Die wachsenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.
der Sinnenwelt als höchste Tugend. Dem einen gilt Schmerzlosigkeit, dem anderen Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinwesen als das höchste Gut.
Trotz aller dieser Abweichungen hat die gleiche Menschennatur, die gleiche gesell- schaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher stehenden Völkern eine merkwürdige Übereinstimmung der geforderten Pflichten, Tugenden und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtausenden hat immer mehr dieselben Handlungen, dieselben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein- zelnen, wie der Wohlfahrt der Gesellschaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten sich nach langen Irrwegen dieselben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen Sätzen und Ideen sich zusammenfassen lassen. Sie sind ebenso sehr ein Ergebnis unserer steigenden Erkenntnis der Welt und der Menschen, als ein Produkt der sittlichen Zucht, der Veredelung unseres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich selbst; liebe deinen Nächsten als dich selbst; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen, dem du angehörst; sei demütig vor Gott, selbstbewußt aber bescheiden vor den Menschen. Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und überall ruht der Bestand der Gesellschaft darauf, daß diese schlichten und kurzen Sätze zur höchsten geistigen Macht auf Erden geworden sind.
24. Die sittlichen Zuchtmittel: gesellschaftlicher Tadel, staatliche Strafen, religiöse Vorstellungen. Wie kam es aber, daß diese Sätze zur höchsten Macht auf Erden wurden? Die sittlichen Urteile entstanden und entstehen immer wieder auf Grund der geschilderten psychischen Vorgänge; aber wie wir dabei schon der Mitwirkung der Gesellschaft gedenken mußten, so tragen gesellschaftliche Einrichtungen und psychische Pressionsmittel, die aus den gesellschaftlichen Zusammenhängen ihre Kraft schöpfen, dazu bei, die Wirkung dieser Urteile zu stärken, im Gemütsleben der Menschen jene starken Emotionen hervorzurufen, die zunächst viel mehr als kluges Überlegen und Einsicht in den gesellschaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menschen auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.
Die socialen Pressions- und Zuchtmittel, die wir meinen, sind einfach und bekannt: sie entspringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genossen, der Furcht vor der Strafgewalt der Mächtigen und Fürsten, der Furcht vor den Göttern. Es ist, wie H. Spencer sagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menschlichen Handlungen stehen, so weit wir die Geschichte zurück verfolgen können. Wir haben schon im bisherigen Gelegenheit gehabt, sie teilweise zu berühren, hauptsächlich bei Erörterung des An- erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.
Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entsteht, die Führung im Kriege übernimmt, die Feigen bestraft, die Tapferen belohnt, besteht in der primitivsten Gesellschaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausschluß aus der Sippe und dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemesis von Verwandten, wenn ein Frevler einen Stammesgenossen aus anderem Geschlecht erschlagen hat. Nicht im Widerspruch mit dem sittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, sondern eben aus ihnen heraus wachsen die entsprechenden Übungen und Gepflogenheiten der Blutrache, der Ausstoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und die Gefühle zurückwirken. Vorstellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude werden so mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß sie dauernd die einzelnen und die Gesellschaft beherrschen.
Neben diese niemals verschwindende, nur später in milderen Formen auftretende Kontrolle der Nachbarn und Genossen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegerischen Führertums die Macht der Staatsgewalt. Es ist zuerst ein roher Despotismus, zuletzt eine fest durch das Recht umgrenzte oberste, vielleicht ganz unpersönliche Befehlsbefugnis, die Vorschriften erläßt und straft; immer ruht sie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerstrebenden zwingen, einsperren, töten; der einzelne muß sich ihr und ihren Geboten unterwerfen; die staatliche Zwangsgewalt mit ihrem System von Strafen und Zwangsmitteln, von Auszeichnungen und Ehren wird gleichsam das feste Rückgrat der Gesellschaft; die Bürger
Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.
der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.
Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell- ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein- zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht, der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen, dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen. Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.
24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche Strafen, religiöſe Vorſtellungen. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.
Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt: ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An- erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.
Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen und die Geſellſchaft beherrſchen.
Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen; die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger
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Die wachſenden Ziele und die Zuchtmittel des Sittlichen.
der Sinnenwelt als höchſte Tugend. Dem einen gilt Schmerzloſigkeit, dem anderen
Thätigkeit, dem dritten Hingabe an das Gemeinweſen als das höchſte Gut.
Trotz aller dieſer Abweichungen hat die gleiche Menſchennatur, die gleiche geſell-
ſchaftliche Entwickelung und die gleiche Ausbildung der Ideenwelt bei allen höher
ſtehenden Völkern eine merkwürdige Übereinſtimmung der geforderten Pflichten, Tugenden
und Güter erzeugt. Eine Erfahrung von Jahrtauſenden hat immer mehr dieſelben
Handlungen, dieſelben Gefühle als die notwendigen Bedingungen des Glückes der ein-
zelnen, wie der Wohlfahrt der Geſellſchaft aufgedeckt. Bei allen Völkern arbeiten ſich
nach langen Irrwegen dieſelben Ideale durch, die in relativ wenigen und einfachen
Sätzen und Ideen ſich zuſammenfaſſen laſſen. Sie ſind ebenſo ſehr ein Ergebnis unſerer
ſteigenden Erkenntnis der Welt und der Menſchen, als ein Produkt der ſittlichen Zucht,
der Veredelung unſeres Gemütslebens. Behaupte und vervollkommne dich ſelbſt; liebe
deinen Nächſten als dich ſelbſt; gebe jedem das Seine; fühle dich als Glied des Ganzen,
dem du angehörſt; ſei demütig vor Gott, ſelbſtbewußt aber beſcheiden vor den Menſchen.
Derartiges wird heute in allen Weltteilen und von allen Religionen gelehrt. Und
überall ruht der Beſtand der Geſellſchaft darauf, daß dieſe ſchlichten und kurzen Sätze
zur höchſten geiſtigen Macht auf Erden geworden ſind.
24. Die ſittlichen Zuchtmittel: geſellſchaftlicher Tadel, ſtaatliche
Strafen, religiöſe Vorſtellungen. Wie kam es aber, daß dieſe Sätze zur
höchſten Macht auf Erden wurden? Die ſittlichen Urteile entſtanden und entſtehen immer
wieder auf Grund der geſchilderten pſychiſchen Vorgänge; aber wie wir dabei ſchon der
Mitwirkung der Geſellſchaft gedenken mußten, ſo tragen geſellſchaftliche Einrichtungen
und pſychiſche Preſſionsmittel, die aus den geſellſchaftlichen Zuſammenhängen ihre Kraft
ſchöpfen, dazu bei, die Wirkung dieſer Urteile zu ſtärken, im Gemütsleben der Menſchen
jene ſtarken Emotionen hervorzurufen, die zunächſt viel mehr als kluges Überlegen und
Einſicht in den geſellſchaftlichen Nutzen oder den künftigen eigenen Vorteil die Menſchen
auf der Bahn des Sittlichen vorangebracht haben.
Die ſocialen Preſſions- und Zuchtmittel, die wir meinen, ſind einfach und bekannt:
ſie entſpringen der Furcht vor Tadel und Rache der Genoſſen, der Furcht vor der
Strafgewalt der Mächtigen und Fürſten, der Furcht vor den Göttern. Es iſt, wie
H. Spencer ſagt, eine dreifache Kontrolle, unter welcher die menſchlichen Handlungen
ſtehen, ſo weit wir die Geſchichte zurück verfolgen können. Wir haben ſchon im bisherigen
Gelegenheit gehabt, ſie teilweiſe zu berühren, hauptſächlich bei Erörterung des An-
erkennungstriebes (S. 30) die Furcht vor der tadelnden Umgebung erwähnt.
Lange ehe die Gewalt des Häuptlings oder Königs entſteht, die Führung im
Kriege übernimmt, die Feigen beſtraft, die Tapferen belohnt, beſteht in der primitivſten
Geſellſchaft die Furcht vor Nichtanerkennung und Ausſchluß aus der Sippe und
dem Stamm, die Gefahr der rächenden Nemeſis von Verwandten, wenn ein Frevler
einen Stammesgenoſſen aus anderem Geſchlecht erſchlagen hat. Nicht im Widerſpruch
mit dem ſittlichen Werturteil, den Gefühlen der Sympathie und Vergeltung, ſondern
eben aus ihnen heraus wachſen die entſprechenden Übungen und Gepflogenheiten der
Blutrache, der Ausſtoßung, die dann wieder mit großer Macht auf die Einbildung und
die Gefühle zurückwirken. Vorſtellungen künftiger Schmerzen und künftiger Freude
werden ſo mit größtem Nachdruck vor die Seele geführt, daß ſie dauernd die einzelnen
und die Geſellſchaft beherrſchen.
Neben dieſe niemals verſchwindende, nur ſpäter in milderen Formen auftretende
Kontrolle der Nachbarn und Genoſſen tritt nun mit der Ausbildung einer öffentlichen
Gewalt, eines Häuptlings- und Königtums, eines kriegeriſchen Führertums die Macht
der Staatsgewalt. Es iſt zuerſt ein roher Despotismus, zuletzt eine feſt durch das Recht
umgrenzte oberſte, vielleicht ganz unperſönliche Befehlsbefugnis, die Vorſchriften erläßt
und ſtraft; immer ruht ſie auf Machtmitteln aller Art, kann den Widerſtrebenden
zwingen, einſperren, töten; der einzelne muß ſich ihr und ihren Geboten unterwerfen;
die ſtaatliche Zwangsgewalt mit ihrem Syſtem von Strafen und Zwangsmitteln, von
Auszeichnungen und Ehren wird gleichſam das feſte Rückgrat der Geſellſchaft; die Bürger
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/61>, abgerufen am 22.07.2024.
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