Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Ältere empirische Forschung. Reaktion gegen das Naturrecht. Geburts-, Sterbe- und Heiratslisten allgemein verständlich machte und in ihrer allgemeinenstaats- und gesellschaftswissenschaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er sich dabei als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Christ zeigte, der in der Regelmäßigkeit seiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorsehung sah, so steigerte er damit den Einfluß seines zeitgemäßen Buches, ohne den wissenschaftlichen Resultaten wesentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empirischer Forschung auf dem Gebiete der Staats- und Gesellschaftswissenschaften. Die spätere Ausbildung der eigentlichen Statistik knüpft an ihn und seine Vorgänger an. -- Unter den Schriftstellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrschenden Ebenso wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich- Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 8
Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht. Geburts-, Sterbe- und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinenſtaats- und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung auf dem Gebiete der Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an. — Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich- Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8
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Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden<lb/> Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit<lb/> vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet<lb/> wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur<lb/> Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen<lb/> überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani<lb/> mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten<lb/> (<hi rendition="#aq">Oeuvres,</hi> 1820), in Deutſchland J. G. 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Und<lb/> die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770—1840) von Spittler, Beckmann, Meiners,<lb/> Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe<lb/> echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt-<lb/> ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks-<lb/> wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an.</p><lb/> <p>Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich-<lb/> individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen<lb/> Staats- und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er-<lb/> ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder-<lb/> grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution<lb/> machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden<lb/> Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen<lb/> Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen<lb/> gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie<lb/> auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten,<lb/> wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans<lb/> Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der<lb/> Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816—1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel-<lb/> alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol.<lb/> Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths<lb/> vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks-<lb/> wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel-<lb/> wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit<lb/> der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere<lb/> gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine<lb/> und Schellings Staats- und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten<lb/> beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt.<lb/> Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen<lb/> Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der<lb/> Staatswiſſenſchaft, 1852—54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwiſſen-<lb/> <fw type="sig" place="bottom"><hi rendition="#g">Schmoller</hi>, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. <hi rendition="#aq">I.</hi> 8</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [113/0129]
Ältere empiriſche Forſchung. Reaktion gegen das Naturrecht.
Geburts-, Sterbe- und Heiratsliſten allgemein verſtändlich machte und in ihrer allgemeinen
ſtaats- und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Bedeutung erkennen ließ. Wenn er ſich dabei
als Schwärmer für Bevölkerungszunahme und als frommer Chriſt zeigte, der in der
Regelmäßigkeit ſeiner Zahlen den Beweis der göttlichen Vorſehung ſah, ſo ſteigerte er
damit den Einfluß ſeines zeitgemäßen Buches, ohne den wiſſenſchaftlichen Reſultaten
weſentlich Eintrag zu thun. Er bleibt einer der Hauptbegründer empiriſcher Forſchung
auf dem Gebiete der Staats- und Geſellſchaftswiſſenſchaften. Die ſpätere Ausbildung
der eigentlichen Statiſtik knüpft an ihn und ſeine Vorgänger an. —
Unter den Schriftſtellern des 18. Jahrhunderts, die nicht zu den damals herrſchenden
Schulen gehörten, die, mehr dem praktiſchen Leben zugewandt, über einzelne Fragen mit
vollendeter Sachkenntnis ſchrieben und von den Doktrinären häufig als Eklektiker bezeichnet
wurden, können mehrere an Geiſt und Urteil den großen Syſtematikern ebenbürtig zur
Seite geſtellt werden und müſſen vom heutigen methodologiſchen Standpunkte als ihnen
überlegen, als vorſichtige und zuverläſſige Forſcher bezeichnet werden. So z. B. Galiani
mit ſeiner Schrift über den Getreidehandel (1769) und Necker mit ſeinen Arbeiten
(Oeuvres, 1820), in Deutſchland J. G. Büſch mit ſeinen Unterſuchungen über Handel
und Geldumlauf (Schriften über Staatswirtſchaft und Handlung, 3 Bde., 1780 und 1800;
Theoretiſch-praktiſche Darſtellung der Handlung, 2 Bde., 1792, Zuſätze dazu, 3 Bde., 1797;
Sämtliche Schriften über Banken und Münzweſen, 1801, ꝛc.) und Struenſee mit ſeinen
Abhandlungen (Über wichtige Gegenſtände der Staatswirtſchaft, 3 Bde., 1800). Juſtus
Möſers Proteſt gegen die flache individualiſtiſche Aufklärung, ſein hiſtoriſcher Sinn, ſein
Verſtändnis des Volkstümlichen und Praktiſchen, ſowie der älteren wirtſchaftlich-ſtändiſchen
Einrichtungen giebt ſeinen Schriften (hauptſächlich 1767—70, Geſ. Werke 1842) die Be-
deutung eines ſtarken Gegenſtoßes gegen die damals herrſchenden Schulmeinungen. Und
die Göttinger kulturhiſtoriſche Schule (1770—1840) von Spittler, Beckmann, Meiners,
Heeren, Hüllmann, Hegewiſch, Anton, Sartorius hat, obwohl ihre Vertreter teilweiſe
echte Smithianer waren, doch inſofern eine ähnliche Bedeutung, als ſie eine Reihe wirt-
ſchaftsgeſchichtlicher Monographien und Bauſteine für eine ſpätere hiſtoriſche Volks-
wirtſchaftslehre lieferten; an ſie knüpfte Roſcher direkt an.
Ebenſo wichtig aber war, daß allerwärts die Reaktion gegen die naturrechtlich-
individualiſtiſchen Theorien und den naiven Optimismus der Liberalen zu einer hiſtoriſchen
Staats- und Geſellſchaftsauffaſſung führte, welche auch auf alle volkswirtſchaftlichen Er-
ſcheinungen ein anderes Licht warf, andere Punkte und Zuſammenhänge in den Vorder-
grund rückte. Burkes realiſtiſcher Sinn und ſeine Verurteilung der franzöſiſchen Revolution
machte in England ebenſo Eindruck, wie in Frankreich die romantiſch-katholiſierenden
Schriften J. de Maiſtres und L. G. de Bonalds; ſie hatten auf den franzöſiſchen
Socialismus und A. Comte, ſeine poſitiviſtiſche Sociologie, ſeine Angriffe auf die ſtehen
gebliebene abſtrakte Nationalökonomie erheblichen Einfluß; eine Art Nationalökonomie
auf chriſtlicher Grundlage entſtand in Frankreich, und ſie fand in den Halbſocialiſten,
wie Sismondi, und in den Schutzzöllnern, wie Ganilh, Louis Say, St. Chamans
Geſinnungsgenoſſen. In Deutſchland verherrlichte K. L. von Haller (Reſtauration der
Staatswiſſenſchaften, 6 Bde., 1816—1834) in ſeiner realiſtiſchen Gewalttheorie mittel-
alterliche Zuſtände, griff A. Müller (Elemente der Staatskunſt, 3 Bde., 1809; Theol.
Grundlage d. geſ. Staatsw., 1819) die international-kosmopolitiſchen Theorien Smiths
vom Standpunkt der Nationalität, der ſittlich-geiſtigen Zuſammenhänge an; die Volks-
wirtſchaft iſt ihm ein organiſches, durch Arbeitsteilung getrenntes, durch ſittliche Wechſel-
wirkung wieder zu verknüpfendes Ganzes. G. W. F. Hegel, der im Staate die Wirklichkeit
der ſittlichen Idee ſah, die bürgerliche Geſellſchaft dem Staate als das Unvollkommenere
gegenüberſetzte, mußte die Extreme der Handels- und Gewerbefreiheit bekämpfen. Seine
und Schellings Staats- und Geſchichtauffaſſung haben einen Teil der deutſchen Socialiſten
beherrſcht, wie die ganze deutſche Geſchichtſchreibung und Staatswiſſenſchaft beeinflußt.
Am direkteſten hängt L. v. Stein mit ihm zuſammen. Dieſer geht in allen ſeinen
Werken (Socialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs, 1842; Syſtem der
Staatswiſſenſchaft, 1852—54; Verwaltungslehre, 1868 ff.; Lehrbuch der Finanzwiſſen-
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 8
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Zitationshilfe: | Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/129>, abgerufen am 02.03.2025. |