Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die Ursachen des heutigen Großgrundbesitzes. Das neuere Grundeigentumsrecht. Die Grundeigentumsverteilung wird für den Aufbau der Gesellschaftsordnung in Immer aber ist die Grundeigentumsverteilung nicht allein ausschlaggebend. Die Ver- 127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der Und doch hat das private Grundeigentum so wenig in Westeuropa ganz gesiegt Eine Reihe von Schranken des privaten Grundeigentums sind in verschiedenen Die Urſachen des heutigen Großgrundbeſitzes. Das neuere Grundeigentumsrecht. Die Grundeigentumsverteilung wird für den Aufbau der Geſellſchaftsordnung in Immer aber iſt die Grundeigentumsverteilung nicht allein ausſchlaggebend. Die Ver- 127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der Und doch hat das private Grundeigentum ſo wenig in Weſteuropa ganz geſiegt Eine Reihe von Schranken des privaten Grundeigentums ſind in verſchiedenen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0393" n="377"/> <fw place="top" type="header">Die Urſachen des heutigen Großgrundbeſitzes. Das neuere Grundeigentumsrecht.</fw><lb/> <p>Die Grundeigentumsverteilung wird für den Aufbau der Geſellſchaftsordnung in<lb/> jedem Lande ein weſentlicher Faktor; ja ſie beeinflußt alle ſociale Klaſſenbildung, ihre<lb/> Färbung und ihre Diſtanzen; wo der größere Teil des Landes Bauern gehört, pflegt<lb/> auch der gewerbliche Mittelſtand, die kleine Stadt ſich anders zu erhalten als im Gebiete<lb/> des größeren Grundbeſitzes. Wo dieſer vorherrſcht, ſind die unteren Klaſſen ſtets tiefer<lb/> herabgedrückt als ſonſt. Wo noch 40—60 % aller Familienhäupter Grundbeſitzer ſind,<lb/> wie in den Gegenden des deutſchen Kleinbeſitzes, müſſen andere, mehr demokratiſch<lb/> gefärbte Zuſtände ſein als da, wo nur 5—20 % derſelben dieſen feſten Boden der<lb/> Unabhängigkeit unter ſich haben.</p><lb/> <p>Immer aber iſt die Grundeigentumsverteilung nicht allein ausſchlaggebend. Die Ver-<lb/> teilung des übrigen Eigentums wird mit ſteigender wirtſchaftlicher Kultur immer wichtiger.<lb/> Und zugleich hängen alle feineren und vielfach ausſchlaggebenden Folgen des großen<lb/> und kleinen Grundeigentums an den verſchiedenen geiſtigen, ſittlichen, techniſchen und<lb/> wirtſchaftlichen Eigenſchaften der Eigentümer und der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft.<lb/> Und dieſe Eigenſchaften gehen ſtets zugleich auf andere Urſachen als auf den Beſitz-<lb/> unterſchied zurück.</p><lb/> <p>127. <hi rendition="#g">Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der<lb/> heutigen Landpolitik</hi>. Gleichmäßig, ob großer, mittlerer oder kleiner Grundbeſitz<lb/> vorherrſche, hat die neuere Ideenentwickelung und das wirtſchaftlich techniſche Bedürfnis<lb/> in Europa überall auf eine Beſeitigung der alten Bindung des Grundeigentums durch<lb/> feudale, grundherrliche, familienhafte und dorfgenoſſenſchaftliche Schranken hingewirkt.<lb/> Die Geldwirtſchaft, der individuelle Erwerbsſinn, der ganze Zug des modernen Rechts-<lb/> lebens drängte ſeit 200 Jahren dahin. Überall hat die Geſetzgebung der neuen Zeit<lb/> es als ihr Ziel angeſehen, dem individuellen Eigentümer eine möglichſt weitgehende<lb/> und unbeſchränkte Veräußerungs-, Verſchuldungs-, Teilungs- und Zuſammenlegungs-<lb/> freiheit zu geben. Jedes gemeinſchaftliche Eigentum, jede Beſchränkung im Familien-<lb/> oder dorfgenoſſenſchaftlichen Intereſſe ſchien ihr ſchädlich. Sie knüpfte, und zwar zum<lb/> erheblichſten Teile mit Recht, die Hoffnung großer landwirtſchaftlicher Fortſchritte und<lb/> ſteigender Verwendung von Arbeit und Kapital auf den Grundbeſitz in erſter Linie an<lb/> ein rechtlich geſichertes, unbeſchränktes Grundeigentum. Durch gute Vermeſſung, Kartierung,<lb/> Eintragung aller Parzellen in die Grundbücher, durch Neuordnung des Hypotheken-<lb/> weſens im Sinne der Eintragung aller Hypotheken und ſonſtigen dinglichen Rechte ins<lb/> Grundbuch hat alles Grundeigentum in der That ſehr an rechtlicher Sicherheit gewonnen.<lb/> Die Übertragung von Grundeigentum und die Eintragung von Hypotheken iſt durch<lb/> die neueren Grundbuchordnungen außerordentlich erleichtert; man hat das eine Mobili-<lb/> ſierung des Grundbeſitzes genannt. Das frühere Gemeindeeigentum iſt vielfach an die<lb/> privaten Grundeigentümer der Gemeinde aufgeteilt; von dem Staatsbeſitz iſt ein großer<lb/> Teil an Private verkauft.</p><lb/> <p>Und doch hat das private Grundeigentum ſo wenig in Weſteuropa ganz geſiegt<lb/> wie die unbeſchränkte Freiheit desſelben. Die meiſten deutſchen Staaten wenigſtens<lb/> beſitzen noch große Forſten und Domänen, die ſüddeutſchen, ſchweizeriſchen, franzöſiſchen<lb/> Gemeinden haben noch erhebliche Allmenden. Freilich nutzen Staat und Gemeinden<lb/> ihre Forſten und ihr Grundeigentum nicht mehr wie früher, ſondern überwiegend als<lb/> privatwirtſchaftliche Rentenquelle, um ein fiskaliſches Einkommen zu erzielen.</p><lb/> <p>Eine Reihe von Schranken des privaten Grundeigentums ſind in verſchiedenen<lb/> Formen ſtehen geblieben. Es iſt für kein Land der Welt ganz wahr, was man oft<lb/> behauptet hat, daß die heutige Zeit das römiſche Mobilieneigentumsrecht ganz und<lb/> ohne Rückhalt auf das Grundeigentum angewendet habe. Und ſoweit eine unbeſchränkte<lb/> Freiheit des Grundeigentums unerwünſchte Folgen nach ſich zog, hat ſie bald zu rück-<lb/> läufigen Strömungen geführt. All’ zu raſch hat ſich gezeigt, daß ſie unter gewiſſen<lb/> Umſtänden zu übermäßiger Zerſplitterung und Zwergpacht einerſeits, zu Anhäufung des<lb/> Grundbeſitzes in wenigen Händen und Ueberſchuldung des Grundbeſitzes andererſeits<lb/> führe. Und ſo ſtehen wir heute mitten in einer großen theoretiſchen und praktiſchen<lb/> Bewegung, welche in ihrem Extrem die ganze heutige Grundeigentumsverfaſſung und<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [377/0393]
Die Urſachen des heutigen Großgrundbeſitzes. Das neuere Grundeigentumsrecht.
Die Grundeigentumsverteilung wird für den Aufbau der Geſellſchaftsordnung in
jedem Lande ein weſentlicher Faktor; ja ſie beeinflußt alle ſociale Klaſſenbildung, ihre
Färbung und ihre Diſtanzen; wo der größere Teil des Landes Bauern gehört, pflegt
auch der gewerbliche Mittelſtand, die kleine Stadt ſich anders zu erhalten als im Gebiete
des größeren Grundbeſitzes. Wo dieſer vorherrſcht, ſind die unteren Klaſſen ſtets tiefer
herabgedrückt als ſonſt. Wo noch 40—60 % aller Familienhäupter Grundbeſitzer ſind,
wie in den Gegenden des deutſchen Kleinbeſitzes, müſſen andere, mehr demokratiſch
gefärbte Zuſtände ſein als da, wo nur 5—20 % derſelben dieſen feſten Boden der
Unabhängigkeit unter ſich haben.
Immer aber iſt die Grundeigentumsverteilung nicht allein ausſchlaggebend. Die Ver-
teilung des übrigen Eigentums wird mit ſteigender wirtſchaftlicher Kultur immer wichtiger.
Und zugleich hängen alle feineren und vielfach ausſchlaggebenden Folgen des großen
und kleinen Grundeigentums an den verſchiedenen geiſtigen, ſittlichen, techniſchen und
wirtſchaftlichen Eigenſchaften der Eigentümer und der übrigen Klaſſen der Geſellſchaft.
Und dieſe Eigenſchaften gehen ſtets zugleich auf andere Urſachen als auf den Beſitz-
unterſchied zurück.
127. Das heutige Grundeigentumsrecht und die Richtungen der
heutigen Landpolitik. Gleichmäßig, ob großer, mittlerer oder kleiner Grundbeſitz
vorherrſche, hat die neuere Ideenentwickelung und das wirtſchaftlich techniſche Bedürfnis
in Europa überall auf eine Beſeitigung der alten Bindung des Grundeigentums durch
feudale, grundherrliche, familienhafte und dorfgenoſſenſchaftliche Schranken hingewirkt.
Die Geldwirtſchaft, der individuelle Erwerbsſinn, der ganze Zug des modernen Rechts-
lebens drängte ſeit 200 Jahren dahin. Überall hat die Geſetzgebung der neuen Zeit
es als ihr Ziel angeſehen, dem individuellen Eigentümer eine möglichſt weitgehende
und unbeſchränkte Veräußerungs-, Verſchuldungs-, Teilungs- und Zuſammenlegungs-
freiheit zu geben. Jedes gemeinſchaftliche Eigentum, jede Beſchränkung im Familien-
oder dorfgenoſſenſchaftlichen Intereſſe ſchien ihr ſchädlich. Sie knüpfte, und zwar zum
erheblichſten Teile mit Recht, die Hoffnung großer landwirtſchaftlicher Fortſchritte und
ſteigender Verwendung von Arbeit und Kapital auf den Grundbeſitz in erſter Linie an
ein rechtlich geſichertes, unbeſchränktes Grundeigentum. Durch gute Vermeſſung, Kartierung,
Eintragung aller Parzellen in die Grundbücher, durch Neuordnung des Hypotheken-
weſens im Sinne der Eintragung aller Hypotheken und ſonſtigen dinglichen Rechte ins
Grundbuch hat alles Grundeigentum in der That ſehr an rechtlicher Sicherheit gewonnen.
Die Übertragung von Grundeigentum und die Eintragung von Hypotheken iſt durch
die neueren Grundbuchordnungen außerordentlich erleichtert; man hat das eine Mobili-
ſierung des Grundbeſitzes genannt. Das frühere Gemeindeeigentum iſt vielfach an die
privaten Grundeigentümer der Gemeinde aufgeteilt; von dem Staatsbeſitz iſt ein großer
Teil an Private verkauft.
Und doch hat das private Grundeigentum ſo wenig in Weſteuropa ganz geſiegt
wie die unbeſchränkte Freiheit desſelben. Die meiſten deutſchen Staaten wenigſtens
beſitzen noch große Forſten und Domänen, die ſüddeutſchen, ſchweizeriſchen, franzöſiſchen
Gemeinden haben noch erhebliche Allmenden. Freilich nutzen Staat und Gemeinden
ihre Forſten und ihr Grundeigentum nicht mehr wie früher, ſondern überwiegend als
privatwirtſchaftliche Rentenquelle, um ein fiskaliſches Einkommen zu erzielen.
Eine Reihe von Schranken des privaten Grundeigentums ſind in verſchiedenen
Formen ſtehen geblieben. Es iſt für kein Land der Welt ganz wahr, was man oft
behauptet hat, daß die heutige Zeit das römiſche Mobilieneigentumsrecht ganz und
ohne Rückhalt auf das Grundeigentum angewendet habe. Und ſoweit eine unbeſchränkte
Freiheit des Grundeigentums unerwünſchte Folgen nach ſich zog, hat ſie bald zu rück-
läufigen Strömungen geführt. All’ zu raſch hat ſich gezeigt, daß ſie unter gewiſſen
Umſtänden zu übermäßiger Zerſplitterung und Zwergpacht einerſeits, zu Anhäufung des
Grundbeſitzes in wenigen Händen und Ueberſchuldung des Grundbeſitzes andererſeits
führe. Und ſo ſtehen wir heute mitten in einer großen theoretiſchen und praktiſchen
Bewegung, welche in ihrem Extrem die ganze heutige Grundeigentumsverfaſſung und
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