Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. 14. und 15. Jahrhundert vielfach schon eine drückende. Die Vorwürfe, daß die Stadträteund die Zunftmeister ihre Taschen füllen, hören nicht auf. Aber im ganzen überwiegt der Gemeinsinn und das Gesamtinteresse so stark, ist die Ehrlichkeit so weit vorhanden, daß der Rat nicht nur eine weitgehende Korporationswirtschaft führen konnte, sondern daß er auch in einer Weise, die wir mit unseren Vorstellungen über Freiheit der Person, der Familie und der privaten Geschäfte ganz unverträglich finden würden, alles wirt- schaftliche Leben und Treiben in der Stadt durch Markt- und Polizei-, durch Zunft- und Gildeordnungen, durch Luxus- und Kleiderordnungen, durch Preistaxen und Waren- schau im Gesamtinteresse zu leiten und zu regulieren vermochte. Nur wenn man sich zugleich der kleinen und einfachen Verhältnisse erinnert, um die es sich doch damals handelte, wenn man bedenkt, wie viel geringer der Individualismus und der Erwerbs- trieb, der Gegensatz der Klassen entwickelt, wie stark der kirchliche und Gemeingeist war, begreift man die damalige städtische Wirtschafts- und Finanzorganisation. In gewisser Weise hat auch die heutige Orts- und Einwohnergemeinde noch einen ähnlichen Charakter, obwohl sie in den Großstädten viel mehr Menschen umfaßt, ihre einzelnen Elemente viel loser und selbständiger nebeneinander stehen, die Funktionen des Stadtrates teilweise auf Staat, Provinz, Großunternehmung, Handelskammern, Kartelle übergegangen sind. Daß alle Städte mit dieser alten stadtwirtschaftlichen Verfassung geblüht hätten, Diese Blüte war meist erkauft durch einen harten Egoismus nach außen, durch 106. Die Ausbildung der Territorial- und Volkswirtschaft und Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. 14. und 15. Jahrhundert vielfach ſchon eine drückende. Die Vorwürfe, daß die Stadträteund die Zunftmeiſter ihre Taſchen füllen, hören nicht auf. Aber im ganzen überwiegt der Gemeinſinn und das Geſamtintereſſe ſo ſtark, iſt die Ehrlichkeit ſo weit vorhanden, daß der Rat nicht nur eine weitgehende Korporationswirtſchaft führen konnte, ſondern daß er auch in einer Weiſe, die wir mit unſeren Vorſtellungen über Freiheit der Perſon, der Familie und der privaten Geſchäfte ganz unverträglich finden würden, alles wirt- ſchaftliche Leben und Treiben in der Stadt durch Markt- und Polizei-, durch Zunft- und Gildeordnungen, durch Luxus- und Kleiderordnungen, durch Preistaxen und Waren- ſchau im Geſamtintereſſe zu leiten und zu regulieren vermochte. Nur wenn man ſich zugleich der kleinen und einfachen Verhältniſſe erinnert, um die es ſich doch damals handelte, wenn man bedenkt, wie viel geringer der Individualismus und der Erwerbs- trieb, der Gegenſatz der Klaſſen entwickelt, wie ſtark der kirchliche und Gemeingeiſt war, begreift man die damalige ſtädtiſche Wirtſchafts- und Finanzorganiſation. In gewiſſer Weiſe hat auch die heutige Orts- und Einwohnergemeinde noch einen ähnlichen Charakter, obwohl ſie in den Großſtädten viel mehr Menſchen umfaßt, ihre einzelnen Elemente viel loſer und ſelbſtändiger nebeneinander ſtehen, die Funktionen des Stadtrates teilweiſe auf Staat, Provinz, Großunternehmung, Handelskammern, Kartelle übergegangen ſind. Daß alle Städte mit dieſer alten ſtadtwirtſchaftlichen Verfaſſung geblüht hätten, Dieſe Blüte war meiſt erkauft durch einen harten Egoismus nach außen, durch 106. Die Ausbildung der Territorial- und Volkswirtſchaft und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0314" n="298"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> 14. und 15. Jahrhundert vielfach ſchon eine drückende. Die Vorwürfe, daß die Stadträte<lb/> und die Zunftmeiſter ihre Taſchen füllen, hören nicht auf. 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Die Zeit dieſer Blüte fällt in die Epoche, da ein lokaler Kundenverkehr den<lb/> volkswirtſchaftlichen Fortſchritt der Zeit über Eigenwirtſchaft und rein agrariſche Zuſtände<lb/> hinaus darſtellte, da große weitere Fortſchritte techniſch und verkehrsmäßig nicht möglich<lb/> waren, da die Grundherrſchaft und die Kirche, letztere als Pflegerin mancher Zweige des<lb/> ſittlichen Gemeinſchaftslebens, ſchon ihre Blütezeit überſchritten hatten, der moderne Staat<lb/> mit ſeinen hohen und weiter ausgreifenden Funktionen erſt in der Bildung begriffen war.</p><lb/> <p>Dieſe Blüte war meiſt erkauft durch einen harten Egoismus nach außen, durch<lb/> eine gewiſſe Ausbeutung des platten Landes, oft auch der kleinen Nachbarſtädte; ſie<lb/> endete vielfach nur zu raſch in der Verknöcherung der Stadtverfaſſung, in einer Oligarchie<lb/> des Patriciates und der Zunftmeiſter, in einem engherzigen Lokalegoismus, der die<lb/> großen Aufgaben einer neuen Zeit nicht verſtand, in einem anarchiſchen ſchädlichen<lb/> Kampfe zwiſchen Stadt und Land, Hauptſtadt und Landſtadt, zwiſchen Handels- und<lb/> Agrarintereſſen. Wo die Landesherrſchaft ſich ausbildete und mit ihren Grenzen und<lb/> Einrichtungen bis an die Thore der Stadt vorrückte, da waren die Städte (wie z. B.<lb/> Regensburg und Augsburg von 1600—1800) zum gänzlichen wirtſchaftlichen Stillſtand<lb/> für Generationen verdammt. Das neue wirtſchaftliche und gewerbliche Leben mußte<lb/> ſeit dem 16.—18. Jahrhundert vielfach außerhalb der alten Städte, auf dem Lande<lb/> oder in den fürſtlichen Reſidenzen ſich anſetzen. Die Sonderrechte der Städte, ihre<lb/> Privilegien und Monopole waren ein Anachronismus geworden, ſeit nicht mehr die<lb/> abſichtliche Städte- und Marktſchaffung das erſte Bedürfnis des volkswirtſchaftlichen<lb/> Fortſchrittes waren. Erſt als Glieder des Staates, unter dem gemeinen gleichen Rechte<lb/> desſelben, als vom Staate beherrſchte und durch ſtaatliches Geſetz geordnete Selbſt-<lb/> verwaltungskörper konnten die Städte in den letzten zwei Jahrhunderten einer neuen<lb/> wirtſchaftlichen und finanziellen Blüte entgegen gehen. Die Territorien und Staaten<lb/> aber kamen empor, indem ſie analoge Inſtitutionen, aber angewandt auf das Wirt-<lb/> ſchaftsleben größerer Gebiete, einführten, das Vorbild der ſtädtiſchen Wirtſchaftspolitik<lb/> nachahmten.</p><lb/> <p>106. <hi rendition="#g">Die Ausbildung der Territorial- und Volkswirtſchaft und<lb/> des Staatshaushaltes</hi>. Dorf, Grundherrſchaft und Stadt waren Gebietskörper-<lb/> ſchaften mäßigen Umfanges, mit einer Zahl Familien und Menſchen, die ſich perſönlich<lb/> meiſt kannten, deren Nachbarſchafts- und ſympathiſche Beziehungen auch, ſoweit eine<lb/> Klaſſen- und Beſitzdifferenzierung, eine Ausbildung des individuellen egoiſtiſchen Er-<lb/> werbstriebes begonnen hatte, die Entſtehung und Erhaltung gemeinſamer Wirtſchafts-<lb/> einrichtungen erleichtert hatten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [298/0314]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
14. und 15. Jahrhundert vielfach ſchon eine drückende. Die Vorwürfe, daß die Stadträte
und die Zunftmeiſter ihre Taſchen füllen, hören nicht auf. Aber im ganzen überwiegt
der Gemeinſinn und das Geſamtintereſſe ſo ſtark, iſt die Ehrlichkeit ſo weit vorhanden,
daß der Rat nicht nur eine weitgehende Korporationswirtſchaft führen konnte, ſondern
daß er auch in einer Weiſe, die wir mit unſeren Vorſtellungen über Freiheit der Perſon,
der Familie und der privaten Geſchäfte ganz unverträglich finden würden, alles wirt-
ſchaftliche Leben und Treiben in der Stadt durch Markt- und Polizei-, durch Zunft-
und Gildeordnungen, durch Luxus- und Kleiderordnungen, durch Preistaxen und Waren-
ſchau im Geſamtintereſſe zu leiten und zu regulieren vermochte. Nur wenn man ſich
zugleich der kleinen und einfachen Verhältniſſe erinnert, um die es ſich doch damals
handelte, wenn man bedenkt, wie viel geringer der Individualismus und der Erwerbs-
trieb, der Gegenſatz der Klaſſen entwickelt, wie ſtark der kirchliche und Gemeingeiſt war,
begreift man die damalige ſtädtiſche Wirtſchafts- und Finanzorganiſation. In gewiſſer
Weiſe hat auch die heutige Orts- und Einwohnergemeinde noch einen ähnlichen Charakter,
obwohl ſie in den Großſtädten viel mehr Menſchen umfaßt, ihre einzelnen Elemente viel
loſer und ſelbſtändiger nebeneinander ſtehen, die Funktionen des Stadtrates teilweiſe
auf Staat, Provinz, Großunternehmung, Handelskammern, Kartelle übergegangen ſind.
Daß alle Städte mit dieſer alten ſtadtwirtſchaftlichen Verfaſſung geblüht hätten,
iſt natürlich eine falſche Vorſtellung. Nur die beſtverwalteten, günſtig gelegenen haben
zeitweiſe einen großen wirtſchaftlichen Aufſchwung und eine längere Epoche der Blüte
erlebt. Die Zeit dieſer Blüte fällt in die Epoche, da ein lokaler Kundenverkehr den
volkswirtſchaftlichen Fortſchritt der Zeit über Eigenwirtſchaft und rein agrariſche Zuſtände
hinaus darſtellte, da große weitere Fortſchritte techniſch und verkehrsmäßig nicht möglich
waren, da die Grundherrſchaft und die Kirche, letztere als Pflegerin mancher Zweige des
ſittlichen Gemeinſchaftslebens, ſchon ihre Blütezeit überſchritten hatten, der moderne Staat
mit ſeinen hohen und weiter ausgreifenden Funktionen erſt in der Bildung begriffen war.
Dieſe Blüte war meiſt erkauft durch einen harten Egoismus nach außen, durch
eine gewiſſe Ausbeutung des platten Landes, oft auch der kleinen Nachbarſtädte; ſie
endete vielfach nur zu raſch in der Verknöcherung der Stadtverfaſſung, in einer Oligarchie
des Patriciates und der Zunftmeiſter, in einem engherzigen Lokalegoismus, der die
großen Aufgaben einer neuen Zeit nicht verſtand, in einem anarchiſchen ſchädlichen
Kampfe zwiſchen Stadt und Land, Hauptſtadt und Landſtadt, zwiſchen Handels- und
Agrarintereſſen. Wo die Landesherrſchaft ſich ausbildete und mit ihren Grenzen und
Einrichtungen bis an die Thore der Stadt vorrückte, da waren die Städte (wie z. B.
Regensburg und Augsburg von 1600—1800) zum gänzlichen wirtſchaftlichen Stillſtand
für Generationen verdammt. Das neue wirtſchaftliche und gewerbliche Leben mußte
ſeit dem 16.—18. Jahrhundert vielfach außerhalb der alten Städte, auf dem Lande
oder in den fürſtlichen Reſidenzen ſich anſetzen. Die Sonderrechte der Städte, ihre
Privilegien und Monopole waren ein Anachronismus geworden, ſeit nicht mehr die
abſichtliche Städte- und Marktſchaffung das erſte Bedürfnis des volkswirtſchaftlichen
Fortſchrittes waren. Erſt als Glieder des Staates, unter dem gemeinen gleichen Rechte
desſelben, als vom Staate beherrſchte und durch ſtaatliches Geſetz geordnete Selbſt-
verwaltungskörper konnten die Städte in den letzten zwei Jahrhunderten einer neuen
wirtſchaftlichen und finanziellen Blüte entgegen gehen. Die Territorien und Staaten
aber kamen empor, indem ſie analoge Inſtitutionen, aber angewandt auf das Wirt-
ſchaftsleben größerer Gebiete, einführten, das Vorbild der ſtädtiſchen Wirtſchaftspolitik
nachahmten.
106. Die Ausbildung der Territorial- und Volkswirtſchaft und
des Staatshaushaltes. Dorf, Grundherrſchaft und Stadt waren Gebietskörper-
ſchaften mäßigen Umfanges, mit einer Zahl Familien und Menſchen, die ſich perſönlich
meiſt kannten, deren Nachbarſchafts- und ſympathiſche Beziehungen auch, ſoweit eine
Klaſſen- und Beſitzdifferenzierung, eine Ausbildung des individuellen egoiſtiſchen Er-
werbstriebes begonnen hatte, die Entſtehung und Erhaltung gemeinſamer Wirtſchafts-
einrichtungen erleichtert hatten.
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