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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
die Städte, siedelten sich auf dem Lande zerstreut an. Auch in Gallien geschah dies
zunächst überwiegend. Nur die Burgundionen bequemten sich früher zum Bewohnen
der "Burgen", und in Italien haben Goten und Longobarden sich wohl noch rascher
in eine städtische Aristokratie als Nachfolger der römischen Possessoren umgewandelt.
So konnte das karolingische Reich in Italien und südlich der Loire manche Städte
zählen, die direkt an die antiken anschließen; auch in England bricht die romanische
Stadtentwickelung nicht ganz ab; am Rhein erheben sich bald wieder Köln, Mainz und
Straßburg, letzteres wird gegen 800 als civitas populosa bezeichnet. Aber im eigent-
lichen Deutschland fehlte es noch gegen 900 vollständig an Städten. Was es giebt,
sind ummauerte Pfalzen, Bischofssitze und Klöster. Im 10. Jahrhundert wird König
Heinrich als Städtebauer gepriesen, d. h. er baute Grenzkastelle gegen die Magyaren.
Es wurde von da an die Umwallung der Bischofssitze systematisch gefördert, und ebenso
haben die energischeren Könige den Festungsbau überhaupt betrieben, da und dort sogenannte
urbes regales mit Wall und Graben geschaffen; ihre Einwohner wurden als milites
agrarii
bezeichnet. Aber es blieben diese Orte doch mehr befestigte Dörfer als Städte,
und sie waren nicht sehr zahlreich. Sie versahen für gewisse bedrohte Gebiete die Stelle
eines Zufluchtsortes, welche für die Stämme und Völker früher befestigte Berge und
Burgwälle, im Altertum die Städte gespielt hatten. Daher findet man auch viele
Spuren, daß die ländlichen Umwohner am Bau helfen mußten.

Die Marktverleihungen an Bischöfe und Klöster vom 9.--11. Jahrhundert deuten
auf eine gewisse Hebung des Verkehrs an den periodisch stattfindenden Jahrmärkten
hin; aber wie es heute noch im Orient Markt- und Messeplätze giebt, wo einmal im
Jahre sich Tausende versammeln, ohne daß eine Stadt entsteht, so war es auch damals
noch lange mit den meisten von der öffentlichen Gewalt oder der Kirche eingerichteten
Märkten.

Die Ausbildung einer kriegerisch organisierten Naturalverwaltung der großen
Grundherrschaften führte im 10.--12. Jahrhundert vor allem zu einem planvollen
Burgenbau, zu einem System befestigter Fronhöfe, die aber schon ihrer Lage nach nur
zum kleineren Teil Mittelpunkte späterer Städte werden konnten. Wie die Reichstage
auf freiem Felde vor den Thoren der Bischofssitze Augsburg, Worms etc. gehalten wurden,
so konnte Tribur 21/2 Jahrhunderte Mittelpunkt der deutschen Reichsverwaltung sein,
ohne zur Stadt zu werden. (Nitzsch.)

In Italien, Frankreich, Belgien, ja sogar in England kam es durch die Reste
antiker städtischer Kultur und durch günstige Verkehrslage mancher Orte schon im 11.
und 12. Jahrhunderte wieder zu einem lebendigen städtischen Leben. Nach der Zu-
sammenstellung, welche Gneist auf Grund von Merewether macht, gehören von 275
englischen Städten der Zeit bis 1199 96, der von 1199--1307 101, der von 1307 bis
1399 47, der von 1399--1649 32 an. In Deutschland wuchsen fast nur die Rhein-
und Donaustädte im Laufe des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts kräftig empor; die
Marktpolitik der Bischöfe hob den Verkehr; Weinhandel und Schiffahrt, die Anfänge
des Handels und des Gewerbes förderten die Ansammlung etwas zahlreicherer Bevölke-
rung in und vor den Mauern. Aber neben Regensburg ist nur Köln durch seinen
Verkehr den Rhein hinab und über See gegen 1200 schon eine erhebliche Stadt. Freilich
schon 900 Familien nannte man damals eine "ingens civitas". Und der ganze Schwer-
punkt städtischer Entwickelung liegt für Deutschland doch erst am Ende des 12. und im
13. Jahrhundert; nicht vor dieser Zeit fällt der Begriff der Marktstatt und der der
Stadt überhaupt zusammen; es entsteht die bis heute gültige Bezeichnung: Stadt. Die
Städtebildung dauert im 14. Jahrhundert hauptsächlich im Osten Deutschlands fort und
klingt im 15. aus. Von da an sind wenig neue deutsche Städte mehr, und diese erst
vereinzelt im 18. Jahrhundert, häufiger mit der großen wirtschaftlichen Entwickelung
der letzten Menschenalter entstanden. Als Beweis seien folgende Zahlen angeführt, die
nach Genglers Cod. jur. municipalis berechnet sind: je nach der ersten Urkunde oder
ersten Erwähnung des die Buchstaben A bis Du, d. h. 280 deutsche Städte umfassenden
Verzeichnisses fallen in die Zeit vor 1000 12 Städte, ins 11. Jahrhundert 4, ins 12.

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
die Städte, ſiedelten ſich auf dem Lande zerſtreut an. Auch in Gallien geſchah dies
zunächſt überwiegend. Nur die Burgundionen bequemten ſich früher zum Bewohnen
der „Burgen“, und in Italien haben Goten und Longobarden ſich wohl noch raſcher
in eine ſtädtiſche Ariſtokratie als Nachfolger der römiſchen Poſſeſſoren umgewandelt.
So konnte das karolingiſche Reich in Italien und ſüdlich der Loire manche Städte
zählen, die direkt an die antiken anſchließen; auch in England bricht die romaniſche
Stadtentwickelung nicht ganz ab; am Rhein erheben ſich bald wieder Köln, Mainz und
Straßburg, letzteres wird gegen 800 als civitas populosa bezeichnet. Aber im eigent-
lichen Deutſchland fehlte es noch gegen 900 vollſtändig an Städten. Was es giebt,
ſind ummauerte Pfalzen, Biſchofsſitze und Klöſter. Im 10. Jahrhundert wird König
Heinrich als Städtebauer geprieſen, d. h. er baute Grenzkaſtelle gegen die Magyaren.
Es wurde von da an die Umwallung der Biſchofsſitze ſyſtematiſch gefördert, und ebenſo
haben die energiſcheren Könige den Feſtungsbau überhaupt betrieben, da und dort ſogenannte
urbes regales mit Wall und Graben geſchaffen; ihre Einwohner wurden als milites
agrarii
bezeichnet. Aber es blieben dieſe Orte doch mehr befeſtigte Dörfer als Städte,
und ſie waren nicht ſehr zahlreich. Sie verſahen für gewiſſe bedrohte Gebiete die Stelle
eines Zufluchtsortes, welche für die Stämme und Völker früher befeſtigte Berge und
Burgwälle, im Altertum die Städte geſpielt hatten. Daher findet man auch viele
Spuren, daß die ländlichen Umwohner am Bau helfen mußten.

Die Marktverleihungen an Biſchöfe und Klöſter vom 9.—11. Jahrhundert deuten
auf eine gewiſſe Hebung des Verkehrs an den periodiſch ſtattfindenden Jahrmärkten
hin; aber wie es heute noch im Orient Markt- und Meſſeplätze giebt, wo einmal im
Jahre ſich Tauſende verſammeln, ohne daß eine Stadt entſteht, ſo war es auch damals
noch lange mit den meiſten von der öffentlichen Gewalt oder der Kirche eingerichteten
Märkten.

Die Ausbildung einer kriegeriſch organiſierten Naturalverwaltung der großen
Grundherrſchaften führte im 10.—12. Jahrhundert vor allem zu einem planvollen
Burgenbau, zu einem Syſtem befeſtigter Fronhöfe, die aber ſchon ihrer Lage nach nur
zum kleineren Teil Mittelpunkte ſpäterer Städte werden konnten. Wie die Reichstage
auf freiem Felde vor den Thoren der Biſchofsſitze Augsburg, Worms ꝛc. gehalten wurden,
ſo konnte Tribur 2½ Jahrhunderte Mittelpunkt der deutſchen Reichsverwaltung ſein,
ohne zur Stadt zu werden. (Nitzſch.)

In Italien, Frankreich, Belgien, ja ſogar in England kam es durch die Reſte
antiker ſtädtiſcher Kultur und durch günſtige Verkehrslage mancher Orte ſchon im 11.
und 12. Jahrhunderte wieder zu einem lebendigen ſtädtiſchen Leben. Nach der Zu-
ſammenſtellung, welche Gneiſt auf Grund von Merewether macht, gehören von 275
engliſchen Städten der Zeit bis 1199 96, der von 1199—1307 101, der von 1307 bis
1399 47, der von 1399—1649 32 an. In Deutſchland wuchſen faſt nur die Rhein-
und Donauſtädte im Laufe des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts kräftig empor; die
Marktpolitik der Biſchöfe hob den Verkehr; Weinhandel und Schiffahrt, die Anfänge
des Handels und des Gewerbes förderten die Anſammlung etwas zahlreicherer Bevölke-
rung in und vor den Mauern. Aber neben Regensburg iſt nur Köln durch ſeinen
Verkehr den Rhein hinab und über See gegen 1200 ſchon eine erhebliche Stadt. Freilich
ſchon 900 Familien nannte man damals eine „ingens civitas“. Und der ganze Schwer-
punkt ſtädtiſcher Entwickelung liegt für Deutſchland doch erſt am Ende des 12. und im
13. Jahrhundert; nicht vor dieſer Zeit fällt der Begriff der Marktſtatt und der der
Stadt überhaupt zuſammen; es entſteht die bis heute gültige Bezeichnung: Stadt. Die
Städtebildung dauert im 14. Jahrhundert hauptſächlich im Oſten Deutſchlands fort und
klingt im 15. aus. Von da an ſind wenig neue deutſche Städte mehr, und dieſe erſt
vereinzelt im 18. Jahrhundert, häufiger mit der großen wirtſchaftlichen Entwickelung
der letzten Menſchenalter entſtanden. Als Beweis ſeien folgende Zahlen angeführt, die
nach Genglers Cod. jur. municipalis berechnet ſind: je nach der erſten Urkunde oder
erſten Erwähnung des die Buchſtaben A bis Du, d. h. 280 deutſche Städte umfaſſenden
Verzeichniſſes fallen in die Zeit vor 1000 12 Städte, ins 11. Jahrhundert 4, ins 12.

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[264/0280] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. die Städte, ſiedelten ſich auf dem Lande zerſtreut an. Auch in Gallien geſchah dies zunächſt überwiegend. Nur die Burgundionen bequemten ſich früher zum Bewohnen der „Burgen“, und in Italien haben Goten und Longobarden ſich wohl noch raſcher in eine ſtädtiſche Ariſtokratie als Nachfolger der römiſchen Poſſeſſoren umgewandelt. So konnte das karolingiſche Reich in Italien und ſüdlich der Loire manche Städte zählen, die direkt an die antiken anſchließen; auch in England bricht die romaniſche Stadtentwickelung nicht ganz ab; am Rhein erheben ſich bald wieder Köln, Mainz und Straßburg, letzteres wird gegen 800 als civitas populosa bezeichnet. Aber im eigent- lichen Deutſchland fehlte es noch gegen 900 vollſtändig an Städten. Was es giebt, ſind ummauerte Pfalzen, Biſchofsſitze und Klöſter. Im 10. Jahrhundert wird König Heinrich als Städtebauer geprieſen, d. h. er baute Grenzkaſtelle gegen die Magyaren. Es wurde von da an die Umwallung der Biſchofsſitze ſyſtematiſch gefördert, und ebenſo haben die energiſcheren Könige den Feſtungsbau überhaupt betrieben, da und dort ſogenannte urbes regales mit Wall und Graben geſchaffen; ihre Einwohner wurden als milites agrarii bezeichnet. Aber es blieben dieſe Orte doch mehr befeſtigte Dörfer als Städte, und ſie waren nicht ſehr zahlreich. Sie verſahen für gewiſſe bedrohte Gebiete die Stelle eines Zufluchtsortes, welche für die Stämme und Völker früher befeſtigte Berge und Burgwälle, im Altertum die Städte geſpielt hatten. Daher findet man auch viele Spuren, daß die ländlichen Umwohner am Bau helfen mußten. Die Marktverleihungen an Biſchöfe und Klöſter vom 9.—11. Jahrhundert deuten auf eine gewiſſe Hebung des Verkehrs an den periodiſch ſtattfindenden Jahrmärkten hin; aber wie es heute noch im Orient Markt- und Meſſeplätze giebt, wo einmal im Jahre ſich Tauſende verſammeln, ohne daß eine Stadt entſteht, ſo war es auch damals noch lange mit den meiſten von der öffentlichen Gewalt oder der Kirche eingerichteten Märkten. Die Ausbildung einer kriegeriſch organiſierten Naturalverwaltung der großen Grundherrſchaften führte im 10.—12. Jahrhundert vor allem zu einem planvollen Burgenbau, zu einem Syſtem befeſtigter Fronhöfe, die aber ſchon ihrer Lage nach nur zum kleineren Teil Mittelpunkte ſpäterer Städte werden konnten. Wie die Reichstage auf freiem Felde vor den Thoren der Biſchofsſitze Augsburg, Worms ꝛc. gehalten wurden, ſo konnte Tribur 2½ Jahrhunderte Mittelpunkt der deutſchen Reichsverwaltung ſein, ohne zur Stadt zu werden. (Nitzſch.) In Italien, Frankreich, Belgien, ja ſogar in England kam es durch die Reſte antiker ſtädtiſcher Kultur und durch günſtige Verkehrslage mancher Orte ſchon im 11. und 12. Jahrhunderte wieder zu einem lebendigen ſtädtiſchen Leben. Nach der Zu- ſammenſtellung, welche Gneiſt auf Grund von Merewether macht, gehören von 275 engliſchen Städten der Zeit bis 1199 96, der von 1199—1307 101, der von 1307 bis 1399 47, der von 1399—1649 32 an. In Deutſchland wuchſen faſt nur die Rhein- und Donauſtädte im Laufe des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts kräftig empor; die Marktpolitik der Biſchöfe hob den Verkehr; Weinhandel und Schiffahrt, die Anfänge des Handels und des Gewerbes förderten die Anſammlung etwas zahlreicherer Bevölke- rung in und vor den Mauern. Aber neben Regensburg iſt nur Köln durch ſeinen Verkehr den Rhein hinab und über See gegen 1200 ſchon eine erhebliche Stadt. Freilich ſchon 900 Familien nannte man damals eine „ingens civitas“. Und der ganze Schwer- punkt ſtädtiſcher Entwickelung liegt für Deutſchland doch erſt am Ende des 12. und im 13. Jahrhundert; nicht vor dieſer Zeit fällt der Begriff der Marktſtatt und der der Stadt überhaupt zuſammen; es entſteht die bis heute gültige Bezeichnung: Stadt. Die Städtebildung dauert im 14. Jahrhundert hauptſächlich im Oſten Deutſchlands fort und klingt im 15. aus. Von da an ſind wenig neue deutſche Städte mehr, und dieſe erſt vereinzelt im 18. Jahrhundert, häufiger mit der großen wirtſchaftlichen Entwickelung der letzten Menſchenalter entſtanden. Als Beweis ſeien folgende Zahlen angeführt, die nach Genglers Cod. jur. municipalis berechnet ſind: je nach der erſten Urkunde oder erſten Erwähnung des die Buchſtaben A bis Du, d. h. 280 deutſche Städte umfaſſenden Verzeichniſſes fallen in die Zeit vor 1000 12 Städte, ins 11. Jahrhundert 4, ins 12.

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/280>, abgerufen am 22.11.2024.