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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Erstes Buch. Land, Leute und Technik.
Abweichung erfährt oder erfahren kann. Diese Abweichung ist unter Umständen eine
bloß individuelle, nicht sich weiter vererbende; sie kann aber, zumal wenn beide Eltern
unter denselben Nebenursachen stehen, wenn diese sich durch Generationen fortsetzen, wenn
die Modifikation sich mit dem vorherrschenden Typus gut verträgt und deshalb mit
ihm verschmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und
stärker geschehen, als diese Nebenursachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere
und in sich geschlossene Zahl von Menschen, die unter sich geschlechtlichen Verkehr haben,
lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befestigt sich dadurch, wird zu einem
neuen, besonderen Typus, der nun, sei es für immer, sei es für sehr lange Zeiten, sich
gleichmäßig erhält.

Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entstehung der verschiedenen
Rassen und Völker zu verstehen. Der Streit darüber, ob die heute lebenden 1500
Millionen Menschen einheitlichen oder mehrfachen Ursprunges seien, ist freilich noch nicht
geschlichtet; manche Naturforscher leugnen die Einheit, Darwin bejaht sie. Die Wahr-
scheinlichkeit, daß die amerikanischen Ureinwohner mongolischer Abkunft seien, spricht für
sie. Ebenso die Thatsache, daß fast alle Rassen sich gegenseitig mit Erfolg begatten,
daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und
Waffen, der sittlichen Vorstellungen und Gesellschaftseinrichtungen doch bei allen eine
ähnliche ist, daß alle Rassen in eine gewisse Wechselwirkung treten. Wenn daneben die
Natur- und die Kulturvölker, die passiven und die aktiven Rassen außerordentlich große
Unterschiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der
höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, so beweist das nicht sowohl gegen die
Einheit als für die große Verschiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent-
wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortschritt der höheren Rassen. Die
niederen sieht man heute allgemein als den Typus der ältesten Menschenart an, welchen
wahrscheinlich manche noch niedriger stehende ausgestorbene vorangingen.

Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozesses der Rassen und Völker, bei
dem großen Einfluß der unten noch zu besprechenden Rassenmischung ist es naheliegend,
daß alle Versuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu schaffen durch eine Einteilung je
nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und
-Farbe, Heimatland und Sprache scheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht
mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenrassen es gebe: die abend-
ländische, weiße (kaukasische) und die mongolische, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die
schwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menschen sind jedenfalls die wichtigsten.

Daß die verschiedenen Rassen ausschließlich oder ganz überwiegend durch den natür-
lichen Daseinskampf der Individuen und Gruppen und die geschlechtliche Zuchtwahl,
durch welche jeweilig die höchststehenden Männer und Weiber sich begatteten und eine
höher stehende, sich den Lebensbedingungen besser anpassende Nachkommenschaft erzielten,
entstanden seien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben sein. Darwin
selbst hat seine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daseinskampf
hat sicher viele schwächere Stämme vernichtet; innerhalb derselben hat er zumal früher
keine große Rolle gespielt, wie wir schon sahen; die geschlechtliche Zuchtwahl hat inner-
halb der Völker wohl einzelne Familien und Klassen emporgehoben, die aber keineswegs
dann immer die kinderreichsten waren; sie kann einzelne Rassen verändert haben; wie
sie die Rassen- und Völkerscheidung beherrscht oder beeinflußt habe, ist nicht recht
ersichtlich. Ansprechender scheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner,
welche die Darwinsche nicht negiert, sondern als Bestandteil, aber von geringerer Be-
deutung, einschließt. Dieser große Reisende und Naturforscher verlegt mit vielen anderen
die Entstehung des eigentlichen Menschen in das Ende der Tertiärzeit, also in eine
Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für
alle organischen Wesen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebewesen und
speciell der Menschen an; er läßt die Menschenrassen, wie die Tier- und Pflanzenarten
durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verschiedenen Welt-
teilen mit verschiedenem Klima, verschiedenen Lebensbedingungen in eben dieser Zeit

Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden eine
bloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern
unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn
die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit
ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und
ſtärker geſchehen, als dieſe Nebenurſachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere
und in ſich geſchloſſene Zahl von Menſchen, die unter ſich geſchlechtlichen Verkehr haben,
lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befeſtigt ſich dadurch, wird zu einem
neuen, beſonderen Typus, der nun, ſei es für immer, ſei es für ſehr lange Zeiten, ſich
gleichmäßig erhält.

Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entſtehung der verſchiedenen
Raſſen und Völker zu verſtehen. Der Streit darüber, ob die heute lebenden 1500
Millionen Menſchen einheitlichen oder mehrfachen Urſprunges ſeien, iſt freilich noch nicht
geſchlichtet; manche Naturforſcher leugnen die Einheit, Darwin bejaht ſie. Die Wahr-
ſcheinlichkeit, daß die amerikaniſchen Ureinwohner mongoliſcher Abkunft ſeien, ſpricht für
ſie. Ebenſo die Thatſache, daß faſt alle Raſſen ſich gegenſeitig mit Erfolg begatten,
daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und
Waffen, der ſittlichen Vorſtellungen und Geſellſchaftseinrichtungen doch bei allen eine
ähnliche iſt, daß alle Raſſen in eine gewiſſe Wechſelwirkung treten. Wenn daneben die
Natur- und die Kulturvölker, die paſſiven und die aktiven Raſſen außerordentlich große
Unterſchiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der
höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, ſo beweiſt das nicht ſowohl gegen die
Einheit als für die große Verſchiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent-
wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortſchritt der höheren Raſſen. Die
niederen ſieht man heute allgemein als den Typus der älteſten Menſchenart an, welchen
wahrſcheinlich manche noch niedriger ſtehende ausgeſtorbene vorangingen.

Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei
dem großen Einfluß der unten noch zu beſprechenden Raſſenmiſchung iſt es naheliegend,
daß alle Verſuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu ſchaffen durch eine Einteilung je
nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und
-Farbe, Heimatland und Sprache ſcheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht
mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenraſſen es gebe: die abend-
ländiſche, weiße (kaukaſiſche) und die mongoliſche, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die
ſchwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menſchen ſind jedenfalls die wichtigſten.

Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür-
lichen Daſeinskampf der Individuen und Gruppen und die geſchlechtliche Zuchtwahl,
durch welche jeweilig die höchſtſtehenden Männer und Weiber ſich begatteten und eine
höher ſtehende, ſich den Lebensbedingungen beſſer anpaſſende Nachkommenſchaft erzielten,
entſtanden ſeien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben ſein. Darwin
ſelbſt hat ſeine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daſeinskampf
hat ſicher viele ſchwächere Stämme vernichtet; innerhalb derſelben hat er zumal früher
keine große Rolle geſpielt, wie wir ſchon ſahen; die geſchlechtliche Zuchtwahl hat inner-
halb der Völker wohl einzelne Familien und Klaſſen emporgehoben, die aber keineswegs
dann immer die kinderreichſten waren; ſie kann einzelne Raſſen verändert haben; wie
ſie die Raſſen- und Völkerſcheidung beherrſcht oder beeinflußt habe, iſt nicht recht
erſichtlich. Anſprechender ſcheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner,
welche die Darwinſche nicht negiert, ſondern als Beſtandteil, aber von geringerer Be-
deutung, einſchließt. Dieſer große Reiſende und Naturforſcher verlegt mit vielen anderen
die Entſtehung des eigentlichen Menſchen in das Ende der Tertiärzeit, alſo in eine
Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für
alle organiſchen Weſen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebeweſen und
ſpeciell der Menſchen an; er läßt die Menſchenraſſen, wie die Tier- und Pflanzenarten
durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verſchiedenen Welt-
teilen mit verſchiedenem Klima, verſchiedenen Lebensbedingungen in eben dieſer Zeit

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[142/0158] Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden eine bloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und ſtärker geſchehen, als dieſe Nebenurſachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere und in ſich geſchloſſene Zahl von Menſchen, die unter ſich geſchlechtlichen Verkehr haben, lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befeſtigt ſich dadurch, wird zu einem neuen, beſonderen Typus, der nun, ſei es für immer, ſei es für ſehr lange Zeiten, ſich gleichmäßig erhält. Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entſtehung der verſchiedenen Raſſen und Völker zu verſtehen. Der Streit darüber, ob die heute lebenden 1500 Millionen Menſchen einheitlichen oder mehrfachen Urſprunges ſeien, iſt freilich noch nicht geſchlichtet; manche Naturforſcher leugnen die Einheit, Darwin bejaht ſie. Die Wahr- ſcheinlichkeit, daß die amerikaniſchen Ureinwohner mongoliſcher Abkunft ſeien, ſpricht für ſie. Ebenſo die Thatſache, daß faſt alle Raſſen ſich gegenſeitig mit Erfolg begatten, daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und Waffen, der ſittlichen Vorſtellungen und Geſellſchaftseinrichtungen doch bei allen eine ähnliche iſt, daß alle Raſſen in eine gewiſſe Wechſelwirkung treten. Wenn daneben die Natur- und die Kulturvölker, die paſſiven und die aktiven Raſſen außerordentlich große Unterſchiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, ſo beweiſt das nicht ſowohl gegen die Einheit als für die große Verſchiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent- wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortſchritt der höheren Raſſen. Die niederen ſieht man heute allgemein als den Typus der älteſten Menſchenart an, welchen wahrſcheinlich manche noch niedriger ſtehende ausgeſtorbene vorangingen. Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei dem großen Einfluß der unten noch zu beſprechenden Raſſenmiſchung iſt es naheliegend, daß alle Verſuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu ſchaffen durch eine Einteilung je nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und -Farbe, Heimatland und Sprache ſcheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenraſſen es gebe: die abend- ländiſche, weiße (kaukaſiſche) und die mongoliſche, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die ſchwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menſchen ſind jedenfalls die wichtigſten. Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür- lichen Daſeinskampf der Individuen und Gruppen und die geſchlechtliche Zuchtwahl, durch welche jeweilig die höchſtſtehenden Männer und Weiber ſich begatteten und eine höher ſtehende, ſich den Lebensbedingungen beſſer anpaſſende Nachkommenſchaft erzielten, entſtanden ſeien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben ſein. Darwin ſelbſt hat ſeine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daſeinskampf hat ſicher viele ſchwächere Stämme vernichtet; innerhalb derſelben hat er zumal früher keine große Rolle geſpielt, wie wir ſchon ſahen; die geſchlechtliche Zuchtwahl hat inner- halb der Völker wohl einzelne Familien und Klaſſen emporgehoben, die aber keineswegs dann immer die kinderreichſten waren; ſie kann einzelne Raſſen verändert haben; wie ſie die Raſſen- und Völkerſcheidung beherrſcht oder beeinflußt habe, iſt nicht recht erſichtlich. Anſprechender ſcheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner, welche die Darwinſche nicht negiert, ſondern als Beſtandteil, aber von geringerer Be- deutung, einſchließt. Dieſer große Reiſende und Naturforſcher verlegt mit vielen anderen die Entſtehung des eigentlichen Menſchen in das Ende der Tertiärzeit, alſo in eine Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für alle organiſchen Weſen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebeweſen und ſpeciell der Menſchen an; er läßt die Menſchenraſſen, wie die Tier- und Pflanzenarten durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verſchiedenen Welt- teilen mit verſchiedenem Klima, verſchiedenen Lebensbedingungen in eben dieſer Zeit

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/158>, abgerufen am 28.03.2024.