Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Die natürlichen und wirtschaftlichen Schranken der Bevölkerungsverdichtung. Niederungen) bewohnt, und wenn auch später nun die Waldgebiete, die Höhen und Ge-birge, die Sandflächen und geringen Böden bebaut werden, der Verdichtungsprozeß bleibt hier ein beschränkter, wie man schon daraus sieht, daß noch heute nur 1 Prozent des Festlandes der Erde über 8000 Seelen, nur 6 Prozent 2--8000 Seelen pro Geviert- meile tragen, daß auf einem Siebentel der Erde drei Viertel aller Menschen wohnen. Mag vollkommenere Technik, Bewässerung und Verkehr daran noch vieles ändern, mag heute teilweise noch Trägheit die Massen in den alten Mittelpunkten der dichten Bevölkerung festhalten, das deuten doch die erwähnten Thatsachen an, daß die der menschlichen Kultur zugänglichsten Gebiete längst reichlich besetzt sind, daß der Trost, erst ein Drittel der Erde sei angebaut, nicht sehr weit her ist. Freilich kann in Amerika, Afrika, Australien, Asien die Bevölkerung noch um hunderte von Millionen wachsen; Ravenstein berechnet, äußersten Falles hätten 6000 Millionen statt der jetzigen 1500 Millionen auf der Erde Platz; es mögen sogar 10--12000 Mill. sein. Aber was setzte diese Dichtigkeit voraus? Welche Hindernisse ständen im Wege, um die großen Menschenmassen Europas etwa in die zu bewässernde Sahara überzuführen? Außerdem wären bei 10 %0 jährlicher Zu- nahme 1500 Mill. in 140 Jahren schon bei 6000, in weiteren 70 Jahren bei 12000 angekommen. Es ist klar, daß der Verdichtungsprozeß überall da am leichtesten sich vollzieht, Nehmen wir zunächst an, es handele sich nur um technische Fortschritte; auf die Und doch ist die wirtschaftliche Veränderung vielleicht noch nicht die schwierigste, Die natürlichen und wirtſchaftlichen Schranken der Bevölkerungsverdichtung. Niederungen) bewohnt, und wenn auch ſpäter nun die Waldgebiete, die Höhen und Ge-birge, die Sandflächen und geringen Böden bebaut werden, der Verdichtungsprozeß bleibt hier ein beſchränkter, wie man ſchon daraus ſieht, daß noch heute nur 1 Prozent des Feſtlandes der Erde über 8000 Seelen, nur 6 Prozent 2—8000 Seelen pro Geviert- meile tragen, daß auf einem Siebentel der Erde drei Viertel aller Menſchen wohnen. Mag vollkommenere Technik, Bewäſſerung und Verkehr daran noch vieles ändern, mag heute teilweiſe noch Trägheit die Maſſen in den alten Mittelpunkten der dichten Bevölkerung feſthalten, das deuten doch die erwähnten Thatſachen an, daß die der menſchlichen Kultur zugänglichſten Gebiete längſt reichlich beſetzt ſind, daß der Troſt, erſt ein Drittel der Erde ſei angebaut, nicht ſehr weit her iſt. Freilich kann in Amerika, Afrika, Auſtralien, Aſien die Bevölkerung noch um hunderte von Millionen wachſen; Ravenſtein berechnet, äußerſten Falles hätten 6000 Millionen ſtatt der jetzigen 1500 Millionen auf der Erde Platz; es mögen ſogar 10—12000 Mill. ſein. Aber was ſetzte dieſe Dichtigkeit voraus? Welche Hinderniſſe ſtänden im Wege, um die großen Menſchenmaſſen Europas etwa in die zu bewäſſernde Sahara überzuführen? Außerdem wären bei 10 ‰ jährlicher Zu- nahme 1500 Mill. in 140 Jahren ſchon bei 6000, in weiteren 70 Jahren bei 12000 angekommen. Es iſt klar, daß der Verdichtungsprozeß überall da am leichteſten ſich vollzieht, Nehmen wir zunächſt an, es handele ſich nur um techniſche Fortſchritte; auf die Und doch iſt die wirtſchaftliche Veränderung vielleicht noch nicht die ſchwierigſte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0201" n="185"/><fw place="top" type="header">Die natürlichen und wirtſchaftlichen Schranken der Bevölkerungsverdichtung.</fw><lb/> Niederungen) bewohnt, und wenn auch ſpäter nun die Waldgebiete, die Höhen und Ge-<lb/> birge, die Sandflächen und geringen Böden bebaut werden, der Verdichtungsprozeß<lb/> bleibt hier ein beſchränkter, wie man ſchon daraus ſieht, daß noch heute nur 1 Prozent<lb/> des Feſtlandes der Erde über 8000 Seelen, nur 6 Prozent 2—8000 Seelen pro Geviert-<lb/> meile tragen, daß auf einem Siebentel der Erde drei Viertel aller Menſchen wohnen.<lb/> Mag vollkommenere Technik, Bewäſſerung und Verkehr daran noch vieles ändern, mag heute<lb/> teilweiſe noch Trägheit die Maſſen in den alten Mittelpunkten der dichten Bevölkerung<lb/> feſthalten, das deuten doch die erwähnten Thatſachen an, daß die der menſchlichen Kultur<lb/> zugänglichſten Gebiete längſt reichlich beſetzt ſind, daß der Troſt, erſt ein Drittel der<lb/> Erde ſei angebaut, nicht ſehr weit her iſt. 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In dieſer Lage ſind heute Rußland, die Vereinigten Staaten,<lb/> einzelne Teile Indiens. Wo es ſich aber darum handelt, daß faſt aller gute und zugängliche<lb/> Boden bebaut iſt, daß große Gebiete nur etwa durch Bewäſſerungs- oder andere ſchwierige<lb/> Kulturarbeiten (in Deutſchland z. B. die 4—500 Geviertmeilen Moorland) gewonnen<lb/> werden können, da iſt die Verdichtung ſchon viel ſchwieriger. Und noch mehr iſt ſie es,<lb/> wo nur eine allgemeine Veränderung der Technik, eine Vervollkommnung aller wirt-<lb/> ſchaftlichen Kräfte und ihrer Organiſation die wachſende Zahl von Menſchen auf der-<lb/> ſelben Fläche zu ernähren geſtattet. Wir ſind damit beim Kern der Frage.</p><lb/> <p>Nehmen wir zunächſt an, es handele ſich nur um techniſche Fortſchritte; auf die<lb/> übrigen ebenſo wichtigen Bedingungen kommen wir gleich. In erſter Linie ſteht die<lb/> landwirtſchaftliche Technik, die uns die Nahrungsmittel liefert. Ein Volk, das bisher<lb/> von der Jagd lebte, ſoll Viehzucht und Ackerbau lernen; ein nicht ſeßhaftes ſoll dem<lb/> Acker- und Gartenbau ſich zuwenden; es ſollen ſtatt der extenſiven die höheren intenſiven<lb/> landwirtſchaftlichen Betriebsſyſteme erlernt werden. Welche Summen von Schwierigkeiten<lb/> ſind da zu überwinden. Schon Klima und Boden ſetzen, wie bereits erwähnt, den Fortſchritten<lb/> verſchiedene, nirgends ganz überſteigbare Grenzen entgegen; ſelbſt die vollkommenſte Technik<lb/> kann im Norden nicht die Lebensmittel für 10—15000 Menſchen auf der Geviertmeile<lb/> erzeugen; die intenſivere Landwirtſchaft liefert bei höheren Koſten von einer gewiſſen Grenze<lb/> an abnehmende Erträge. Wenn wir die Geſchichte der Landwirtſchaft überblicken, ſo ſind<lb/> die eingreifenden landwirtſchaftlich-agrariſchen Fortſchritte die ſeltenſten, vielgefeierten<lb/> Ereigniſſe der Geſchichte; ſie haben ſich ſchwer und langſam verbreitet; ihr Sieg hängt<lb/> nicht bloß von Klima, Boden, Raſſe und glücklichen Schickſalen, ſondern auch von<lb/> Änderung der Sitten, des Rechts, ja aller geſellſchaftlichen Inſtitution ab. Der Übergang<lb/> von der Dreifelderwirtſchaft z. B. zum Fruchtwechſel und zur freien Wirtſchaft brauchte<lb/> einige Jahrhunderte in Europa; die ganze mittelalterliche feudale Agrarverfaſſung mit<lb/> ihrer Klaſſenbildung, ihrer Lokalverfaſſung, ihrem Eigentumsrecht, ihrer Grundeigentums-<lb/> verteilung mußte erſt fallen, ehe die höheren Betriebsformen für 3—8000 ſtatt für<lb/> 1—3000 Menſchen Lebensmittel pro Geviertmeile erzeugen konnten.</p><lb/> <p>Und doch iſt die wirtſchaftliche Veränderung vielleicht noch nicht die ſchwierigſte,<lb/> ſo lange es ſich nur darum handelt, in demſelben Gebiete für die einheimiſche Bevölke-<lb/> rung mehr Lebensmittel zu erzeugen. Handelt es ſich dann aber um die höhere gewerb-<lb/> liche, Handels- und Verkehrsentwickelung, zuerſt um die Entſtehung von kleinen Städten,<lb/> Handwerk und lokalen Märkten, ſpäter um die Haus- und Fabrikinduſtrie, um Kanäle<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [185/0201]
Die natürlichen und wirtſchaftlichen Schranken der Bevölkerungsverdichtung.
Niederungen) bewohnt, und wenn auch ſpäter nun die Waldgebiete, die Höhen und Ge-
birge, die Sandflächen und geringen Böden bebaut werden, der Verdichtungsprozeß
bleibt hier ein beſchränkter, wie man ſchon daraus ſieht, daß noch heute nur 1 Prozent
des Feſtlandes der Erde über 8000 Seelen, nur 6 Prozent 2—8000 Seelen pro Geviert-
meile tragen, daß auf einem Siebentel der Erde drei Viertel aller Menſchen wohnen.
Mag vollkommenere Technik, Bewäſſerung und Verkehr daran noch vieles ändern, mag heute
teilweiſe noch Trägheit die Maſſen in den alten Mittelpunkten der dichten Bevölkerung
feſthalten, das deuten doch die erwähnten Thatſachen an, daß die der menſchlichen Kultur
zugänglichſten Gebiete längſt reichlich beſetzt ſind, daß der Troſt, erſt ein Drittel der
Erde ſei angebaut, nicht ſehr weit her iſt. Freilich kann in Amerika, Afrika, Auſtralien,
Aſien die Bevölkerung noch um hunderte von Millionen wachſen; Ravenſtein berechnet,
äußerſten Falles hätten 6000 Millionen ſtatt der jetzigen 1500 Millionen auf der Erde
Platz; es mögen ſogar 10—12000 Mill. ſein. Aber was ſetzte dieſe Dichtigkeit voraus?
Welche Hinderniſſe ſtänden im Wege, um die großen Menſchenmaſſen Europas etwa in
die zu bewäſſernde Sahara überzuführen? Außerdem wären bei 10 ‰ jährlicher Zu-
nahme 1500 Mill. in 140 Jahren ſchon bei 6000, in weiteren 70 Jahren bei 12000
angekommen.
Es iſt klar, daß der Verdichtungsprozeß überall da am leichteſten ſich vollzieht,
wo ein Volk über ein Gebiet verfügt, das teilweiſe noch ſparſam bebaut iſt oder gar
noch größere und fruchtbarere Gebiete als die beſetzten umſchließt. Da kann eine große
innere Zunahme und Koloniſation bei ſtabiler Technik faſt ohne Änderung der Sitten
und Inſtitutionen erfolgen. In dieſer Lage ſind heute Rußland, die Vereinigten Staaten,
einzelne Teile Indiens. Wo es ſich aber darum handelt, daß faſt aller gute und zugängliche
Boden bebaut iſt, daß große Gebiete nur etwa durch Bewäſſerungs- oder andere ſchwierige
Kulturarbeiten (in Deutſchland z. B. die 4—500 Geviertmeilen Moorland) gewonnen
werden können, da iſt die Verdichtung ſchon viel ſchwieriger. Und noch mehr iſt ſie es,
wo nur eine allgemeine Veränderung der Technik, eine Vervollkommnung aller wirt-
ſchaftlichen Kräfte und ihrer Organiſation die wachſende Zahl von Menſchen auf der-
ſelben Fläche zu ernähren geſtattet. Wir ſind damit beim Kern der Frage.
Nehmen wir zunächſt an, es handele ſich nur um techniſche Fortſchritte; auf die
übrigen ebenſo wichtigen Bedingungen kommen wir gleich. In erſter Linie ſteht die
landwirtſchaftliche Technik, die uns die Nahrungsmittel liefert. Ein Volk, das bisher
von der Jagd lebte, ſoll Viehzucht und Ackerbau lernen; ein nicht ſeßhaftes ſoll dem
Acker- und Gartenbau ſich zuwenden; es ſollen ſtatt der extenſiven die höheren intenſiven
landwirtſchaftlichen Betriebsſyſteme erlernt werden. Welche Summen von Schwierigkeiten
ſind da zu überwinden. Schon Klima und Boden ſetzen, wie bereits erwähnt, den Fortſchritten
verſchiedene, nirgends ganz überſteigbare Grenzen entgegen; ſelbſt die vollkommenſte Technik
kann im Norden nicht die Lebensmittel für 10—15000 Menſchen auf der Geviertmeile
erzeugen; die intenſivere Landwirtſchaft liefert bei höheren Koſten von einer gewiſſen Grenze
an abnehmende Erträge. Wenn wir die Geſchichte der Landwirtſchaft überblicken, ſo ſind
die eingreifenden landwirtſchaftlich-agrariſchen Fortſchritte die ſeltenſten, vielgefeierten
Ereigniſſe der Geſchichte; ſie haben ſich ſchwer und langſam verbreitet; ihr Sieg hängt
nicht bloß von Klima, Boden, Raſſe und glücklichen Schickſalen, ſondern auch von
Änderung der Sitten, des Rechts, ja aller geſellſchaftlichen Inſtitution ab. Der Übergang
von der Dreifelderwirtſchaft z. B. zum Fruchtwechſel und zur freien Wirtſchaft brauchte
einige Jahrhunderte in Europa; die ganze mittelalterliche feudale Agrarverfaſſung mit
ihrer Klaſſenbildung, ihrer Lokalverfaſſung, ihrem Eigentumsrecht, ihrer Grundeigentums-
verteilung mußte erſt fallen, ehe die höheren Betriebsformen für 3—8000 ſtatt für
1—3000 Menſchen Lebensmittel pro Geviertmeile erzeugen konnten.
Und doch iſt die wirtſchaftliche Veränderung vielleicht noch nicht die ſchwierigſte,
ſo lange es ſich nur darum handelt, in demſelben Gebiete für die einheimiſche Bevölke-
rung mehr Lebensmittel zu erzeugen. Handelt es ſich dann aber um die höhere gewerb-
liche, Handels- und Verkehrsentwickelung, zuerſt um die Entſtehung von kleinen Städten,
Handwerk und lokalen Märkten, ſpäter um die Haus- und Fabrikinduſtrie, um Kanäle
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