Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat sich bemüht, alle dieseErscheinungen auf Gemeinbedürfnisse, im Gegensatze zu den Individualbedürfnissen, zurückzuführen. So wenig solchen Versuchen ein gewisser wissenschaftlicher Wert abzusprechen ist, Eines bleibt immer wünschenswert: weder darf die öffentliche Wirtschaft die Eine zahlenmäßige, breitere und sichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent- Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſeErſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen, zurückzuführen. So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt, Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0338" n="322"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſe<lb/> Erſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen,<lb/> zurückzuführen.</p><lb/> <p>So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt,<lb/> ſo wenig können ſie doch praktiſch im einzelnen Falle entſcheiden. Es handelt ſich um<lb/> einen großen, langſamen Umbildungsprozeß, wie wir ſchon ſahen; dabei entſcheiden<lb/> neben den Principien und großen Urſachen viele kleine, unter denen die jeweiligen<lb/> Machtverhältniſſe der Regierungen, der Parteien und Klaſſen, die Fähigkeit und Integrität<lb/> des Beamtentums obenan ſtehen. Ein Staatseiſenbahnſyſtem iſt in einem gut regierten<lb/> monarchiſchen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenſo zu empfehlen wie in einem<lb/> Lande mit beſtechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentariſcher Patronage zu<lb/> widerraten.</p><lb/> <p>Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die<lb/> private, noch dieſe jene verſchlingen; ſie müſſen ſich die Wage halten, ſich gegenſeitig<lb/> korrigieren: keine dauernd ſegensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats-<lb/> finanz ohne entſprechende Fortſchritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine,<lb/> der Gemeinden und ſonſtigen Körperſchaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz<lb/> auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organiſation den Stempel ihrer gemein-<lb/> nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anſtalt wieder anderen unter<lb/> ihm ſtehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber iſt heute auch in unſerer Technik<lb/> und in unſerem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure ſtaatliche Rieſen-<lb/> maſchine Familie und Unternehmung abſorbierte. Sie ſind die einfacheren, natürlichen,<lb/> viel leichter herzuſtellenden, auf ſicherer wirkenden pſychologiſchen Motiven beruhenden<lb/> Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen ſocialen Apparate ebenſo gut und<lb/> billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha-<lb/> nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutſchland die Hälfte aller Menſchen<lb/> ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleiſch ſelbſt produzieren, wozu ſollen dieſe Produkte<lb/> den Umweg durch einen ſocialiſtiſchen Staatsapparat machen? Die Individuen, die<lb/> Familien, die kleineren und größeren Geſchäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für<lb/> einander arbeiten, werden heute wie in abſehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten<lb/> und Schattenſeiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zuſammenhange kommen,<lb/> die gewöhnlichen wirtſchaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenſtände her-<lb/> ſtellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich iſt, die wir<lb/> teilweiſe auch vom Auslande beziehen, alſo aus Händen, denen die Staatsgewalt die<lb/> Herſtellung nur abnehmen könnte, wenn ſie bereits zu einer Weltcentralſtaatsgewalt<lb/> geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigſte Teil<lb/> ſeines Inhalts und ſeines Strebens, ſeiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen,<lb/> wenn dieſe Alltagsbedürfniſſe und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen<lb/> wären. Die Mannigfaltigkeit und ſteigende Verſchiedenheit der ſocialen Organiſations-<lb/> formen, die ſtets das Zeichen höherer Kultur iſt, wäre durch die Monotonie der un-<lb/> geheuerlichen Staatswirtſchaft beſeitigt.</p><lb/> <p>Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent-<lb/> licher und privater Wirtſchaftsthätigkeit beſitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren<lb/> Maßſtab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells<lb/> führt aus, zu Anfang unſeres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritanniſchen<lb/> Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben<lb/> hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. ₤ [1815] angeſchwellt), heute machen<lb/> ſie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden ſie wohl auch heute<lb/> ein Sechſtel betragen. Das preußiſche Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis<lb/> 15 Milliarden Mark geſchätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuſchlag von 60 %<lb/> des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, alſo auch etwa ⅓—¼; mit Zufügung<lb/> aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte<lb/> wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen dieſe Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall<lb/> gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtſchaft.<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0338]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
werden können (z. B. Bibliotheken), übernehmen. Man hat ſich bemüht, alle dieſe
Erſcheinungen auf Gemeinbedürfniſſe, im Gegenſatze zu den Individualbedürfniſſen,
zurückzuführen.
So wenig ſolchen Verſuchen ein gewiſſer wiſſenſchaftlicher Wert abzuſprechen iſt,
ſo wenig können ſie doch praktiſch im einzelnen Falle entſcheiden. Es handelt ſich um
einen großen, langſamen Umbildungsprozeß, wie wir ſchon ſahen; dabei entſcheiden
neben den Principien und großen Urſachen viele kleine, unter denen die jeweiligen
Machtverhältniſſe der Regierungen, der Parteien und Klaſſen, die Fähigkeit und Integrität
des Beamtentums obenan ſtehen. Ein Staatseiſenbahnſyſtem iſt in einem gut regierten
monarchiſchen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenſo zu empfehlen wie in einem
Lande mit beſtechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentariſcher Patronage zu
widerraten.
Eines bleibt immer wünſchenswert: weder darf die öffentliche Wirtſchaft die
private, noch dieſe jene verſchlingen; ſie müſſen ſich die Wage halten, ſich gegenſeitig
korrigieren: keine dauernd ſegensreiche Steigerung der Staatsgewalt und der Staats-
finanz ohne entſprechende Fortſchritte der individuellen Freiheit, der Freiheit der Vereine,
der Gemeinden und ſonſtigen Körperſchaften. Mancherlei hat der Staat und die Finanz
auch nur vorübergehend übernommen, um einer Organiſation den Stempel ihrer gemein-
nützigen Ideen aufzudrücken; dann kann der Staat die Anſtalt wieder anderen unter
ihm ſtehenden Organen übergeben. Jedenfalls aber iſt heute auch in unſerer Technik
und in unſerem Verkehr kein Grund vorhanden, daß eine ungeheure ſtaatliche Rieſen-
maſchine Familie und Unternehmung abſorbierte. Sie ſind die einfacheren, natürlichen,
viel leichter herzuſtellenden, auf ſicherer wirkenden pſychologiſchen Motiven beruhenden
Organe. Jedes Bedürfnis, das mit einem einfachen ſocialen Apparate ebenſo gut und
billiger befriedigt werden kann, darf nicht einem großen und komplizierten, teureren Mecha-
nismus überliefert werden. Wenn heute noch in Deutſchland die Hälfte aller Menſchen
ihre Kartoffeln, ihr Brot, ihr Schweinefleiſch ſelbſt produzieren, wozu ſollen dieſe Produkte
den Umweg durch einen ſocialiſtiſchen Staatsapparat machen? Die Individuen, die
Familien, die kleineren und größeren Geſchäftsunternehmungen, die arbeitsteilig für
einander arbeiten, werden heute wie in abſehbarer Zukunft trotz der Unvollkommenheiten
und Schattenſeiten ihrer Produktion, auf die wir in anderem Zuſammenhange kommen,
die gewöhnlichen wirtſchaftlichen Thätigkeiten behalten, jene alltäglichen Gegenſtände her-
ſtellen, die jeder beurteilen kann, deren Dringlichkeit jedem gleich deutlich iſt, die wir
teilweiſe auch vom Auslande beziehen, alſo aus Händen, denen die Staatsgewalt die
Herſtellung nur abnehmen könnte, wenn ſie bereits zu einer Weltcentralſtaatsgewalt
geworden wäre. Dem Leben der Individuen und Familien wäre der wichtigſte Teil
ſeines Inhalts und ſeines Strebens, ſeiner Verantwortlichkeit und Freiheit genommen,
wenn dieſe Alltagsbedürfniſſe und ihre Befriedigung auf einen Staatsapparat übertragen
wären. Die Mannigfaltigkeit und ſteigende Verſchiedenheit der ſocialen Organiſations-
formen, die ſtets das Zeichen höherer Kultur iſt, wäre durch die Monotonie der un-
geheuerlichen Staatswirtſchaft beſeitigt.
Eine zahlenmäßige, breitere und ſichere Kenntnis über das Verhältnis von öffent-
licher und privater Wirtſchaftsthätigkeit beſitzen wir leider nicht. Aber einen ungefähren
Maßſtab dafür vermögen doch Zahlen wie die folgenden zu geben. David A. Wells
führt aus, zu Anfang unſeres Jahrhunderts hätten die Ausgaben der großbritanniſchen
Regierung ein Drittel des Nationaleinkommens betragen (die enormen Kriegsausgaben
hatten das Budget von 11 [1784] auf 116 Mill. ₤ [1815] angeſchwellt), heute machen
ſie ein Zwölftel aus. Mit den kommunalen Ausgaben werden ſie wohl auch heute
ein Sechſtel betragen. Das preußiſche Volkseinkommen wird gegenwärtig auf 12 bis
15 Milliarden Mark geſchätzt; die Regierung giebt 1900 (unter Zuſchlag von 60 %
des Reichsbudgets) 4,16 Milliarden Mark aus, alſo auch etwa ⅓—¼; mit Zufügung
aller anderen öffentlichen Haushalte, aller Kirchen-, Stiftungs-, gemeinnützigen Haushalte
wäre es noch mehr. Jedenfalls zeigen dieſe Zahlen die ungeheure, freilich nicht überall
gleich große Bedeutung der öffentlichen Haushalte, ihren Einfluß auf die Volkswirtſchaft.
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