lb/> <p>Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte<lb/> über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein,<lb/> endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.</p><lb/> <p>31. <hi rendition="#g">Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe</hi> treten uns als<lb/> das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen<lb/> desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte,<lb/> Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab-<lb/> ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich<lb/> dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der<lb/> Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.</p><lb/> <p>Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen <hi rendition="#g">Inſtitution</hi><lb/> eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte<lb/> Ordnung des Gemeinſchaftslebens, welche das feſte Gefäß für das Handeln von Gene-<lb/> rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei,<lb/> die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die<lb/> Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In-<lb/> ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und<lb/> des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen-<lb/> hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung<lb/> empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen<lb/> Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer <hi rendition="#g">Organ</hi>bildung<lb/> die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das<lb/> Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen<lb/> und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen,<lb/> die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent-<lb/> lichen Organe des ſocialen Lebens.</p><lb/> <p>Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor:<lb/> der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen,<lb/> aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller<lb/> ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe.<lb/> Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung,<lb/> deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [61/0077]
Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.
Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn-
heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation
überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes
Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen
Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und
ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten
ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich
zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig-
ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung
jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der
Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze
Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die
Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch
Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen
Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme
mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und
arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt-
niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das
Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr
ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen
wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten
Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.
Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte
über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein,
endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.
31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als
das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen
desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte,
Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab-
ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich
dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der
Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.
Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution
eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte
Ordnung des Gemeinſchaftslebens, welche das feſte Gefäß für das Handeln von Gene-
rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei,
die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die
Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In-
ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und
des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen-
hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung
empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen
Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer Organbildung
die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das
Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen
und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen,
die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent-
lichen Organe des ſocialen Lebens.
Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor:
der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen,
aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller
ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe.
Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung,
deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver-
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