Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. Menschen übernommen; hoffte er doch mit ihr die bestehende Staats- und Wirtschafts-ordnung entzwei zu schlagen. Zunächst wurde aber nicht zu viel erreicht. In England waren Arbeitervereine seit dem 13. und 14. Jahrhundert, religiöse Man ist damit in den weitesten Kreisen der Gesellschaft, die immer dringlicher Wie liegen die Dinge nun heute? Die oberen Klassen sind, wie wir sahen, heute Dabei hat sich nun aber auch in den oberen Klassen trotz ihres Individualismus' Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Menſchen übernommen; hoffte er doch mit ihr die beſtehende Staats- und Wirtſchafts-ordnung entzwei zu ſchlagen. Zunächſt wurde aber nicht zu viel erreicht. In England waren Arbeitervereine ſeit dem 13. und 14. Jahrhundert, religiöſe Man iſt damit in den weiteſten Kreiſen der Geſellſchaft, die immer dringlicher Wie liegen die Dinge nun heute? Die oberen Klaſſen ſind, wie wir ſahen, heute Dabei hat ſich nun aber auch in den oberen Klaſſen trotz ihres Individualismus’ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0424" n="408"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> Menſchen übernommen; hoffte er doch mit ihr die beſtehende Staats- und Wirtſchafts-<lb/> ordnung entzwei zu ſchlagen. Zunächſt wurde aber nicht zu viel erreicht.</p><lb/> <p>In England waren Arbeitervereine ſeit dem 13. und 14. Jahrhundert, religiöſe<lb/> ſeit der Reformation verboten; alle Vereine wurden durch die Geſetze von 1795 und<lb/> 1817 in enge Schranken gewieſen, die Gewerkvereine haben in langſamen Schritten<lb/> 1795, 1825, 1872 und 1876 die Anerkennung unter beſtimmten Rechtsvorausſetzungen<lb/> bekommen. Frankreich hatte die Vereinsfreiheit 1789—1795. Das ſcharfe Geſetz gegen<lb/> die Vereine von 1834 gilt heute noch; nur die Verſammlungsfreiheit iſt 1881 erweitert<lb/> worden, und den Unterſtützungs- und Berufsvereinen (1884) iſt unter beſtimmten<lb/> Vorausſetzungen eine gewiſſe Freiheit der Bewegung gelaſſen. In Deutſchland hat nur<lb/> 1848—50 volle Vereinsfreiheit beſtanden; 1850 kamen in den wichtigſten Staaten ſehr<lb/> einſchränkende Geſetze; die Koalitionsfreiheit wurde 1869 konzediert, aber ohne ent-<lb/> ſprechende Vereinsfreiheit.</p><lb/> <p>Man iſt damit in den weiteſten Kreiſen der Geſellſchaft, die immer dringlicher<lb/> volle Vereins- und Verſammlungsfreiheit fordert, ebenſo unzufrieden, wie andererſeits<lb/> die Regierungen ſich ſpröde und zögernd gegenüber den Forderungen verhalten. Was iſt<lb/> davon zu halten? Iſt es richtig, daß die Negation des Vereinsrechtes bei den Römern,<lb/> bei den Staatsgewalten des 17.—18. Jahrhunderts, die Vorſicht der heutigen Regierung<lb/> nichts wäre als eine unbegreifliche Kette von falſcher Ängſtlichkeit und Bevormundungs-<lb/> ſucht? Ich glaube, der Unbefangene und hiſtoriſch Denkende wird nicht ſo urteilen.<lb/> Eine feſte, große, über den Parteien und Klaſſen ſtehende Staatsgewalt kann wohl in<lb/> beruhigten Zeiten, ohne ſtarke politiſche und ſociale Kämpfe, dulden, daß ſich die Klaſſen,<lb/> denn um ſie handelt es ſich vorzugsweiſe, in Vereinen organiſieren; aber ſobald große<lb/> Kämpfe drohen, iſt die Sache zweifelhaft. Gar leicht führt die vereinsmäßige Organi-<lb/> ſation der ſocialen Klaſſen in jeder bewegten Zeit zur Lahmlegung der Staatsgewalt.<lb/> Kaſtenweſen und Ständeſtaat waren die Folgen der freien Vereinsbildung und Klaſſen-<lb/> organiſation. Nur in ruhigen Zeiten kann eine ſtarke Staatsgewalt die weitgehendſte<lb/> Vereinsfreiheit einräumen, in bewegten müſſen die Vereine je nach ihrer Art, je nach<lb/> den ſocialen Klaſſen, um die es ſich handelt, wenigſtens gewiſſen Schranken im Geſamt-<lb/> intereſſe, im Intereſſe einer geſunden ſocialen Entwickelung unterworfen werden, natürlich<lb/> aber ſo, daß Rechtsgleichheit ſo weit als möglich herrſcht. Ein Klaſſenregiment der<lb/> oberen Stände, das für dieſe die Freiheit, für die unteren Klaſſen das Verbot aller<lb/> Vereine durchſetzt, iſt ſo verwerflich wie ein ſocialiſtiſches Regiment, das die Arbeiter<lb/> allein, aber nicht die übrigen Klaſſen ſich organiſieren läßt.</p><lb/> <p>Wie liegen die Dinge nun heute? Die oberen Klaſſen ſind, wie wir ſahen, heute<lb/> nicht ſo befähigt, ſich zu organiſieren wie die Arbeiter; dieſen iſt eine bündiſche, partei-<lb/> und klaſſenmäßige, gewerkſchaftliche, genoſſenſchaftliche Vereinigung trotz aller Verbote<lb/> und Einſchränkungen viel mehr gelungen. Das iſt den oberen Klaſſen unbequem, vielfach<lb/> auch den Regierungen und zwar um ſo mehr, als ſie von jenen Klaſſen beeinflußt oder<lb/> gar beherrſcht ſind. Man ſucht deshalb das freie Vereinsrecht, ſoweit es beſteht, ein-<lb/> ſchränkend gegenüber den Arbeitern zu interpretieren, ſoweit es nicht beſteht, ſeine Änderung<lb/> zu hindern.</p><lb/> <p>Dabei hat ſich nun aber auch in den oberen Klaſſen trotz ihres Individualismus’<lb/> in den letzten 30 Jahren eine Änderung vollzogen. Neue ſtändiſche Anſchauungen<lb/> erſtarken, ſuchen ſich in Sitte und Gewohnheit zu befeſtigen, beſtimmte Perſonen von<lb/> beſtimmten Berufen auszuſchließen. Die Arbeiterverbände haben Unternehmerverbände<lb/> erzeugt. In Handels-, Landwirtſchafts-, Handwerkerkammern, Syndikaten, Fabrikanten-<lb/> und anderen Verbänden ſchließen ſich die Unternehmer zuſammen oder werden von den<lb/> Regierungen vereinigt. Geht das ſo weiter, ſo werden die oberen Klaſſen bald ziemlich<lb/> weitgehend organiſiert ſein, ſo wird damit die Freiheit der Berufswahl und der Gewerbe<lb/> mehr oder weniger eingeſchränkt; die großen Erwerbs- und Aktiengeſellſchaften, die Ringe<lb/> und Kartelle werden eine Macht, hinter welcher beſtimmte Klaſſen ſtehen, welche zuletzt<lb/> die Regierung und die Volkswirtſchaft beherrſchen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [408/0424]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Menſchen übernommen; hoffte er doch mit ihr die beſtehende Staats- und Wirtſchafts-
ordnung entzwei zu ſchlagen. Zunächſt wurde aber nicht zu viel erreicht.
In England waren Arbeitervereine ſeit dem 13. und 14. Jahrhundert, religiöſe
ſeit der Reformation verboten; alle Vereine wurden durch die Geſetze von 1795 und
1817 in enge Schranken gewieſen, die Gewerkvereine haben in langſamen Schritten
1795, 1825, 1872 und 1876 die Anerkennung unter beſtimmten Rechtsvorausſetzungen
bekommen. Frankreich hatte die Vereinsfreiheit 1789—1795. Das ſcharfe Geſetz gegen
die Vereine von 1834 gilt heute noch; nur die Verſammlungsfreiheit iſt 1881 erweitert
worden, und den Unterſtützungs- und Berufsvereinen (1884) iſt unter beſtimmten
Vorausſetzungen eine gewiſſe Freiheit der Bewegung gelaſſen. In Deutſchland hat nur
1848—50 volle Vereinsfreiheit beſtanden; 1850 kamen in den wichtigſten Staaten ſehr
einſchränkende Geſetze; die Koalitionsfreiheit wurde 1869 konzediert, aber ohne ent-
ſprechende Vereinsfreiheit.
Man iſt damit in den weiteſten Kreiſen der Geſellſchaft, die immer dringlicher
volle Vereins- und Verſammlungsfreiheit fordert, ebenſo unzufrieden, wie andererſeits
die Regierungen ſich ſpröde und zögernd gegenüber den Forderungen verhalten. Was iſt
davon zu halten? Iſt es richtig, daß die Negation des Vereinsrechtes bei den Römern,
bei den Staatsgewalten des 17.—18. Jahrhunderts, die Vorſicht der heutigen Regierung
nichts wäre als eine unbegreifliche Kette von falſcher Ängſtlichkeit und Bevormundungs-
ſucht? Ich glaube, der Unbefangene und hiſtoriſch Denkende wird nicht ſo urteilen.
Eine feſte, große, über den Parteien und Klaſſen ſtehende Staatsgewalt kann wohl in
beruhigten Zeiten, ohne ſtarke politiſche und ſociale Kämpfe, dulden, daß ſich die Klaſſen,
denn um ſie handelt es ſich vorzugsweiſe, in Vereinen organiſieren; aber ſobald große
Kämpfe drohen, iſt die Sache zweifelhaft. Gar leicht führt die vereinsmäßige Organi-
ſation der ſocialen Klaſſen in jeder bewegten Zeit zur Lahmlegung der Staatsgewalt.
Kaſtenweſen und Ständeſtaat waren die Folgen der freien Vereinsbildung und Klaſſen-
organiſation. Nur in ruhigen Zeiten kann eine ſtarke Staatsgewalt die weitgehendſte
Vereinsfreiheit einräumen, in bewegten müſſen die Vereine je nach ihrer Art, je nach
den ſocialen Klaſſen, um die es ſich handelt, wenigſtens gewiſſen Schranken im Geſamt-
intereſſe, im Intereſſe einer geſunden ſocialen Entwickelung unterworfen werden, natürlich
aber ſo, daß Rechtsgleichheit ſo weit als möglich herrſcht. Ein Klaſſenregiment der
oberen Stände, das für dieſe die Freiheit, für die unteren Klaſſen das Verbot aller
Vereine durchſetzt, iſt ſo verwerflich wie ein ſocialiſtiſches Regiment, das die Arbeiter
allein, aber nicht die übrigen Klaſſen ſich organiſieren läßt.
Wie liegen die Dinge nun heute? Die oberen Klaſſen ſind, wie wir ſahen, heute
nicht ſo befähigt, ſich zu organiſieren wie die Arbeiter; dieſen iſt eine bündiſche, partei-
und klaſſenmäßige, gewerkſchaftliche, genoſſenſchaftliche Vereinigung trotz aller Verbote
und Einſchränkungen viel mehr gelungen. Das iſt den oberen Klaſſen unbequem, vielfach
auch den Regierungen und zwar um ſo mehr, als ſie von jenen Klaſſen beeinflußt oder
gar beherrſcht ſind. Man ſucht deshalb das freie Vereinsrecht, ſoweit es beſteht, ein-
ſchränkend gegenüber den Arbeitern zu interpretieren, ſoweit es nicht beſteht, ſeine Änderung
zu hindern.
Dabei hat ſich nun aber auch in den oberen Klaſſen trotz ihres Individualismus’
in den letzten 30 Jahren eine Änderung vollzogen. Neue ſtändiſche Anſchauungen
erſtarken, ſuchen ſich in Sitte und Gewohnheit zu befeſtigen, beſtimmte Perſonen von
beſtimmten Berufen auszuſchließen. Die Arbeiterverbände haben Unternehmerverbände
erzeugt. In Handels-, Landwirtſchafts-, Handwerkerkammern, Syndikaten, Fabrikanten-
und anderen Verbänden ſchließen ſich die Unternehmer zuſammen oder werden von den
Regierungen vereinigt. Geht das ſo weiter, ſo werden die oberen Klaſſen bald ziemlich
weitgehend organiſiert ſein, ſo wird damit die Freiheit der Berufswahl und der Gewerbe
mehr oder weniger eingeſchränkt; die großen Erwerbs- und Aktiengeſellſchaften, die Ringe
und Kartelle werden eine Macht, hinter welcher beſtimmte Klaſſen ſtehen, welche zuletzt
die Regierung und die Volkswirtſchaft beherrſchen.
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