Natürliche und sittliche Kräfte; Institutionen und Organe.
Indem der Niederschlag aller sittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn- heit und Erziehung, durch die bestehenden Institutionen von Generation zu Generation überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtschaft nur innerhalb dieses Rahmens zur Geltung; bestimmen sie die etwaige Umbildung dieses gesellschaftlichen Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch sicher auf eine neue sociale und sittliche Ordnung der Volkswirtschaft, so wirken ebenso sicher die allgemeinen gefestigten ethischen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik sich zu Gewohnheiten und Institutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geistig- sittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieses Besitzes, wie die Erziehung jeder jungen Generation und ihre Einschulung in die Sitten und Gepflogenheiten der Gesellschaft bilden eine der wichtigsten Funktionen der sittlichen Kräfte. Auch die ganze Volkswirtschaft ist nicht denkbar ohne diesen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die Kinder und jungen Leute werden im Interesse ihrer Zukunft und der Gesellschaft durch Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen Triebe in gesellschaftliche umzuwandeln; sie müssen das ihnen zunächst Unangenehme mit Mühe erlernen, sich ihm durch Wiederholung anpassen; sie müssen gehorchen und arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung sich gewöhnen, sie müssen Kennt- nisse und Fertigkeiten erwerben; sie können es, weil die Jugend bildsamer ist als das Alter, weil jede Handlung Spuren in Geist und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr ins selbe Geleise erleichtern. Ohne diesen Prozeß gäbe es keinen Fortschritt, auch keinen wirtschaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten Gang sittlich harmonisierter, zu gesellschaftlichem Zusammenwirken brauchbarer Kräfte.
Wir versuchen diese Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte über die gesellschaftlichen Institutionen und Organe, über den Kampf ums Dasein, endlich über die Moralsysteme und die sittlichen Leitideen sagen.
31. Die gesellschaftlichen Institutionen und Organe treten uns als das wichtigste Ergebnis des sittlichen Lebens entgegen. Es sind die Krystallisationen desselben. Aus den oben geschilderten psychischen Massenzusammenhängen, aus Sitte, Recht und Moral, aus den täglich sich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab- stoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpassungen ergeben sich dauernde Formen des gesellschaftlichen Lebens, welche den verschiedenen Zwecken der Gesellschaft, vielleicht am meisten den wirtschaftlichen dienen.
Wir verstehen unter einer politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen Institution eine partielle, bestimmten Zwecken dienende, zu einer selbständigen Entwickelung gelangte Ordnung des Gemeinschaftslebens, welche das feste Gefäß für das Handeln von Gene- rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtausenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei, die Leibeigenschaft, die Ehe, die Vormundschaft, das Marktwesen, das Münzwesen, die Gewerbefreiheit, das sind Beispiele von Institutionen. Es handelt sich bei jeder In- stitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und des Rechtes, die einen gemeinsamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter sich zusammen- hängen, ein System bilden, eine gemeinsame praktische und theoretische Ausbildung empfangen haben, festgewurzelt im Gemeinschaftsleben, als typische Form die lebendigen Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verstehen unter einer Organbildung die persönliche Seite der Institution; die Ehe ist die Institution, die Familie ist das Organ. Die socialen Organe sind die dauernden Formen der Verknüpfung von Personen und Gütern für bestimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen, die Genossenschaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das sind die wesent- lichen Organe des socialen Lebens.
Alle ältere Organbildung geht aus der Geschlechts- und Blutsgemeinschaft hervor: der Stamm, die Sippe, die Familie sind Organe, die ursprünglich alle Zwecke umfassen, aus denen durch Scheidung, Ablösung und Differenzierung ein großer Teil auch aller späteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinsamen Zwecke schaffen die Organe. Je höher die Kultur steigt, desto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Gestaltung, desto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus tastenden Ver-
Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.
Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn- heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig- ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt- niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.
Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein, endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.
31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte, Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab- ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.
Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte Ordnung des Gemeinſchaftslebens, welche das feſte Gefäß für das Handeln von Gene- rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei, die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In- ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen- hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer Organbildung die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen, die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent- lichen Organe des ſocialen Lebens.
Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor: der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen, aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe. Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung, deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver-
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Natürliche und ſittliche Kräfte; Inſtitutionen und Organe.
Indem der Niederſchlag aller ſittlichen Arbeit vergangener Zeiten durch Gewohn-
heit und Erziehung, durch die beſtehenden Inſtitutionen von Generation zu Generation
überliefert wird, kommen alle natürlichen Kräfte der Volkswirtſchaft nur innerhalb dieſes
Rahmens zur Geltung; beſtimmen ſie die etwaige Umbildung dieſes geſellſchaftlichen
Rahmens mit, wirkt z. B. eine neue Technik auch ſicher auf eine neue ſociale und
ſittliche Ordnung der Volkswirtſchaft, ſo wirken ebenſo ſicher die allgemeinen gefeſtigten
ethiſchen Gedanken und Ideale der Sittlichkeit auf die Art, wie die neue Technik ſich
zu Gewohnheiten und Inſtitutionen ausprägt. Jede Generation ruht auf dem geiſtig-
ſittlichen Schatze der Vergangenheit. Die Überlieferung dieſes Beſitzes, wie die Erziehung
jeder jungen Generation und ihre Einſchulung in die Sitten und Gepflogenheiten der
Geſellſchaft bilden eine der wichtigſten Funktionen der ſittlichen Kräfte. Auch die ganze
Volkswirtſchaft iſt nicht denkbar ohne dieſen Erziehungs- und Einübungsprozeß. Die
Kinder und jungen Leute werden im Intereſſe ihrer Zukunft und der Geſellſchaft durch
Vorbild, Unterricht, Gewöhnung, Strafe und Belohnung angeleitet, ihre natürlichen
Triebe in geſellſchaftliche umzuwandeln; ſie müſſen das ihnen zunächſt Unangenehme
mit Mühe erlernen, ſich ihm durch Wiederholung anpaſſen; ſie müſſen gehorchen und
arbeiten lernen, an Verträglichkeit, Zucht und Ordnung ſich gewöhnen, ſie müſſen Kennt-
niſſe und Fertigkeiten erwerben; ſie können es, weil die Jugend bildſamer iſt als das
Alter, weil jede Handlung Spuren in Geiſt und Körper zurückläßt, welche die Rückkehr
ins ſelbe Geleiſe erleichtern. Ohne dieſen Prozeß gäbe es keinen Fortſchritt, auch keinen
wirtſchaftlichen. Er macht aus dem rohen Spiele natürlicher Kräfte den geordneten
Gang ſittlich harmoniſierter, zu geſellſchaftlichem Zuſammenwirken brauchbarer Kräfte.
Wir verſuchen dieſe Wahrheit noch weiter zu beleuchten, indem wir einige Worte
über die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe, über den Kampf ums Daſein,
endlich über die Moralſyſteme und die ſittlichen Leitideen ſagen.
31. Die geſellſchaftlichen Inſtitutionen und Organe treten uns als
das wichtigſte Ergebnis des ſittlichen Lebens entgegen. Es ſind die Kryſtalliſationen
desſelben. Aus den oben geſchilderten pſychiſchen Maſſenzuſammenhängen, aus Sitte,
Recht und Moral, aus den täglich ſich ergebenden Berührungen, Anziehungen und Ab-
ſtoßungen, aus den Verträgen und vorübergehenden Ineinanderpaſſungen ergeben ſich
dauernde Formen des geſellſchaftlichen Lebens, welche den verſchiedenen Zwecken der
Geſellſchaft, vielleicht am meiſten den wirtſchaftlichen dienen.
Wir verſtehen unter einer politiſchen, rechtlichen, wirtſchaftlichen Inſtitution
eine partielle, beſtimmten Zwecken dienende, zu einer ſelbſtändigen Entwickelung gelangte
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rationen, oft von Jahrhunderten und Jahrtauſenden abgiebt: das Eigentum, die Sklaverei,
die Leibeigenſchaft, die Ehe, die Vormundſchaft, das Marktweſen, das Münzweſen, die
Gewerbefreiheit, das ſind Beiſpiele von Inſtitutionen. Es handelt ſich bei jeder In-
ſtitution um eine Summe von Gewohnheiten und Regeln der Moral, der Sitte und
des Rechtes, die einen gemeinſamen Mittelpunkt oder Zweck haben, unter ſich zuſammen-
hängen, ein Syſtem bilden, eine gemeinſame praktiſche und theoretiſche Ausbildung
empfangen haben, feſtgewurzelt im Gemeinſchaftsleben, als typiſche Form die lebendigen
Kräfte immer wieder in ihren Bannkreis ziehen. Wir verſtehen unter einer Organbildung
die perſönliche Seite der Inſtitution; die Ehe iſt die Inſtitution, die Familie iſt das
Organ. Die ſocialen Organe ſind die dauernden Formen der Verknüpfung von Perſonen
und Gütern für beſtimmte Zwecke: die Gens, die Familie, die Vereine, die Korporationen,
die Genoſſenſchaften, die Gemeinden, die Unternehmungen, der Staat, das ſind die weſent-
lichen Organe des ſocialen Lebens.
Alle ältere Organbildung geht aus der Geſchlechts- und Blutsgemeinſchaft hervor:
der Stamm, die Sippe, die Familie ſind Organe, die urſprünglich alle Zwecke umfaſſen,
aus denen durch Scheidung, Ablöſung und Differenzierung ein großer Teil auch aller
ſpäteren Organe hervorgehen. Die dauernden gemeinſamen Zwecke ſchaffen die Organe.
Je höher die Kultur ſteigt, deſto mannigfaltiger wird ihre Zahl und ihre Geſtaltung,
deſto häufiger treten neben die gewordenen die gewillkürten Organe; aus taſtenden Ver-
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/77>, abgerufen am 27.07.2024.
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