Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geistig-sittliches, formendes, auf ihren Zusammenhang mit dem
übrigen Leben hindeutendes Element.

Die Gegenstände, welche die ältere Sitte formt, umfassen das ganze äußere Leben,
aber auch nur dieses, niemals zunächst die Gesinnung. Die Nahrung, die Kleidung,
die Wohnung, das Zusammenleben und der Verkehr der Menschen sind überall die Haupt-
objekte der Sitte. Aus Hunger und Instinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung
findet; das Essen zu fest bestimmter Zeit, in bestimmter Form wird durch die Sitte
geschaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menschen,
sich zu bemalen, zu schmücken; daraus geht der Kriegsschmuck, die Kleidung als Sitte
hervor. Die Begattung erfolgt aus tierischem Antriebe; die Sitte schafft feste Regeln
für dieselbe. Geburt und Tod sind natürliche Ereignisse, die Teilnahme der Familie
und Freunde, die Rücksicht auf abgeschiedene Ahnen und auf die Götter schafft feierliche
Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und
Opfermahle, die Leichenbegängnisse, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereignisse
in ihrer Bedeutung gewürdigt werden sollen. Aus Bedürfnis tauscht der eine Stamm
einzelne Waffen und Schmuckgegenstände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch
die feste Anordnung einer gefriedeten Malstatt, wo zu bestimmter Zeit die Tauschenden
zusammenkommen.

Mag die religiöse Färbung der meisten älteren Sitten, die Verbindung fast aller
regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran schuld sein, oder der
Umstand, daß der Mensch an sich den geistigen Stempel, den er einer Handlung giebt,
höher stellt als ihren materiellen Inhalt, so viel ist sicher, daß diese Formen, an die
sich eine Gesellschaft gewöhnt hat, teilweise ein zäheres konservativeres Leben haben als
ihr Inhalt selbst. Das heranwachsende Geschlecht findet die Sitte als ein Überliefertes
vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtseins an als heilig betrachtet.
An herkömmlich bestimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der
Götter. Die Sitte wird zur unbeugsamsten, überwältigenden Macht. Mit der zähesten
Ängstlichkeit hält das Gemüt oft an ihr fest, auch wenn die materielle Handlung, die
in der Sitte steckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke schieben sich unter,
die Form sucht sich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen-
schmäuse, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu-
trinkens. In fast aller Sitte stecken so Nachklänge von Jahrtausenden; es sind oftmals
Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und gesellschaftlichen Verhält-
nissen entstanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.

Die einzelne Form der Sitte ist so immer schwer kulturgeschichtlich zu erklären;
sie ist ein kompliziertes Ergebnis, zu dem sich sehr verschiedene Vorstellungsreihen
und Ursachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfnisse und
Zwecke, uralte Formeln, religiöser Wahn, schiefe Vorstellungen und richtige Kausal-
erkenntnis in Bezug auf individuellen und socialen Nutzen wirken zusammen. Die Sitte
der Kleidung ist ursprünglich zu einer Zeit, wo der Mensch nicht bemerkte, daß er nackt
sei, und wo die Nacktheit noch keine Summe sexueller Vorstellungen und Erinnerungen
aufreizen konnte, entstanden aus der Neigung, sich zu schmücken, sich durch Schmuck aus-
zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei
welchen es Sitte ist, daß der Mann sich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits-
teilung und sociale Klassenbildung haben später, wie die Kälte und die Bewaffnungs-
zwecke, in die Entwickelung dieser Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten ist die
Bekleidung dann allgemein als ein sociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel
der sexualen Prophylaxe und der socialen Anweisung, dem Trauernden richtig zu begegnen
wie dem Festgeschmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an seine Stellung
zu erinnern, dem Geistlichen und Richter seine Wirksamkeit auf andere durch die Amts-
tracht zu erleichtern. Nur ein unhistorischer Rationalismus kann deshalb ausschließlich
alle Sitte auf Überlegungen des gesellschaftlichen Nutzens zurückführen.

Dieser hat freilich überall instinktiv oder klar erkannt mitgespielt. Dasjenige wird
Sitte, was den Menschen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, später dem

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem
übrigen Leben hindeutendes Element.

Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben,
aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung,
die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt-
objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung
findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte
geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen,
ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte
hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln
für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie
und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche
Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und
Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe
in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm
einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch
die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden
zuſammenkommen.

Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller
regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der
Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt,
höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die
ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als
ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes
vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet.
An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der
Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten
Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die
in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter,
die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen-
ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu-
trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals
Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält-
niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.

Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären;
ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen
und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und
Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal-
erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte
der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt
ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen
aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus-
zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei
welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits-
teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs-
zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die
Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel
der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen
wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung
zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts-
tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich
alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen.

Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird
Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0066" n="50"/><fw place="top" type="header">Einleitung. Begriff. P&#x017F;ychologi&#x017F;che und &#x017F;ittliche Grundlage. Litteratur und Methode.</fw><lb/>
ein hinzukommendes gei&#x017F;tig-&#x017F;ittliches, formendes, auf ihren Zu&#x017F;ammenhang mit dem<lb/>
übrigen Leben hindeutendes Element.</p><lb/>
          <p>Die Gegen&#x017F;tände, welche die ältere Sitte formt, umfa&#x017F;&#x017F;en das ganze äußere Leben,<lb/>
aber auch nur die&#x017F;es, niemals zunäch&#x017F;t die Ge&#x017F;innung. Die Nahrung, die Kleidung,<lb/>
die Wohnung, das Zu&#x017F;ammenleben und der Verkehr der Men&#x017F;chen &#x017F;ind überall die Haupt-<lb/>
objekte der Sitte. Aus Hunger und In&#x017F;tinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung<lb/>
findet; das E&#x017F;&#x017F;en zu fe&#x017F;t be&#x017F;timmter Zeit, in be&#x017F;timmter Form wird durch die Sitte<lb/>
ge&#x017F;chaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Men&#x017F;chen,<lb/>
&#x017F;ich zu bemalen, zu &#x017F;chmücken; daraus geht der Kriegs&#x017F;chmuck, die Kleidung als Sitte<lb/>
hervor. Die Begattung erfolgt aus tieri&#x017F;chem Antriebe; die Sitte &#x017F;chafft fe&#x017F;te Regeln<lb/>
für die&#x017F;elbe. Geburt und Tod &#x017F;ind natürliche Ereigni&#x017F;&#x017F;e, die Teilnahme der Familie<lb/>
und Freunde, die Rück&#x017F;icht auf abge&#x017F;chiedene Ahnen und auf die Götter &#x017F;chafft feierliche<lb/>
Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und<lb/>
Opfermahle, die Leichenbegängni&#x017F;&#x017F;e, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
in ihrer Bedeutung gewürdigt werden &#x017F;ollen. Aus Bedürfnis tau&#x017F;cht der eine Stamm<lb/>
einzelne Waffen und Schmuckgegen&#x017F;tände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch<lb/>
die fe&#x017F;te Anordnung einer gefriedeten Mal&#x017F;tatt, wo zu be&#x017F;timmter Zeit die Tau&#x017F;chenden<lb/>
zu&#x017F;ammenkommen.</p><lb/>
          <p>Mag die religiö&#x017F;e Färbung der mei&#x017F;ten älteren Sitten, die Verbindung fa&#x017F;t aller<lb/>
regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran &#x017F;chuld &#x017F;ein, oder der<lb/>
Um&#x017F;tand, daß der Men&#x017F;ch an &#x017F;ich den gei&#x017F;tigen Stempel, den er einer Handlung giebt,<lb/>
höher &#x017F;tellt als ihren materiellen Inhalt, &#x017F;o viel i&#x017F;t &#x017F;icher, daß die&#x017F;e Formen, an die<lb/>
&#x017F;ich eine Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft gewöhnt hat, teilwei&#x017F;e ein zäheres kon&#x017F;ervativeres Leben haben als<lb/>
ihr Inhalt &#x017F;elb&#x017F;t. Das heranwach&#x017F;ende Ge&#x017F;chlecht findet die Sitte als ein Überliefertes<lb/>
vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußt&#x017F;eins an als heilig betrachtet.<lb/>
An herkömmlich be&#x017F;timmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der<lb/>
Götter. Die Sitte wird zur unbeug&#x017F;am&#x017F;ten, überwältigenden Macht. Mit der zähe&#x017F;ten<lb/>
Äng&#x017F;tlichkeit hält das Gemüt oft an ihr fe&#x017F;t, auch wenn die materielle Handlung, die<lb/>
in der Sitte &#x017F;teckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke &#x017F;chieben &#x017F;ich unter,<lb/>
die Form &#x017F;ucht &#x017F;ich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen-<lb/>
&#x017F;chmäu&#x017F;e, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu-<lb/>
trinkens. In fa&#x017F;t aller Sitte &#x017F;tecken &#x017F;o Nachklänge von Jahrtau&#x017F;enden; es &#x017F;ind oftmals<lb/>
Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Verhält-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;en ent&#x017F;tanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten.</p><lb/>
          <p>Die einzelne Form der Sitte i&#x017F;t &#x017F;o immer &#x017F;chwer kulturge&#x017F;chichtlich zu erklären;<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t ein kompliziertes Ergebnis, zu dem &#x017F;ich &#x017F;ehr ver&#x017F;chiedene Vor&#x017F;tellungsreihen<lb/>
und Ur&#x017F;achen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfni&#x017F;&#x017F;e und<lb/>
Zwecke, uralte Formeln, religiö&#x017F;er Wahn, &#x017F;chiefe Vor&#x017F;tellungen und richtige Kau&#x017F;al-<lb/>
erkenntnis in Bezug auf individuellen und &#x017F;ocialen Nutzen wirken zu&#x017F;ammen. Die Sitte<lb/>
der Kleidung i&#x017F;t ur&#x017F;prünglich zu einer Zeit, wo der Men&#x017F;ch nicht bemerkte, daß er nackt<lb/>
&#x017F;ei, und wo die Nacktheit noch keine Summe &#x017F;exueller Vor&#x017F;tellungen und Erinnerungen<lb/>
aufreizen konnte, ent&#x017F;tanden aus der Neigung, &#x017F;ich zu &#x017F;chmücken, &#x017F;ich durch Schmuck aus-<lb/>
zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei<lb/>
welchen es Sitte i&#x017F;t, daß der Mann &#x017F;ich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits-<lb/>
teilung und &#x017F;ociale Kla&#x017F;&#x017F;enbildung haben &#x017F;päter, wie die Kälte und die Bewaffnungs-<lb/>
zwecke, in die Entwickelung die&#x017F;er Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten i&#x017F;t die<lb/>
Bekleidung dann allgemein als ein &#x017F;ociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel<lb/>
der &#x017F;exualen Prophylaxe und der &#x017F;ocialen Anwei&#x017F;ung, dem Trauernden richtig zu begegnen<lb/>
wie dem Fe&#x017F;tge&#x017F;chmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an &#x017F;eine Stellung<lb/>
zu erinnern, dem Gei&#x017F;tlichen und Richter &#x017F;eine Wirk&#x017F;amkeit auf andere durch die Amts-<lb/>
tracht zu erleichtern. Nur ein unhi&#x017F;tori&#x017F;cher Rationalismus kann deshalb aus&#x017F;chließlich<lb/>
alle Sitte auf Überlegungen des ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Nutzens zurückführen.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;er hat freilich überall in&#x017F;tinktiv oder klar erkannt mitge&#x017F;pielt. Dasjenige wird<lb/>
Sitte, was den Men&#x017F;chen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, &#x017F;päter dem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[50/0066] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. ein hinzukommendes geiſtig-ſittliches, formendes, auf ihren Zuſammenhang mit dem übrigen Leben hindeutendes Element. Die Gegenſtände, welche die ältere Sitte formt, umfaſſen das ganze äußere Leben, aber auch nur dieſes, niemals zunächſt die Geſinnung. Die Nahrung, die Kleidung, die Wohnung, das Zuſammenleben und der Verkehr der Menſchen ſind überall die Haupt- objekte der Sitte. Aus Hunger und Inſtinkt frißt das Tier, wann und wo es Nahrung findet; das Eſſen zu feſt beſtimmter Zeit, in beſtimmter Form wird durch die Sitte geſchaffen. Die Eitelkeit und die Neigung zur Auszeichnung veranlaßt den Menſchen, ſich zu bemalen, zu ſchmücken; daraus geht der Kriegsſchmuck, die Kleidung als Sitte hervor. Die Begattung erfolgt aus tieriſchem Antriebe; die Sitte ſchafft feſte Regeln für dieſelbe. Geburt und Tod ſind natürliche Ereigniſſe, die Teilnahme der Familie und Freunde, die Rückſicht auf abgeſchiedene Ahnen und auf die Götter ſchafft feierliche Ceremonien, die Aufhebung des Kindes durch den Vater, die Taufe, die Toten- und Opfermahle, die Leichenbegängniſſe, lauter formale Handlungen, durch welche die Ereigniſſe in ihrer Bedeutung gewürdigt werden ſollen. Aus Bedürfnis tauſcht der eine Stamm einzelne Waffen und Schmuckgegenſtände mit dem anderen; die Sitte regelt das durch die feſte Anordnung einer gefriedeten Malſtatt, wo zu beſtimmter Zeit die Tauſchenden zuſammenkommen. Mag die religiöſe Färbung der meiſten älteren Sitten, die Verbindung faſt aller regelmäßig wiederkehrenden Handlungen mit Kultceremonien daran ſchuld ſein, oder der Umſtand, daß der Menſch an ſich den geiſtigen Stempel, den er einer Handlung giebt, höher ſtellt als ihren materiellen Inhalt, ſo viel iſt ſicher, daß dieſe Formen, an die ſich eine Geſellſchaft gewöhnt hat, teilweiſe ein zäheres konſervativeres Leben haben als ihr Inhalt ſelbſt. Das heranwachſende Geſchlecht findet die Sitte als ein Überliefertes vor, als eine Lebensform, die es vom Erwachen des Bewußtſeins an als heilig betrachtet. An herkömmlich beſtimmten Worten, Bewegungen, Opfern, Zeichen hängt die Gnade der Götter. Die Sitte wird zur unbeugſamſten, überwältigenden Macht. Mit der zäheſten Ängſtlichkeit hält das Gemüt oft an ihr feſt, auch wenn die materielle Handlung, die in der Sitte ſteckt, keinen rechten Zweck mehr hat. Andere Zwecke ſchieben ſich unter, die Form ſucht ſich zu erhalten. Aus Opfermahlen für Götter und Tote werden Leichen- ſchmäuſe, aus uralten Trankopfern zur Verbrüderung wird die heutige Sitte des Zu- trinkens. In faſt aller Sitte ſtecken ſo Nachklänge von Jahrtauſenden; es ſind oftmals Übungen und Formen, die, unter ganz anderen natürlichen und geſellſchaftlichen Verhält- niſſen entſtanden, doch ihren Wert und ihre Bedeutung behaupten. Die einzelne Form der Sitte iſt ſo immer ſchwer kulturgeſchichtlich zu erklären; ſie iſt ein kompliziertes Ergebnis, zu dem ſich ſehr verſchiedene Vorſtellungsreihen und Urſachen vereinigt haben. Sittliches Urteil und Gefühl, materielle Bedürfniſſe und Zwecke, uralte Formeln, religiöſer Wahn, ſchiefe Vorſtellungen und richtige Kauſal- erkenntnis in Bezug auf individuellen und ſocialen Nutzen wirken zuſammen. Die Sitte der Kleidung iſt urſprünglich zu einer Zeit, wo der Menſch nicht bemerkte, daß er nackt ſei, und wo die Nacktheit noch keine Summe ſexueller Vorſtellungen und Erinnerungen aufreizen konnte, entſtanden aus der Neigung, ſich zu ſchmücken, ſich durch Schmuck aus- zuzeichnen; der Mann that das früher als die Frau; daher heute noch Stämme, bei welchen es Sitte iſt, daß der Mann ſich bekleidet, die Frau nackt geht. Alle Arbeits- teilung und ſociale Klaſſenbildung haben ſpäter, wie die Kälte und die Bewaffnungs- zwecke, in die Entwickelung dieſer Sitte eingegriffen; in den modernen Zeiten iſt die Bekleidung dann allgemein als ein ſociales Zuchtmittel erkannt worden, als ein Mittel der ſexualen Prophylaxe und der ſocialen Anweiſung, dem Trauernden richtig zu begegnen wie dem Feſtgeſchmückten; es wurde ein Mittel, den Offizier immer an ſeine Stellung zu erinnern, dem Geiſtlichen und Richter ſeine Wirkſamkeit auf andere durch die Amts- tracht zu erleichtern. Nur ein unhiſtoriſcher Rationalismus kann deshalb ausſchließlich alle Sitte auf Überlegungen des geſellſchaftlichen Nutzens zurückführen. Dieſer hat freilich überall inſtinktiv oder klar erkannt mitgeſpielt. Dasjenige wird Sitte, was den Menſchen irrtümlich oder mit Recht als das der Familie, ſpäter dem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/66
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/66>, abgerufen am 22.11.2024.