Würdigung der Gentilverfassung. Entstehung der patriarchalischen Familie.
als die Schule des brüderlich-genossenschaftlichen Geistes erscheinen. Aus dieser Schule erwuchs die psychologische Möglichkeit verschiedener späterer lokaler, kirchlicher, kriegerischer, standes- und berufsmäßiger Bildungen, die nach und nach die Sippen ersetzten: die Gilden und Zünfte, die Ortsgemeinden und kirchlichen Brüderschaften sind die Fort- setzungen der Sippen.
Auf die Verfassung der späteren Vatersippen hier noch ausführlicher einzugehen, ist des Raumes wegen nicht möglich; es ist bekannt, daß die irische Sept noch bis ins 12., die holsteinische Slacht bis ins 15., der schottische Klan bis ins 17. und 18. Jahr- hundert sich erhielt, daß bei den Römern der religiöse Charakter der Gens bis in die spätere Zeit der Republik sich erhielt. Die Vatersippen mußten überall in dem Maße an Kraft und Einfluß verlieren, wie die patriarchalische Familie sich ausbildete. Die Kraft der Sippenverfassung hatte in der Schwäche der Muttergruppe, in dem losen Verhältnis des Vaters zu Frau und Kindern gelegen. Zur Zeit des Mutterrechtes konnten die höchsten Familientugenden, wie sie aus dem Zusammenleben von Mann und Frau, von Vater und Kindern entspringen, sich nicht entwickeln; als das Haus mit seiner Hauswirtschaft, seinem festen Gefüge, seiner Disciplin, seiner Tradition entstand, als aus der kleinen Familie die Großfamilie mit 15, 30, 100 Gliedern sich entwickelt hatte, da mußte diese die im ganzen doch schwachen Sippenverbände, die keine so feste Gewalt über sich hatten, die auf Sympathien, nicht auf Herrschaft und Eigentum beruhten, nach und nach sprengen. Die Großfamilie ruhte auf sich, sie bedurfte der Hülfe und Ergänzung durch die Sippe nicht mehr so notwendig. Soweit die differenzierte Gesellschaft noch ähnliche Verbände nötig hatte, entstanden sie neu auf Grund der örtlichen oder Be- rufsgemeinschaft, nicht mehr auf Grund der Blutsbande; und über all' dem entstand die Staatsgewalt, welche mehr und mehr einen Teil der Funktionen auf sich nahm, die so lange auf den Sippen geruht: Kultus, Kriegsverfassung, Blutrache, Gericht, Boden- verteilung, Schiffsbau, Vorratshaltung und Ähnliches.
90. Die ältere patriarchalische Großfamilie hat man bis vor kurzem als den Anfang und Keim aller socialen Organisation betrachtet, schon weil solche patriarchalische Gruppen uns in den beglaubigten ältesten Nachrichten über die historischen Völker, über Inder, Juden, Griechen und Römer, als klar erkennbare und wichtigste Einrichtung begegnen. Es wurde dabei nur übersehen, daß auch bei ihnen Spuren und Reste älterer Geschlechtsverfassung erkennbar sind, und daß eine Unveränderlichkeit dieser Einrichtung durch ungezählte Jahrtausende doch wohl allen historischen Gesetzen widerspräche. Nach den vorstehenden Ausführungen wissen wir heute, daß andere Familien- verfassungen vorausgingen. Die patriarchalische Familie ist das Ergebnis einer alten Kulturentwickelung, bestimmter wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zustände; sie ist eine Phase der politischen, wirtschaftlichen, geistigen und sittlichen Entwickelung der Menschheit.
Die Muttergruppe bestand aus der Mutter mit ihren Kindern, denen lose Ehe- mann und Bruder der Mutter angegliedert waren; die Familie besteht aus den nun dauernd zusammenwohnenden Eltern und Kindern, Knechten und Mägden. Das gemein- same Haus und die gemeinsame Wirtschaft unter der Leitung des Familienvaters ist das Wesentliche. Der Übergang zur patriarchalischen Familie, der sogenannte Sieg des Vaterrechtes, wird sich verschieden gestaltet haben, je nachdem das Mutterrecht und die uterine Sippe eine schärfere oder schwächere Ausprägung gehabt hatten. Jedenfalls sehen wir das Vaterrecht überall da sich ausbilden, wo ein etwas größerer Besitz sich an- gesammelt hat, wo mit ihm die Sitte des Frauenkaufes beginnt, wo Tierzucht, eigent- licher Ackerbau, wo besserer Haus- und Zeltbau, wo Nomadenwirtschaft Platz gegriffen haben, wo die Männer am Ackerbau teilnehmen. Man hat daran erinnert, daß mit dem größeren Besitz der Vater wünschen mußte, seinen Besitz nicht den Kindern seiner Schwester, sondern seinen eigenen zu hinterlassen. Man wird auch auf die Thatsache hinweisen können, daß der bessere Hausbau mit der Axt, mit der Steinverwendung nur Männersache, daß die Viehzähmung und Viehwartung überall Aufgabe des Mannes war, ihm einen Einfluß gab, wie ähnlich seiner Zeit der Frau der Hackbau; ebenso auf den Umstand, daß die vergrößerte, einheitliche Hauswirtschaft einer festen leitenden
Würdigung der Gentilverfaſſung. Entſtehung der patriarchaliſchen Familie.
als die Schule des brüderlich-genoſſenſchaftlichen Geiſtes erſcheinen. Aus dieſer Schule erwuchs die pſychologiſche Möglichkeit verſchiedener ſpäterer lokaler, kirchlicher, kriegeriſcher, ſtandes- und berufsmäßiger Bildungen, die nach und nach die Sippen erſetzten: die Gilden und Zünfte, die Ortsgemeinden und kirchlichen Brüderſchaften ſind die Fort- ſetzungen der Sippen.
Auf die Verfaſſung der ſpäteren Vaterſippen hier noch ausführlicher einzugehen, iſt des Raumes wegen nicht möglich; es iſt bekannt, daß die iriſche Sept noch bis ins 12., die holſteiniſche Slacht bis ins 15., der ſchottiſche Klan bis ins 17. und 18. Jahr- hundert ſich erhielt, daß bei den Römern der religiöſe Charakter der Gens bis in die ſpätere Zeit der Republik ſich erhielt. Die Vaterſippen mußten überall in dem Maße an Kraft und Einfluß verlieren, wie die patriarchaliſche Familie ſich ausbildete. Die Kraft der Sippenverfaſſung hatte in der Schwäche der Muttergruppe, in dem loſen Verhältnis des Vaters zu Frau und Kindern gelegen. Zur Zeit des Mutterrechtes konnten die höchſten Familientugenden, wie ſie aus dem Zuſammenleben von Mann und Frau, von Vater und Kindern entſpringen, ſich nicht entwickeln; als das Haus mit ſeiner Hauswirtſchaft, ſeinem feſten Gefüge, ſeiner Disciplin, ſeiner Tradition entſtand, als aus der kleinen Familie die Großfamilie mit 15, 30, 100 Gliedern ſich entwickelt hatte, da mußte dieſe die im ganzen doch ſchwachen Sippenverbände, die keine ſo feſte Gewalt über ſich hatten, die auf Sympathien, nicht auf Herrſchaft und Eigentum beruhten, nach und nach ſprengen. Die Großfamilie ruhte auf ſich, ſie bedurfte der Hülfe und Ergänzung durch die Sippe nicht mehr ſo notwendig. Soweit die differenzierte Geſellſchaft noch ähnliche Verbände nötig hatte, entſtanden ſie neu auf Grund der örtlichen oder Be- rufsgemeinſchaft, nicht mehr auf Grund der Blutsbande; und über all’ dem entſtand die Staatsgewalt, welche mehr und mehr einen Teil der Funktionen auf ſich nahm, die ſo lange auf den Sippen geruht: Kultus, Kriegsverfaſſung, Blutrache, Gericht, Boden- verteilung, Schiffsbau, Vorratshaltung und Ähnliches.
90. Die ältere patriarchaliſche Großfamilie hat man bis vor kurzem als den Anfang und Keim aller ſocialen Organiſation betrachtet, ſchon weil ſolche patriarchaliſche Gruppen uns in den beglaubigten älteſten Nachrichten über die hiſtoriſchen Völker, über Inder, Juden, Griechen und Römer, als klar erkennbare und wichtigſte Einrichtung begegnen. Es wurde dabei nur überſehen, daß auch bei ihnen Spuren und Reſte älterer Geſchlechtsverfaſſung erkennbar ſind, und daß eine Unveränderlichkeit dieſer Einrichtung durch ungezählte Jahrtauſende doch wohl allen hiſtoriſchen Geſetzen widerſpräche. Nach den vorſtehenden Ausführungen wiſſen wir heute, daß andere Familien- verfaſſungen vorausgingen. Die patriarchaliſche Familie iſt das Ergebnis einer alten Kulturentwickelung, beſtimmter wirtſchaftlicher und geſellſchaftlicher Zuſtände; ſie iſt eine Phaſe der politiſchen, wirtſchaftlichen, geiſtigen und ſittlichen Entwickelung der Menſchheit.
Die Muttergruppe beſtand aus der Mutter mit ihren Kindern, denen loſe Ehe- mann und Bruder der Mutter angegliedert waren; die Familie beſteht aus den nun dauernd zuſammenwohnenden Eltern und Kindern, Knechten und Mägden. Das gemein- ſame Haus und die gemeinſame Wirtſchaft unter der Leitung des Familienvaters iſt das Weſentliche. Der Übergang zur patriarchaliſchen Familie, der ſogenannte Sieg des Vaterrechtes, wird ſich verſchieden geſtaltet haben, je nachdem das Mutterrecht und die uterine Sippe eine ſchärfere oder ſchwächere Ausprägung gehabt hatten. Jedenfalls ſehen wir das Vaterrecht überall da ſich ausbilden, wo ein etwas größerer Beſitz ſich an- geſammelt hat, wo mit ihm die Sitte des Frauenkaufes beginnt, wo Tierzucht, eigent- licher Ackerbau, wo beſſerer Haus- und Zeltbau, wo Nomadenwirtſchaft Platz gegriffen haben, wo die Männer am Ackerbau teilnehmen. Man hat daran erinnert, daß mit dem größeren Beſitz der Vater wünſchen mußte, ſeinen Beſitz nicht den Kindern ſeiner Schweſter, ſondern ſeinen eigenen zu hinterlaſſen. Man wird auch auf die Thatſache hinweiſen können, daß der beſſere Hausbau mit der Axt, mit der Steinverwendung nur Männerſache, daß die Viehzähmung und Viehwartung überall Aufgabe des Mannes war, ihm einen Einfluß gab, wie ähnlich ſeiner Zeit der Frau der Hackbau; ebenſo auf den Umſtand, daß die vergrößerte, einheitliche Hauswirtſchaft einer feſten leitenden
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[239/0255]
Würdigung der Gentilverfaſſung. Entſtehung der patriarchaliſchen Familie.
als die Schule des brüderlich-genoſſenſchaftlichen Geiſtes erſcheinen. Aus dieſer Schule
erwuchs die pſychologiſche Möglichkeit verſchiedener ſpäterer lokaler, kirchlicher, kriegeriſcher,
ſtandes- und berufsmäßiger Bildungen, die nach und nach die Sippen erſetzten: die
Gilden und Zünfte, die Ortsgemeinden und kirchlichen Brüderſchaften ſind die Fort-
ſetzungen der Sippen.
Auf die Verfaſſung der ſpäteren Vaterſippen hier noch ausführlicher einzugehen,
iſt des Raumes wegen nicht möglich; es iſt bekannt, daß die iriſche Sept noch bis ins
12., die holſteiniſche Slacht bis ins 15., der ſchottiſche Klan bis ins 17. und 18. Jahr-
hundert ſich erhielt, daß bei den Römern der religiöſe Charakter der Gens bis in die
ſpätere Zeit der Republik ſich erhielt. Die Vaterſippen mußten überall in dem Maße
an Kraft und Einfluß verlieren, wie die patriarchaliſche Familie ſich ausbildete. Die
Kraft der Sippenverfaſſung hatte in der Schwäche der Muttergruppe, in dem loſen
Verhältnis des Vaters zu Frau und Kindern gelegen. Zur Zeit des Mutterrechtes
konnten die höchſten Familientugenden, wie ſie aus dem Zuſammenleben von Mann und
Frau, von Vater und Kindern entſpringen, ſich nicht entwickeln; als das Haus mit ſeiner
Hauswirtſchaft, ſeinem feſten Gefüge, ſeiner Disciplin, ſeiner Tradition entſtand, als
aus der kleinen Familie die Großfamilie mit 15, 30, 100 Gliedern ſich entwickelt hatte,
da mußte dieſe die im ganzen doch ſchwachen Sippenverbände, die keine ſo feſte Gewalt
über ſich hatten, die auf Sympathien, nicht auf Herrſchaft und Eigentum beruhten,
nach und nach ſprengen. Die Großfamilie ruhte auf ſich, ſie bedurfte der Hülfe und
Ergänzung durch die Sippe nicht mehr ſo notwendig. Soweit die differenzierte Geſellſchaft
noch ähnliche Verbände nötig hatte, entſtanden ſie neu auf Grund der örtlichen oder Be-
rufsgemeinſchaft, nicht mehr auf Grund der Blutsbande; und über all’ dem entſtand die
Staatsgewalt, welche mehr und mehr einen Teil der Funktionen auf ſich nahm, die ſo
lange auf den Sippen geruht: Kultus, Kriegsverfaſſung, Blutrache, Gericht, Boden-
verteilung, Schiffsbau, Vorratshaltung und Ähnliches.
90. Die ältere patriarchaliſche Großfamilie hat man bis vor kurzem
als den Anfang und Keim aller ſocialen Organiſation betrachtet, ſchon weil ſolche
patriarchaliſche Gruppen uns in den beglaubigten älteſten Nachrichten über die hiſtoriſchen
Völker, über Inder, Juden, Griechen und Römer, als klar erkennbare und wichtigſte
Einrichtung begegnen. Es wurde dabei nur überſehen, daß auch bei ihnen Spuren
und Reſte älterer Geſchlechtsverfaſſung erkennbar ſind, und daß eine Unveränderlichkeit
dieſer Einrichtung durch ungezählte Jahrtauſende doch wohl allen hiſtoriſchen Geſetzen
widerſpräche. Nach den vorſtehenden Ausführungen wiſſen wir heute, daß andere Familien-
verfaſſungen vorausgingen. Die patriarchaliſche Familie iſt das Ergebnis einer alten
Kulturentwickelung, beſtimmter wirtſchaftlicher und geſellſchaftlicher Zuſtände; ſie iſt eine
Phaſe der politiſchen, wirtſchaftlichen, geiſtigen und ſittlichen Entwickelung der Menſchheit.
Die Muttergruppe beſtand aus der Mutter mit ihren Kindern, denen loſe Ehe-
mann und Bruder der Mutter angegliedert waren; die Familie beſteht aus den nun
dauernd zuſammenwohnenden Eltern und Kindern, Knechten und Mägden. Das gemein-
ſame Haus und die gemeinſame Wirtſchaft unter der Leitung des Familienvaters iſt
das Weſentliche. Der Übergang zur patriarchaliſchen Familie, der ſogenannte Sieg des
Vaterrechtes, wird ſich verſchieden geſtaltet haben, je nachdem das Mutterrecht und die
uterine Sippe eine ſchärfere oder ſchwächere Ausprägung gehabt hatten. Jedenfalls ſehen
wir das Vaterrecht überall da ſich ausbilden, wo ein etwas größerer Beſitz ſich an-
geſammelt hat, wo mit ihm die Sitte des Frauenkaufes beginnt, wo Tierzucht, eigent-
licher Ackerbau, wo beſſerer Haus- und Zeltbau, wo Nomadenwirtſchaft Platz gegriffen
haben, wo die Männer am Ackerbau teilnehmen. Man hat daran erinnert, daß mit dem
größeren Beſitz der Vater wünſchen mußte, ſeinen Beſitz nicht den Kindern ſeiner
Schweſter, ſondern ſeinen eigenen zu hinterlaſſen. Man wird auch auf die Thatſache
hinweiſen können, daß der beſſere Hausbau mit der Axt, mit der Steinverwendung nur
Männerſache, daß die Viehzähmung und Viehwartung überall Aufgabe des Mannes
war, ihm einen Einfluß gab, wie ähnlich ſeiner Zeit der Frau der Hackbau; ebenſo
auf den Umſtand, daß die vergrößerte, einheitliche Hauswirtſchaft einer feſten leitenden
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/255>, abgerufen am 16.07.2024.
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