J. St. Mill, der unsere Wissenschaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs- triebe ableiten will, den seinem nationalökonomischen Grundprincipe ins Gesicht schlagenden Satz aus: es giebt keinen allgemein menschlichen Charakter, eine von Engländern abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzosen angewandt werden; wir müssen allgemeine Gesetze über die Bildung des Charakters suchen und finden: "die Gesetze des nationalen Charakters sind die wichtigste Klasse von sociologischen Gesetzen".
Je realistischer die Staatswissenschaften geworden sind, desto mehr machten sich Versuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un- glücklichen Versuch, aus einer naturphilosophisch konstruierten Rassenlehre ein wirt- schaftlich-politisches Entwickelungsgesetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus Rassentheorien; dieser geistvolle Schriftsteller hat das Verdienst, die historische Bedeutung der Rassenunterschiede erkannt und mit Gelehrsamkeit belegt zu haben; aber indem er allen Fortschritt auf arisches Blut, allen Rückschritt auf die zu starke Mischung der höheren mit den niederen Rassen zurückführt, überhaupt seiner aristokratischen und pessimistischen Tendenz die Zügel schießen läßt, nehmen seine Ausführungen teilweise doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichterischer Phantasie an. Im ganzen ist mit solchen Versuchen für Staatslehre und Volkswirtschaft bisher nicht viel erreicht worden; es fehlte ihnen die gesicherte empirische Grundlage. Die Wissenschaften der Anthropologie und Ethnographie sind noch gar jung. Und erst nachdem sie und die vergleichende Sprachwissenschaft ausgebildet waren, konnte auch die Geschichts- und Staatswissenschaft beginnen, ihre Blicke auf die Rassenfrage zu werfen.
Cooks Reisen 1762--1779 begannen die Aufmerksamkeit auf die sogenannten Naturvölker zu lenken. Herder versuchte dann vom spekulativen, Blumenbach vom natur- wissenschaftlichen Standpunkte die Rassen- und Völkerunterschiede zu fassen. Erst in den letzten zwei oder drei Menschenaltern haben forschende Reisende ein halbwegs ausreichendes deskriptives Material gesammelt; die Biologen und Naturforscher haben die körperlichen Seiten desselben, die Philosophen, Geographen und Ethnologen die psychologischen und sittengeschichtlichen einer strengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeschichte, Sprachvergleichung, Völkerpsychologie und andere Wissenszweige kamen hinzu: die Ethnographie oder Völkerkunde entstand neben der etwas älteren, mehr naturwissenschaft- lichen Anthropologie. Und so ist heute ein großes, teilweise schon bearbeitetes Material aus dem Gebiete der Rassen- und Völkerbeschreibung und -Vergleichung vorhanden, das der Verwertung für gesellschaftswissenschaftliche Resultate harrt. Leicht wird sie freilich nicht sein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch wesentlich an den über- wiegend naturwissenschaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme sind noch bestritten, teilweise unaufgeklärt; die Klassifizierung der Erscheinungen und die daraus sich ergebenden Schlüsse sind noch wenig vollendet. Dennoch müssen wir versuchen, einige der Grundfragen hier zu besprechen, welche auf die wichtigsten volkswirtschaft- lichen und gesellschaftswissenschaftlichen Probleme einen beherrschenden Einfluß haben; daran schließen wir dann einen kurzen Überblick über die Resultate der Völkerkunde, um die anthropologischen und psychologischen Ausgangspunkte für vergleichende Be- trachtung der verschiedenen Rassen- und Völkertypen, für ihr verschiedenes Handeln und ihre verschiedenen volkswirtschaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.
59. Die verschiedenen Rassen und Völker und das Princip der Vererbung. Wir sehen heute eine kleine Zahl von Rassen, d. h. Gruppen von ver- schiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch seit Jahrtausenden einen im ganzen einheitlichen körperlichen und geistigen Typus darstellen, welche wir in sich als bluts- verwandt betrachten, auf einheitliche Abstammung zurückführen; und daneben eine große Zahl Unterrassen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Rassen ansehen, welche je als Spielarten der Rassen in sich einen trotz aller Mischung doch homogeneren körperlichen und geistigen Charakter als die Rassen zeigen. Wir können nur annehmen, daß die vorhandene Übereinstimmung innerhalb der Rassen und der Völker auf dem Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, so auch die Menschen in der Hauptsache ihre Eigenschaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs- triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“.
Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich Verſuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un- glücklichen Verſuch, aus einer naturphiloſophiſch konſtruierten Raſſenlehre ein wirt- ſchaftlich-politiſches Entwickelungsgeſetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus Raſſentheorien; dieſer geiſtvolle Schriftſteller hat das Verdienſt, die hiſtoriſche Bedeutung der Raſſenunterſchiede erkannt und mit Gelehrſamkeit belegt zu haben; aber indem er allen Fortſchritt auf ariſches Blut, allen Rückſchritt auf die zu ſtarke Miſchung der höheren mit den niederen Raſſen zurückführt, überhaupt ſeiner ariſtokratiſchen und peſſimiſtiſchen Tendenz die Zügel ſchießen läßt, nehmen ſeine Ausführungen teilweiſe doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichteriſcher Phantaſie an. Im ganzen iſt mit ſolchen Verſuchen für Staatslehre und Volkswirtſchaft bisher nicht viel erreicht worden; es fehlte ihnen die geſicherte empiriſche Grundlage. Die Wiſſenſchaften der Anthropologie und Ethnographie ſind noch gar jung. Und erſt nachdem ſie und die vergleichende Sprachwiſſenſchaft ausgebildet waren, konnte auch die Geſchichts- und Staatswiſſenſchaft beginnen, ihre Blicke auf die Raſſenfrage zu werfen.
Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten Naturvölker zu lenken. Herder verſuchte dann vom ſpekulativen, Blumenbach vom natur- wiſſenſchaftlichen Standpunkte die Raſſen- und Völkerunterſchiede zu faſſen. Erſt in den letzten zwei oder drei Menſchenaltern haben forſchende Reiſende ein halbwegs ausreichendes deſkriptives Material geſammelt; die Biologen und Naturforſcher haben die körperlichen Seiten desſelben, die Philoſophen, Geographen und Ethnologen die pſychologiſchen und ſittengeſchichtlichen einer ſtrengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeſchichte, Sprachvergleichung, Völkerpſychologie und andere Wiſſenszweige kamen hinzu: die Ethnographie oder Völkerkunde entſtand neben der etwas älteren, mehr naturwiſſenſchaft- lichen Anthropologie. Und ſo iſt heute ein großes, teilweiſe ſchon bearbeitetes Material aus dem Gebiete der Raſſen- und Völkerbeſchreibung und -Vergleichung vorhanden, das der Verwertung für geſellſchaftswiſſenſchaftliche Reſultate harrt. Leicht wird ſie freilich nicht ſein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch weſentlich an den über- wiegend naturwiſſenſchaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme ſind noch beſtritten, teilweiſe unaufgeklärt; die Klaſſifizierung der Erſcheinungen und die daraus ſich ergebenden Schlüſſe ſind noch wenig vollendet. Dennoch müſſen wir verſuchen, einige der Grundfragen hier zu beſprechen, welche auf die wichtigſten volkswirtſchaft- lichen und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Probleme einen beherrſchenden Einfluß haben; daran ſchließen wir dann einen kurzen Überblick über die Reſultate der Völkerkunde, um die anthropologiſchen und pſychologiſchen Ausgangspunkte für vergleichende Be- trachtung der verſchiedenen Raſſen- und Völkertypen, für ihr verſchiedenes Handeln und ihre verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.
59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der Vererbung. Wir ſehen heute eine kleine Zahl von Raſſen, d. h. Gruppen von ver- ſchiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch ſeit Jahrtauſenden einen im ganzen einheitlichen körperlichen und geiſtigen Typus darſtellen, welche wir in ſich als bluts- verwandt betrachten, auf einheitliche Abſtammung zurückführen; und daneben eine große Zahl Unterraſſen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Raſſen anſehen, welche je als Spielarten der Raſſen in ſich einen trotz aller Miſchung doch homogeneren körperlichen und geiſtigen Charakter als die Raſſen zeigen. Wir können nur annehmen, daß die vorhandene Übereinſtimmung innerhalb der Raſſen und der Völker auf dem Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, ſo auch die Menſchen in der Hauptſache ihre Eigenſchaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-
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Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-
triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden
Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern
abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine
Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen
Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“.
Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich
Verſuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un-
glücklichen Verſuch, aus einer naturphiloſophiſch konſtruierten Raſſenlehre ein wirt-
ſchaftlich-politiſches Entwickelungsgeſetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus
Raſſentheorien; dieſer geiſtvolle Schriftſteller hat das Verdienſt, die hiſtoriſche Bedeutung
der Raſſenunterſchiede erkannt und mit Gelehrſamkeit belegt zu haben; aber indem er
allen Fortſchritt auf ariſches Blut, allen Rückſchritt auf die zu ſtarke Miſchung der
höheren mit den niederen Raſſen zurückführt, überhaupt ſeiner ariſtokratiſchen und
peſſimiſtiſchen Tendenz die Zügel ſchießen läßt, nehmen ſeine Ausführungen teilweiſe
doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichteriſcher Phantaſie an. Im
ganzen iſt mit ſolchen Verſuchen für Staatslehre und Volkswirtſchaft bisher nicht viel
erreicht worden; es fehlte ihnen die geſicherte empiriſche Grundlage. Die Wiſſenſchaften
der Anthropologie und Ethnographie ſind noch gar jung. Und erſt nachdem ſie und
die vergleichende Sprachwiſſenſchaft ausgebildet waren, konnte auch die Geſchichts- und
Staatswiſſenſchaft beginnen, ihre Blicke auf die Raſſenfrage zu werfen.
Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten
Naturvölker zu lenken. Herder verſuchte dann vom ſpekulativen, Blumenbach vom natur-
wiſſenſchaftlichen Standpunkte die Raſſen- und Völkerunterſchiede zu faſſen. Erſt in den
letzten zwei oder drei Menſchenaltern haben forſchende Reiſende ein halbwegs ausreichendes
deſkriptives Material geſammelt; die Biologen und Naturforſcher haben die körperlichen
Seiten desſelben, die Philoſophen, Geographen und Ethnologen die pſychologiſchen und
ſittengeſchichtlichen einer ſtrengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeſchichte,
Sprachvergleichung, Völkerpſychologie und andere Wiſſenszweige kamen hinzu: die
Ethnographie oder Völkerkunde entſtand neben der etwas älteren, mehr naturwiſſenſchaft-
lichen Anthropologie. Und ſo iſt heute ein großes, teilweiſe ſchon bearbeitetes Material
aus dem Gebiete der Raſſen- und Völkerbeſchreibung und -Vergleichung vorhanden, das
der Verwertung für geſellſchaftswiſſenſchaftliche Reſultate harrt. Leicht wird ſie freilich
nicht ſein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch weſentlich an den über-
wiegend naturwiſſenſchaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme ſind noch
beſtritten, teilweiſe unaufgeklärt; die Klaſſifizierung der Erſcheinungen und die daraus
ſich ergebenden Schlüſſe ſind noch wenig vollendet. Dennoch müſſen wir verſuchen,
einige der Grundfragen hier zu beſprechen, welche auf die wichtigſten volkswirtſchaft-
lichen und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Probleme einen beherrſchenden Einfluß haben;
daran ſchließen wir dann einen kurzen Überblick über die Reſultate der Völkerkunde,
um die anthropologiſchen und pſychologiſchen Ausgangspunkte für vergleichende Be-
trachtung der verſchiedenen Raſſen- und Völkertypen, für ihr verſchiedenes Handeln und
ihre verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.
59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der
Vererbung. Wir ſehen heute eine kleine Zahl von Raſſen, d. h. Gruppen von ver-
ſchiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch ſeit Jahrtauſenden einen im ganzen
einheitlichen körperlichen und geiſtigen Typus darſtellen, welche wir in ſich als bluts-
verwandt betrachten, auf einheitliche Abſtammung zurückführen; und daneben eine große
Zahl Unterraſſen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Raſſen anſehen, welche
je als Spielarten der Raſſen in ſich einen trotz aller Miſchung doch homogeneren
körperlichen und geiſtigen Charakter als die Raſſen zeigen. Wir können nur annehmen,
daß die vorhandene Übereinſtimmung innerhalb der Raſſen und der Völker auf dem
Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, ſo auch die
Menſchen in der Hauptſache ihre Eigenſchaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/156>, abgerufen am 27.07.2024.
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