Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft. gliedern nur dann unbedingt zu beklagen ist, wenn auch zwischen Mann und Frau,zwischen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und wenn für die schwindenden Verwandtschaftsbande nicht andere neue der Freundschaft, der Berufsgenossenschaft, der Geselligkeit, des geschäftlichen Zusammenwirkens träten. Es ist leider an dieser Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts- Das schönste Blatt aus dieser Geschichte ist die successive Erhebung der Frauen- Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwischen Familien- und Produktions- Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau,zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten. Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts- Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen- Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0264" n="248"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/> gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau,<lb/> zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und<lb/> wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der<lb/> Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten.</p><lb/> <p>Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts-<lb/> geſchichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Eheſcheidungsrechtes,<lb/> der väterlichen Gewalt, der Rechtsſtellung der Frauen, der Kinder und der dienenden<lb/> Kräfte in der Familie zu ſchildern, in welchem der Übergang von der patriarchaliſchen zur<lb/> neuen Familie ſich vollzog. Er ſetzt ſchon in den ſpäteren Epochen der antiken Kultur-<lb/> ſtaaten und dann wieder in den letzten 5—6 Jahrhunderten ein, hat die verſchiedenſten<lb/> Schwankungen erfahren, iſt vom Chriſtentum, der Philoſophie, der Litteratur, allen<lb/> geiſtigen und ſittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Reſultat war<lb/> damals und neuerdings wieder dasſelbe: die Familienglieder ſollen freier, unabhängiger<lb/> werden; aus dem Gewalt- ſoll ein ſittliches Genoſſenverhältnis werden; die freie Aus-<lb/> bildung der Individualität ſoll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens,<lb/> die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.</p><lb/> <p>Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen-<lb/> ſtellung: ſchon bei den Römern verwandelt ſich die ſtarre Manusgewalt des Mannes<lb/> in das Verhältnis eines <hi rendition="#aq">consortium omnis vitae.</hi> Bei den Germanen war die Gattin<lb/> bereits nach Tacitus die <hi rendition="#aq">laborum periculorumque socia</hi> des Mannes. Der Sachſen-<lb/> ſpiegel ſagt: dat wip iſt des mannes genotinne. Aber erſt eigentlich in den letzten<lb/> hundert Jahren hat Sitte und Recht dieſem Ziele ſich ernſtlich genähert, es freilich<lb/> nach der radikalen Auffaſſung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte,<lb/> auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozeſſe werden immer<lb/> wieder Rückſchritte gemacht, entſtehen Mißbildungen, Diſſonanzen zwiſchen den praktiſchen<lb/> Bedürfniſſen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua-<lb/> liſtiſchen Tendenzen; der Fortſchritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden,<lb/> daß er wenigſtens möglich ſei, daß vor allem die Loslöſung des nun nur noch der<lb/> Konſumtionswirtſchaft dienenden Familienhaushaltes von der Organiſation der techniſchen<lb/> Produktion eine berechtigte Differenzierung ſei, darüber möchte ich noch ein Wort ſagen.</p><lb/> <p>Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions-<lb/> intereſſe zur Zeit der patriarchaliſchen Familie leichter zu löſen waren als ſpäter. Sie<lb/> waren es aber vor allem auch, weil die Anſprüche des Familienlebens noch ſo gar<lb/> geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach<lb/> mit ſeinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweiſe in Rußland thut.<lb/> Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menſchen waren elende,<lb/> kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhauſe des 14.—16. Jahrhunderts hatte man<lb/> kaum Zimmer, in denen aufrecht zu ſtehen, ein Feſt zu feiern war; das fand im Stadt-<lb/> oder Gildehauſe ſtatt. Erſt ſeit dem 16.—18. Jahrhundert erhielten zuerſt die oberen<lb/> Klaſſen und dann auch der Mittelſtand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit ſo viel<lb/> Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch weſentlich erleichtert durch<lb/> die Scheidung der Wohngelaſſe und der Produktionsſtätten. Erſt im 18. und 19. Jahr-<lb/> hundert entſtand mit Hülfe der fortſchreitenden Technik und Kunſt, unterſtützt durch<lb/> Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur-<lb/> wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern,<lb/> Badezimmern, Kloſets, Waſſer- und Gasleitung und all’ dem anderen Komfort. Die<lb/> Mehrzahl der Kulturmenſchen wohnt ſeit einigen Generationen beſſer als je zuvor. Und<lb/> wenn die großſtädtiſche Menſchenanhäufung für die unteren Klaſſen die Anſprüche teil-<lb/> weiſe wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißſtand empfunden<lb/> wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß ſie in ihren Wohn-<lb/> räumen zugleich ihre Geſchäfte beſorgen und arbeiten müſſen, daß ihre Familienwohnungen<lb/> nicht iſoliert von denen anderer ſind, ſo beweiſt das nur, wie hoch die Anſprüche gegen<lb/> frühere Zeiten geſtiegen ſind, wo faſt alle Menſchen mit Vieh und Ungeziefer zuſammen<lb/> zu hauſen gewohnt waren.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [248/0264]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
gliedern nur dann unbedingt zu beklagen iſt, wenn auch zwiſchen Mann und Frau,
zwiſchen Eltern und Kindern die Sympathie und Aufopferungsfähigkeit aufhörte, und
wenn für die ſchwindenden Verwandtſchaftsbande nicht andere neue der Freundſchaft, der
Berufsgenoſſenſchaft, der Geſelligkeit, des geſchäftlichen Zuſammenwirkens träten.
Es iſt leider an dieſer Stelle nicht möglich, den großen familien- und rechts-
geſchichtlichen Prozeß der Umbildung des Familien-, Ehe-, Erb-, Eheſcheidungsrechtes,
der väterlichen Gewalt, der Rechtsſtellung der Frauen, der Kinder und der dienenden
Kräfte in der Familie zu ſchildern, in welchem der Übergang von der patriarchaliſchen zur
neuen Familie ſich vollzog. Er ſetzt ſchon in den ſpäteren Epochen der antiken Kultur-
ſtaaten und dann wieder in den letzten 5—6 Jahrhunderten ein, hat die verſchiedenſten
Schwankungen erfahren, iſt vom Chriſtentum, der Philoſophie, der Litteratur, allen
geiſtigen und ſittlichen Strömungen der Zeit beeinflußt worden. Das Reſultat war
damals und neuerdings wieder dasſelbe: die Familienglieder ſollen freier, unabhängiger
werden; aus dem Gewalt- ſoll ein ſittliches Genoſſenverhältnis werden; die freie Aus-
bildung der Individualität ſoll erleichtert, aber zugleich der Segen des Familienlebens,
die einheitliche Lenkung der Familie durch den Familienvater erhalten werden.
Das ſchönſte Blatt aus dieſer Geſchichte iſt die ſucceſſive Erhebung der Frauen-
ſtellung: ſchon bei den Römern verwandelt ſich die ſtarre Manusgewalt des Mannes
in das Verhältnis eines consortium omnis vitae. Bei den Germanen war die Gattin
bereits nach Tacitus die laborum periculorumque socia des Mannes. Der Sachſen-
ſpiegel ſagt: dat wip iſt des mannes genotinne. Aber erſt eigentlich in den letzten
hundert Jahren hat Sitte und Recht dieſem Ziele ſich ernſtlich genähert, es freilich
nach der radikalen Auffaſſung, die alle Gewalt des Familienvaters aufheben möchte,
auch heute noch nicht erreicht. In dem ganzen Umbildungsprozeſſe werden immer
wieder Rückſchritte gemacht, entſtehen Mißbildungen, Diſſonanzen zwiſchen den praktiſchen
Bedürfniſſen des Lebens, der notwendigen Ordnung der Familie und den individua-
liſtiſchen Tendenzen; der Fortſchritt im ganzen aber fehlt nicht. Daß er vorhanden,
daß er wenigſtens möglich ſei, daß vor allem die Loslöſung des nun nur noch der
Konſumtionswirtſchaft dienenden Familienhaushaltes von der Organiſation der techniſchen
Produktion eine berechtigte Differenzierung ſei, darüber möchte ich noch ein Wort ſagen.
Ich habe vorhin erwähnt, daß die Konflikte zwiſchen Familien- und Produktions-
intereſſe zur Zeit der patriarchaliſchen Familie leichter zu löſen waren als ſpäter. Sie
waren es aber vor allem auch, weil die Anſprüche des Familienlebens noch ſo gar
geringe, zumal bei der Menge der kleinen Leute, waren. Der Bauer lebte noch vielfach
mit ſeinem Vieh in einem Raume, wie er es heute noch teilweiſe in Rußland thut.
Die gewöhnlichen Wohnungen der Alten wie der mittelalterlichen Menſchen waren elende,
kleine, dunkle Räume; noch im Patricierhauſe des 14.—16. Jahrhunderts hatte man
kaum Zimmer, in denen aufrecht zu ſtehen, ein Feſt zu feiern war; das fand im Stadt-
oder Gildehauſe ſtatt. Erſt ſeit dem 16.—18. Jahrhundert erhielten zuerſt die oberen
Klaſſen und dann auch der Mittelſtand Zimmer mit Heizung, mit Licht, mit ſo viel
Raum, wie wir heute für nötig halten. Und das wurde doch weſentlich erleichtert durch
die Scheidung der Wohngelaſſe und der Produktionsſtätten. Erſt im 18. und 19. Jahr-
hundert entſtand mit Hülfe der fortſchreitenden Technik und Kunſt, unterſtützt durch
Feuer- und Baupolizei, aus den alten, höhlenartigen Schlupfwinkeln die neuere Kultur-
wohnung mit ihren Empfangs-, Wohn-, Eß- und Schlafzimmern, ihren Küchen, Kellern,
Badezimmern, Kloſets, Waſſer- und Gasleitung und all’ dem anderen Komfort. Die
Mehrzahl der Kulturmenſchen wohnt ſeit einigen Generationen beſſer als je zuvor. Und
wenn die großſtädtiſche Menſchenanhäufung für die unteren Klaſſen die Anſprüche teil-
weiſe wieder vermindert hat, wenn es als allgemeiner öffentlicher Mißſtand empfunden
wird, daß viele Familien nur einen oder zwei Räume haben, daß ſie in ihren Wohn-
räumen zugleich ihre Geſchäfte beſorgen und arbeiten müſſen, daß ihre Familienwohnungen
nicht iſoliert von denen anderer ſind, ſo beweiſt das nur, wie hoch die Anſprüche gegen
frühere Zeiten geſtiegen ſind, wo faſt alle Menſchen mit Vieh und Ungeziefer zuſammen
zu hauſen gewohnt waren.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |