Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. burten und von Menschen mit kurzem Leben die Zahl der produktiven Jahre ein-schränkt. Hätten wir eine Statistik der Naturvölker und früherer Zeiten, so würden wir In unseren Zahlen sprechen sich also zwei Bewegungen aus, die in gewissem Neben diesen allgemeinen Tendenzen, die wir in dem Altersaufbau wahrnehmen, 70. Das Geschlechtsverhältnis und die Verehelichung. Die zweite Auf das Gleichgewicht des männlichen und weiblichen Geschlechtes im ganzen wirkt Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. burten und von Menſchen mit kurzem Leben die Zahl der produktiven Jahre ein-ſchränkt. Hätten wir eine Statiſtik der Naturvölker und früherer Zeiten, ſo würden wir In unſeren Zahlen ſprechen ſich alſo zwei Bewegungen aus, die in gewiſſem Neben dieſen allgemeinen Tendenzen, die wir in dem Altersaufbau wahrnehmen, 70. Das Geſchlechtsverhältnis und die Verehelichung. Die zweite Auf das Gleichgewicht des männlichen und weiblichen Geſchlechtes im ganzen wirkt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0178" n="162"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> burten und von Menſchen mit kurzem Leben die Zahl der produktiven Jahre ein-<lb/> ſchränkt.</p><lb/> <p>Hätten wir eine Statiſtik der Naturvölker und früherer Zeiten, ſo würden wir<lb/> hier ohne Zweifel einen weſentlich jugendlicheren Altersaufbau ſehen. In unſerer Tabelle<lb/> ſtehen Bulgarier und Ungarn in reicher Beſetzung der Jugend voran; dann folgen<lb/> England und Deutſchland, während die Schweiz und Frankreich die reichſte Beſetzung<lb/> der Klaſſen von 20—60 Jahren und der Überſechzigjährigen haben. Unſere ganze<lb/> Tabelle und ſpeciell dieſe Relationen zeigen uns nun aber, daß ſie nicht bloß von<lb/> dieſer Tendenz beherrſcht ſind, daß die Lebensverlängerung und ſtärkere Beſetzung der<lb/> höheren Altersklaſſen nur ſo weit als ein unbedingtes Zeichen des Fortſchrittes ſich darſtellt,<lb/> wie man Völker mit gleicher Zunahme vergleicht. In unſerer Tabelle ſtehen aber faſt<lb/> ſtabile Völker, wie Frankreich, und raſch zunehmende, wie England und Deutſchland.<lb/> Die erſteren müſſen mehr alte, die letzteren mehr junge Leute haben; in Kolonialländern<lb/> tritt die Jugend noch mehr hervor. In den Vereinigten Staaten machen die unter<lb/> 15 jährigen 38, in Deutſchland 35 % aus.</p><lb/> <p>In unſeren Zahlen ſprechen ſich alſo zwei Bewegungen aus, die in gewiſſem<lb/> Sinne einander korrigieren: die Lebensverlängerung und reichere Altersbeſetzung der<lb/> höheren Kultur und die Verjugendlichung des Altersaufbaues durch eine raſche Zunahme<lb/> der Geſamtzahl. Wo dieſe Zunahme aufhört, und wo zugleich individueller Lebensgenuß<lb/> und kluge Bequemlichkeit die friſche Thatkraft lähmt, die Kinderzahl ſehr einſchränkt,<lb/> da erhalten wir das Bild einer Altersgliederung mit abnehmender Kinder-, zunehmender<lb/> Altenzahl, welche nicht mehr Fortſchritt, ſondern Stillſtand oder gar Auflöſung der<lb/> Geſellſchaft bedeutet. Ganz zurückgehende, abſterbende Völker haben zuletzt faſt gar keine<lb/> Kinder mehr, nur noch ältere Leute.</p><lb/> <p>Neben dieſen allgemeinen Tendenzen, die wir in dem Altersaufbau wahrnehmen,<lb/> können überall beſondere Umſtände, wie Kriege, große Krankheiten, ſtarke Aus- oder<lb/> Einwanderungszeiten auf beſtimmte Altersklaſſen eine Einwirkung ausüben. Die groß-<lb/> ſtädtiſche Bevölkerung erzeugt nicht nur meiſt weniger Kinder als die kleinſtädtiſche und<lb/> ländliche, ſie hat in der prozentualen Ausrechnung auch deshalb noch ſchmäler beſetzte<lb/> Klaſſen bis zu 15 Jahren, weil durch die höheren Schulen, die Lehrzeit, die große Zahl<lb/> von Dienſtboten und jungen Arbeitskräften die Prozentzahl der 15—30jährigen, meiſt<lb/> noch unverheirateten Altersklaſſen eine größere iſt als auf dem platten Lande. Wir<lb/> dürfen bei dieſen Einzelheiten nicht länger verweilen.</p><lb/> <p>70. <hi rendition="#g">Das Geſchlechtsverhältnis und die Verehelichung</hi>. Die zweite<lb/> große natürliche Unterſcheidung für die Beobachtung der Bevölkerung liegt im Geſchlecht.<lb/> Die ſtatiſtiſche Erfahrung giebt ein ſcheinbar einfaches Ergebnis: das in der Hauptſache<lb/> überall annähernd vorhandene, wie es ſcheint nach Störungen ſich wiederherſtellende<lb/> Gleichgewicht der beiden Geſchlechter, das ſich uns als eine große Ordnung der Natur<lb/> und als eine Grundbedingung unſerer Geſittung, unſeres Familienlebens darſtellt; wir<lb/> ſind aber bis jetzt nicht fähig, die Urſachen und die beſtimmte Art, wie dieſes Gleichgewicht<lb/> ſich erhält, zu erkennen. Wir ſehen nur, daß das einfache Ergebnis vielen kleinen Ab-<lb/> weichungen unterworfen iſt und ſich aus verſchiedenen Elementen zuſammenſetzt.</p><lb/> <p>Auf das Gleichgewicht des männlichen und weiblichen Geſchlechtes im ganzen wirkt<lb/> 1. die Zahl der männlichen und weiblichen Geburten und 2. die verſchiedene Sterblich-<lb/> keit und Auswanderung der beiden Geſchlechter in verſchiedenem Alter. Die Statiſtik<lb/> unſerer Kulturvölker zeigt, daß auf 100 Mädchen durchſchnittlich etwa 104—106 Knaben<lb/> geboren werden, daß bei der etwas größeren Sterblichkeit der letzteren das Gleichgewicht<lb/> gegen die Zeit der Geſchlechtsreife in der Regel erreicht iſt, und daß in den Staaten<lb/> mit ſtarkem Seemannsberuf, ſtarker männlicher Auswanderung, überhaupt mit ſtärkerem<lb/> Männerverbrauche dann die Frauen jedenfalls in den älteren Altersklaſſen und auch im<lb/> Geſamtdurchſchnitt die Männer etwas übertreffen. In England kommen auf 1000 über<lb/> 70 jährige Männer 1222 ſolche Weiber, in Deutſchland 1132; im Geſamtdurchſchnitt<lb/> aller Altersklaſſen dieſer zwei Länder auf 1000 Männer 1064 und 1040 Weiber, während<lb/> in Schleſien 1113, in Norwegen 1075, in Frankreich 1014 Frauen auf 1000 Männer<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [162/0178]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
burten und von Menſchen mit kurzem Leben die Zahl der produktiven Jahre ein-
ſchränkt.
Hätten wir eine Statiſtik der Naturvölker und früherer Zeiten, ſo würden wir
hier ohne Zweifel einen weſentlich jugendlicheren Altersaufbau ſehen. In unſerer Tabelle
ſtehen Bulgarier und Ungarn in reicher Beſetzung der Jugend voran; dann folgen
England und Deutſchland, während die Schweiz und Frankreich die reichſte Beſetzung
der Klaſſen von 20—60 Jahren und der Überſechzigjährigen haben. Unſere ganze
Tabelle und ſpeciell dieſe Relationen zeigen uns nun aber, daß ſie nicht bloß von
dieſer Tendenz beherrſcht ſind, daß die Lebensverlängerung und ſtärkere Beſetzung der
höheren Altersklaſſen nur ſo weit als ein unbedingtes Zeichen des Fortſchrittes ſich darſtellt,
wie man Völker mit gleicher Zunahme vergleicht. In unſerer Tabelle ſtehen aber faſt
ſtabile Völker, wie Frankreich, und raſch zunehmende, wie England und Deutſchland.
Die erſteren müſſen mehr alte, die letzteren mehr junge Leute haben; in Kolonialländern
tritt die Jugend noch mehr hervor. In den Vereinigten Staaten machen die unter
15 jährigen 38, in Deutſchland 35 % aus.
In unſeren Zahlen ſprechen ſich alſo zwei Bewegungen aus, die in gewiſſem
Sinne einander korrigieren: die Lebensverlängerung und reichere Altersbeſetzung der
höheren Kultur und die Verjugendlichung des Altersaufbaues durch eine raſche Zunahme
der Geſamtzahl. Wo dieſe Zunahme aufhört, und wo zugleich individueller Lebensgenuß
und kluge Bequemlichkeit die friſche Thatkraft lähmt, die Kinderzahl ſehr einſchränkt,
da erhalten wir das Bild einer Altersgliederung mit abnehmender Kinder-, zunehmender
Altenzahl, welche nicht mehr Fortſchritt, ſondern Stillſtand oder gar Auflöſung der
Geſellſchaft bedeutet. Ganz zurückgehende, abſterbende Völker haben zuletzt faſt gar keine
Kinder mehr, nur noch ältere Leute.
Neben dieſen allgemeinen Tendenzen, die wir in dem Altersaufbau wahrnehmen,
können überall beſondere Umſtände, wie Kriege, große Krankheiten, ſtarke Aus- oder
Einwanderungszeiten auf beſtimmte Altersklaſſen eine Einwirkung ausüben. Die groß-
ſtädtiſche Bevölkerung erzeugt nicht nur meiſt weniger Kinder als die kleinſtädtiſche und
ländliche, ſie hat in der prozentualen Ausrechnung auch deshalb noch ſchmäler beſetzte
Klaſſen bis zu 15 Jahren, weil durch die höheren Schulen, die Lehrzeit, die große Zahl
von Dienſtboten und jungen Arbeitskräften die Prozentzahl der 15—30jährigen, meiſt
noch unverheirateten Altersklaſſen eine größere iſt als auf dem platten Lande. Wir
dürfen bei dieſen Einzelheiten nicht länger verweilen.
70. Das Geſchlechtsverhältnis und die Verehelichung. Die zweite
große natürliche Unterſcheidung für die Beobachtung der Bevölkerung liegt im Geſchlecht.
Die ſtatiſtiſche Erfahrung giebt ein ſcheinbar einfaches Ergebnis: das in der Hauptſache
überall annähernd vorhandene, wie es ſcheint nach Störungen ſich wiederherſtellende
Gleichgewicht der beiden Geſchlechter, das ſich uns als eine große Ordnung der Natur
und als eine Grundbedingung unſerer Geſittung, unſeres Familienlebens darſtellt; wir
ſind aber bis jetzt nicht fähig, die Urſachen und die beſtimmte Art, wie dieſes Gleichgewicht
ſich erhält, zu erkennen. Wir ſehen nur, daß das einfache Ergebnis vielen kleinen Ab-
weichungen unterworfen iſt und ſich aus verſchiedenen Elementen zuſammenſetzt.
Auf das Gleichgewicht des männlichen und weiblichen Geſchlechtes im ganzen wirkt
1. die Zahl der männlichen und weiblichen Geburten und 2. die verſchiedene Sterblich-
keit und Auswanderung der beiden Geſchlechter in verſchiedenem Alter. Die Statiſtik
unſerer Kulturvölker zeigt, daß auf 100 Mädchen durchſchnittlich etwa 104—106 Knaben
geboren werden, daß bei der etwas größeren Sterblichkeit der letzteren das Gleichgewicht
gegen die Zeit der Geſchlechtsreife in der Regel erreicht iſt, und daß in den Staaten
mit ſtarkem Seemannsberuf, ſtarker männlicher Auswanderung, überhaupt mit ſtärkerem
Männerverbrauche dann die Frauen jedenfalls in den älteren Altersklaſſen und auch im
Geſamtdurchſchnitt die Männer etwas übertreffen. In England kommen auf 1000 über
70 jährige Männer 1222 ſolche Weiber, in Deutſchland 1132; im Geſamtdurchſchnitt
aller Altersklaſſen dieſer zwei Länder auf 1000 Männer 1064 und 1040 Weiber, während
in Schleſien 1113, in Norwegen 1075, in Frankreich 1014 Frauen auf 1000 Männer
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