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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Einleitung. Begriff. Psychologische und sittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
zügen ähnliche körperliche und seelische Eigenschaften haben. Je niedriger die Kultur
eines Stammes und Volkes, je weniger Klassen-, Bildungs- und andere Gegensätze in
ihm sind, je gleichere Lebensbedingungen alle beherrschen, desto homogener, unterschieds-
loser pflegen die Glieder einer Gemeinschaft in ihren Gefühlen, Interessen, Vorstellungen
und Sitten zu sein. Und wenn mit höherer Kultur, mit Klassen- und Bildungsgegen-
sätzen, mit Rassenunterschieden im selben Staate die persönliche Verschiedenheit wächst,
so bleiben doch gewisse wesentlich bestimmende Einflüsse für alle oder die meisten Menschen
einer socialen Gemeinschaft dieselben, und es wächst mit Sprache, Schrift und Litteratur,
mit dem ganzen geistigen Leben der einheitliche Strom der psychischen Beeinflussung,
der immer wieder, was social so wichtig ist, die zunehmende psychologische Rassen- und
die wirtschaftliche Vermögensverschiedenheit zu überwinden sucht. Und gerade damit
entstehen die für alles gesellschaftliche Leben so wichtigen einheitlichen Stimmungs- und
Bewußtseinskreise, welche wir als geistige Kollektivkräfte bezeichnen. Sie reichen so weit,
als die Einheit der Ursachen und der geistigen Strömungen und Kontakte.

Es müssen sich in der einfachsten und kleinsten, wie in der größten und kompli-
ziertesten Gesellschaft, je nach der Übereinstimmung der körperlichen und geistigen Eigen-
schaften, je nach Berührung und Verbindung und je nach der Stärke des psychophysischen
Apparates, der das geistige Leben vermittelt, kleinere und größere Kreise bilden, welche
durch ähnliche oder gleiche Gefühle, Interessen, Vorstellungen und Willensimpulse ver-
einigt sind, trotz aller Verschiedenheit im einzelnen. Die Kreise liegen teils in konzentrischen
Ringen übereinander, teils in excentrischen, sich schneidenden und berührenden neben-
einander. Sie sind in steter Bewegung und Umbildung begriffen, stellen Kollektiv-
kräfte dar, welche das sociale, wirtschaftliche, politische, litterarische, religiöse Leben be-
herrschen. Nicht einen objektiven, unabhängig von den einzelnen und über ihnen
waltenden, sie mystisch beherrschenden Volksgeist giebt es, wie die historische Rechtsschule
lehrte; ebenso wenig einen allgemeinen Willen, der in allem übereinstimmte, wie
Rousseau träumte. Aber es giebt in jedem Volke eine Reihe zusammengehöriger,
einander bedingender und nach einer gewissen Einheit drängender Bewußtseinskreise, die
man als Volksgeist bezeichnen kann. Auch mit dem Namen des objektiven Geistes
können wir die Gesamtheit dieser geistigen Massenzusammenhänge, die von den kleinsten
Kreisen der Familie und der Freundschaft hinaufreicht bis zur Menschheit, bildlich und
im Gegensatz zur Psyche der einzelnen benennen. Man muß ihn nur richtig verstehen,
sich erinnern, daß er nicht außerhalb der Individuen, sondern in ihnen lebt, daß jedes
Individuum mit einem größeren oder kleineren Teil seines Selbst Bestandteil mehrerer
oder vieler solcher Kreise, solcher Teile des objektiven Geistes ist.

Sie äußern sich nun als Gefühls-, Vorstellungs- und Willensübereinstimmung
und werden dadurch zu Kräften eigentümlicher Art. Ihre Wirksamkeit ist deshalb eine
so große, weil das Gefühl oder das Bewußtsein der Gemeinsamkeit jeden geistigen
Vorgang merkwürdig verstärkt und befestigt. Jedes Gefühl wird lebendiger durch das
Bewußtsein der Teilnahme anderer; jede Vorstellung im isolierten Individuum fühlt
sich schwach und kümmerlich; jeder Mut des Willens wächst durch den Erwerb von
einem oder wenigen Genossen. Je roher, je weniger kulturell entwickelt ein Mensch noch
ist, desto weniger kann er ertragen, allein mit einer Idee oder einem Plan zu stehen.
Was zehn glauben, nehmen leicht weitere hundert an. Was Hunderte glauben, wird
leicht ohne Prüfung das Losungswort für Tausende und Millionen. Die rechte
Autorität und die rechte Empfänglichkeit vorausgesetzt, ballen sich die geistigen Kollektiv-
kräfte lawinenartig zusammen. Die Übereinstimmung erzeugt Kräfte, welche die bloße
Summierung unendlich übertreffen. Die Mehrzahl der Menschen schließt sich, ohne
im einzelnen prüfen zu können, den Bewußtseinskreisen an, die für sie durch Abstammung,
Eltern, Freunde oder andere Autoritäten die gegebenen sind. Die Macht der Ideen
hängt wohl auf die Dauer von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit, vorübergehend stets
nur von der Zahl ihrer Bekenner ab.

Man hat den Vorgang auch durch einen Vergleich aus dem individuellen Seelen-
leben verdeutlicht. In der Seele jedes Menschen schlummern unzählige Vorstellungen,

Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode.
zügen ähnliche körperliche und ſeeliſche Eigenſchaften haben. Je niedriger die Kultur
eines Stammes und Volkes, je weniger Klaſſen-, Bildungs- und andere Gegenſätze in
ihm ſind, je gleichere Lebensbedingungen alle beherrſchen, deſto homogener, unterſchieds-
loſer pflegen die Glieder einer Gemeinſchaft in ihren Gefühlen, Intereſſen, Vorſtellungen
und Sitten zu ſein. Und wenn mit höherer Kultur, mit Klaſſen- und Bildungsgegen-
ſätzen, mit Raſſenunterſchieden im ſelben Staate die perſönliche Verſchiedenheit wächſt,
ſo bleiben doch gewiſſe weſentlich beſtimmende Einflüſſe für alle oder die meiſten Menſchen
einer ſocialen Gemeinſchaft dieſelben, und es wächſt mit Sprache, Schrift und Litteratur,
mit dem ganzen geiſtigen Leben der einheitliche Strom der pſychiſchen Beeinfluſſung,
der immer wieder, was ſocial ſo wichtig iſt, die zunehmende pſychologiſche Raſſen- und
die wirtſchaftliche Vermögensverſchiedenheit zu überwinden ſucht. Und gerade damit
entſtehen die für alles geſellſchaftliche Leben ſo wichtigen einheitlichen Stimmungs- und
Bewußtſeinskreiſe, welche wir als geiſtige Kollektivkräfte bezeichnen. Sie reichen ſo weit,
als die Einheit der Urſachen und der geiſtigen Strömungen und Kontakte.

Es müſſen ſich in der einfachſten und kleinſten, wie in der größten und kompli-
zierteſten Geſellſchaft, je nach der Übereinſtimmung der körperlichen und geiſtigen Eigen-
ſchaften, je nach Berührung und Verbindung und je nach der Stärke des pſychophyſiſchen
Apparates, der das geiſtige Leben vermittelt, kleinere und größere Kreiſe bilden, welche
durch ähnliche oder gleiche Gefühle, Intereſſen, Vorſtellungen und Willensimpulſe ver-
einigt ſind, trotz aller Verſchiedenheit im einzelnen. Die Kreiſe liegen teils in konzentriſchen
Ringen übereinander, teils in excentriſchen, ſich ſchneidenden und berührenden neben-
einander. Sie ſind in ſteter Bewegung und Umbildung begriffen, ſtellen Kollektiv-
kräfte dar, welche das ſociale, wirtſchaftliche, politiſche, litterariſche, religiöſe Leben be-
herrſchen. Nicht einen objektiven, unabhängig von den einzelnen und über ihnen
waltenden, ſie myſtiſch beherrſchenden Volksgeiſt giebt es, wie die hiſtoriſche Rechtsſchule
lehrte; ebenſo wenig einen allgemeinen Willen, der in allem übereinſtimmte, wie
Rouſſeau träumte. Aber es giebt in jedem Volke eine Reihe zuſammengehöriger,
einander bedingender und nach einer gewiſſen Einheit drängender Bewußtſeinskreiſe, die
man als Volksgeiſt bezeichnen kann. Auch mit dem Namen des objektiven Geiſtes
können wir die Geſamtheit dieſer geiſtigen Maſſenzuſammenhänge, die von den kleinſten
Kreiſen der Familie und der Freundſchaft hinaufreicht bis zur Menſchheit, bildlich und
im Gegenſatz zur Pſyche der einzelnen benennen. Man muß ihn nur richtig verſtehen,
ſich erinnern, daß er nicht außerhalb der Individuen, ſondern in ihnen lebt, daß jedes
Individuum mit einem größeren oder kleineren Teil ſeines Selbſt Beſtandteil mehrerer
oder vieler ſolcher Kreiſe, ſolcher Teile des objektiven Geiſtes iſt.

Sie äußern ſich nun als Gefühls-, Vorſtellungs- und Willensübereinſtimmung
und werden dadurch zu Kräften eigentümlicher Art. Ihre Wirkſamkeit iſt deshalb eine
ſo große, weil das Gefühl oder das Bewußtſein der Gemeinſamkeit jeden geiſtigen
Vorgang merkwürdig verſtärkt und befeſtigt. Jedes Gefühl wird lebendiger durch das
Bewußtſein der Teilnahme anderer; jede Vorſtellung im iſolierten Individuum fühlt
ſich ſchwach und kümmerlich; jeder Mut des Willens wächſt durch den Erwerb von
einem oder wenigen Genoſſen. Je roher, je weniger kulturell entwickelt ein Menſch noch
iſt, deſto weniger kann er ertragen, allein mit einer Idee oder einem Plan zu ſtehen.
Was zehn glauben, nehmen leicht weitere hundert an. Was Hunderte glauben, wird
leicht ohne Prüfung das Loſungswort für Tauſende und Millionen. Die rechte
Autorität und die rechte Empfänglichkeit vorausgeſetzt, ballen ſich die geiſtigen Kollektiv-
kräfte lawinenartig zuſammen. Die Übereinſtimmung erzeugt Kräfte, welche die bloße
Summierung unendlich übertreffen. Die Mehrzahl der Menſchen ſchließt ſich, ohne
im einzelnen prüfen zu können, den Bewußtſeinskreiſen an, die für ſie durch Abſtammung,
Eltern, Freunde oder andere Autoritäten die gegebenen ſind. Die Macht der Ideen
hängt wohl auf die Dauer von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit, vorübergehend ſtets
nur von der Zahl ihrer Bekenner ab.

Man hat den Vorgang auch durch einen Vergleich aus dem individuellen Seelen-
leben verdeutlicht. In der Seele jedes Menſchen ſchlummern unzählige Vorſtellungen,

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[16/0032] Einleitung. Begriff. Pſychologiſche und ſittliche Grundlage. Litteratur und Methode. zügen ähnliche körperliche und ſeeliſche Eigenſchaften haben. Je niedriger die Kultur eines Stammes und Volkes, je weniger Klaſſen-, Bildungs- und andere Gegenſätze in ihm ſind, je gleichere Lebensbedingungen alle beherrſchen, deſto homogener, unterſchieds- loſer pflegen die Glieder einer Gemeinſchaft in ihren Gefühlen, Intereſſen, Vorſtellungen und Sitten zu ſein. Und wenn mit höherer Kultur, mit Klaſſen- und Bildungsgegen- ſätzen, mit Raſſenunterſchieden im ſelben Staate die perſönliche Verſchiedenheit wächſt, ſo bleiben doch gewiſſe weſentlich beſtimmende Einflüſſe für alle oder die meiſten Menſchen einer ſocialen Gemeinſchaft dieſelben, und es wächſt mit Sprache, Schrift und Litteratur, mit dem ganzen geiſtigen Leben der einheitliche Strom der pſychiſchen Beeinfluſſung, der immer wieder, was ſocial ſo wichtig iſt, die zunehmende pſychologiſche Raſſen- und die wirtſchaftliche Vermögensverſchiedenheit zu überwinden ſucht. Und gerade damit entſtehen die für alles geſellſchaftliche Leben ſo wichtigen einheitlichen Stimmungs- und Bewußtſeinskreiſe, welche wir als geiſtige Kollektivkräfte bezeichnen. Sie reichen ſo weit, als die Einheit der Urſachen und der geiſtigen Strömungen und Kontakte. Es müſſen ſich in der einfachſten und kleinſten, wie in der größten und kompli- zierteſten Geſellſchaft, je nach der Übereinſtimmung der körperlichen und geiſtigen Eigen- ſchaften, je nach Berührung und Verbindung und je nach der Stärke des pſychophyſiſchen Apparates, der das geiſtige Leben vermittelt, kleinere und größere Kreiſe bilden, welche durch ähnliche oder gleiche Gefühle, Intereſſen, Vorſtellungen und Willensimpulſe ver- einigt ſind, trotz aller Verſchiedenheit im einzelnen. Die Kreiſe liegen teils in konzentriſchen Ringen übereinander, teils in excentriſchen, ſich ſchneidenden und berührenden neben- einander. Sie ſind in ſteter Bewegung und Umbildung begriffen, ſtellen Kollektiv- kräfte dar, welche das ſociale, wirtſchaftliche, politiſche, litterariſche, religiöſe Leben be- herrſchen. Nicht einen objektiven, unabhängig von den einzelnen und über ihnen waltenden, ſie myſtiſch beherrſchenden Volksgeiſt giebt es, wie die hiſtoriſche Rechtsſchule lehrte; ebenſo wenig einen allgemeinen Willen, der in allem übereinſtimmte, wie Rouſſeau träumte. Aber es giebt in jedem Volke eine Reihe zuſammengehöriger, einander bedingender und nach einer gewiſſen Einheit drängender Bewußtſeinskreiſe, die man als Volksgeiſt bezeichnen kann. Auch mit dem Namen des objektiven Geiſtes können wir die Geſamtheit dieſer geiſtigen Maſſenzuſammenhänge, die von den kleinſten Kreiſen der Familie und der Freundſchaft hinaufreicht bis zur Menſchheit, bildlich und im Gegenſatz zur Pſyche der einzelnen benennen. Man muß ihn nur richtig verſtehen, ſich erinnern, daß er nicht außerhalb der Individuen, ſondern in ihnen lebt, daß jedes Individuum mit einem größeren oder kleineren Teil ſeines Selbſt Beſtandteil mehrerer oder vieler ſolcher Kreiſe, ſolcher Teile des objektiven Geiſtes iſt. Sie äußern ſich nun als Gefühls-, Vorſtellungs- und Willensübereinſtimmung und werden dadurch zu Kräften eigentümlicher Art. Ihre Wirkſamkeit iſt deshalb eine ſo große, weil das Gefühl oder das Bewußtſein der Gemeinſamkeit jeden geiſtigen Vorgang merkwürdig verſtärkt und befeſtigt. Jedes Gefühl wird lebendiger durch das Bewußtſein der Teilnahme anderer; jede Vorſtellung im iſolierten Individuum fühlt ſich ſchwach und kümmerlich; jeder Mut des Willens wächſt durch den Erwerb von einem oder wenigen Genoſſen. Je roher, je weniger kulturell entwickelt ein Menſch noch iſt, deſto weniger kann er ertragen, allein mit einer Idee oder einem Plan zu ſtehen. Was zehn glauben, nehmen leicht weitere hundert an. Was Hunderte glauben, wird leicht ohne Prüfung das Loſungswort für Tauſende und Millionen. Die rechte Autorität und die rechte Empfänglichkeit vorausgeſetzt, ballen ſich die geiſtigen Kollektiv- kräfte lawinenartig zuſammen. Die Übereinſtimmung erzeugt Kräfte, welche die bloße Summierung unendlich übertreffen. Die Mehrzahl der Menſchen ſchließt ſich, ohne im einzelnen prüfen zu können, den Bewußtſeinskreiſen an, die für ſie durch Abſtammung, Eltern, Freunde oder andere Autoritäten die gegebenen ſind. Die Macht der Ideen hängt wohl auf die Dauer von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit, vorübergehend ſtets nur von der Zahl ihrer Bekenner ab. Man hat den Vorgang auch durch einen Vergleich aus dem individuellen Seelen- leben verdeutlicht. In der Seele jedes Menſchen ſchlummern unzählige Vorſtellungen,

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/32>, abgerufen am 28.03.2024.