Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Der Neumalthusianismus. Die älteren Wanderungen. Die Wanderungen der Menschen zerfallen in drei klar sich scheidende Epochen: a) Auch die rohesten Stämme haben da und dort unter günstigen Bedingungen Bei allen diesen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und b) Die seßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 12
Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen. Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen: α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
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Der Neumalthuſianismus. Die älteren Wanderungen.
Die Wanderungen der Menſchen zerfallen in drei klar ſich ſcheidende Epochen:
α) die roheren Naturvölker haben meiſt zum Boden noch kein feſtes Verhältnis, ſie
wandern häufig und geſchloſſen in Stämmen; β) die ſeßhaft gewordenen Völker ver-
lieren die Wanderluſt und -Fähigkeit zu einem erheblichen Teile, nur teilweiſe über ſie
ſie noch in der Form von Eroberung und Koloniſation aus; γ) die heutigen Kultur-
völker haben ſich erſt auf Grund der modernen Verkehrsmittel und des modernen
Völkerrechts zu einer ſteigenden Einzelaus- und -Einwanderung erhoben und haben
zugleich die Ausdehnung über die ganze Erde wieder als Koloniſatoren in großem Stile
aufgenommen.
α) Auch die roheſten Stämme haben da und dort unter günſtigen Bedingungen
an derſelben Stelle durch Generationen hindurch ſich aufgehalten. Aber ſo lange kein
Hausbeſitz von Wert, keine wertvoll gewordenen Acker-, Garten-, Wege- und Brunnen-
einrichtungen ſie feſſeln, laſſen ſie ſich leicht von Feinden weiter drängen, verlaſſen ſie
erſchöpfte Jagd-, Weide- und Ackergründe leicht, um beſſere zu ſuchen; ſie bedürfen
großer Flächen; kleine Zunahme treibt die Stämme oder Teile derſelben weiter; Beute-
luſt, Abenteurerſinn, dunkle Hoffnungen auf beſſere Exiſtenz wirken mit. Auch der
Herdenbeſitz und der primitive Ackerbau haben Jahrtauſende lang die Wanderungen
wohl etwas erſchwert, aber nicht verhindert. Die Indogermanen ſind von Mittelaſien
über ganz Europa, die Mongolen über Europa, Aſien und Amerika, die Malaien von
Madagaskar über Südaſien bis in die fernſten Inſeln des ſtillen Ozeans gewandert.
Faſt alle antike und die ältere mittelalterliche Staatenbildung knüpft an die Wande-
rungen der Kulturraſſen an. Auch die ſeit Jahrzehnten ſeßhaft gewordenen Völker
ſind leicht immer wieder ganz oder teilweiſe in Bewegung gekommen, wie wir in der
Völkerwanderung ſehen. Die Indogermanen hatten, wie Ihering an der Inſtitution
des ver sacrum der Römer nachzuweiſen ſucht, den an die Wanderſitte und Marſch-
organiſation der Halbnomaden ſich anſchließenden Brauch ausgebildet, zu beſtimmter
Zeit, wenn ihrer zu viele wurden, eine Auswahl junger Männer und Weiber, mit
Führern, Waffen und Vieh vom Hauptſtamme ausgeſtattet, hinauszuſenden, um ſich
eine neue Exiſtenz zu gründen. Ein Nachklang dieſer älteſten Wanderungen der Stämme
oder Stammesteile iſt es, wenn in den großen Eroberungsreichen des Orients eine
barbariſche Königsmacht ganze Stämme oder ihre Ariſtokratien und oberen Schichten zu
Tauſenden in ganz entfernte Landſchaften verſetzte, um ſo den nationalen Geiſt und
die Stammesorganiſation zu brechen. Und Ähnliches wiederholt ſich ſpäter in den ver-
ſchiedenſten Teilen der Erde von Karl d. Gr. bis in die centralamerikaniſchen Reiche
des 15.—16. Jahrhunderts.
Bei allen dieſen älteren Stammes- und Völkerbewegungen, wobei Hunderte und
Tauſende gemeinſam mit Weib und Kind, mit Hab und Gut, mit Vieh und Wagen
ſich kämpfend in Bewegung ſetzten, teils in leere Gebiete eindrangen, teils erobernd oder
geduldet in ſchon beſiedelte Länder vordrangen, andere Stämme oder Völker knechteten
oder vernichteten, handelte es ſich um halb- oder ganz kriegeriſche, von Häuptlingen
oder Königen geleitete Bewegungen, die ebenſo oft zum Untergang der Wanderer als
zu dem der von ihnen Bedrohten führten; alle dieſe Wanderungen haben durch Hunger,
Krankheit und Mißgeſchick aller Art ebenſo wie durch Kämpfe einen entſetzlichen Menſchen-
verbrauch herbeigeführt, aber daneben die kräftigſten Völker zur Herrſchaft und zum
Gedeihen in den für ſie paſſendſten Gebieten gebracht.
β) Die ſeßhaft gewordenen Völker verlieren die Wanderungs-, Eroberungs- und
Expanſionsfähigkeit in dem Maße, als die friedliche Ackerbaukultur ihnen gelingt, als
ſie einen im Werte ſteigenden Haus-, Acker-, Garten- und Baumbeſitz haben, als ſtarke
Nachbarn ſie umgeben. Einzelne ſpinnen ſich raſch in philiſterhafte Ruhe und in ein
behagliches örtliches Wirtſchaftsleben ein; andere behalten wenigſtens die Kraft, die
ihnen zugefallenen leeren Räume zu beſiedeln, die Waldungen zu roden und ſo die
Möglichkeit der Exiſtenz für eine wachſende Nachkommenſchaft zu ſchaffen. Wo Schiff-
fahrt und Handel blühen, oder kriegeriſcher Eroberungsgeiſt im Volke oder in einer
herrſchenden Klaſſe ſich erhält, da kann freilich lange auch bei im übrigen friedlich
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 12
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