Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Volkswirtschaftliche Gesetze. Wesen der Deduktion. nur die regelmäßig und typisch sich wiederholenden Erscheinungsreihen: das sind die so-genannten empirischen Gesetze, deren Kausalverhältnisse entweder noch gar nicht aufgedeckt oder wenigstens noch nicht quantitativ gemessen sind. Wirkliche Gesetze, d. h. Kausalverbin- dungen, deren konstante Wirkungsweise wir nicht bloß kennen, sondern auch quantitativ bestimmt haben, kennt auch die Naturwissenschaft erst wenige. Die Erfassung psychischer Kräfte wird sich quantitativer Messung wohl für immer entziehen. Es ist aber jeden- falls charakteristisch, daß wir auch in der Volkswirtschaftslehre diejenigen aufgedeckten Kausalzusammenhänge mit Vorliebe Gesetze nennen, bei denen wenigstens Versuche vor- liegen, die Massenwirkung der psychisch-socialen Kräfte in konstanten oder in bestimmter Proportion sich ändernden Zahlenergebnissen zu messen: ich erinnere an die Ausdrücke Bevölkerungsgesetz, Lohngesetz, Preisgesetz, Gesetz der Grundrente. Ein letztes einheitliches Gesetz volkswirtschaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht Was wir erreicht haben, ist ebenso sehr Folge deduktiver als induktiver Schlüsse. Die Deduktion geht von feststehenden analytischen oder synthetischen Wahrheiten Auch wo man noch weniger weit ist, wo man noch viele Kausalitätsverhältnisse Volkswirtſchaftliche Geſetze. Weſen der Deduktion. nur die regelmäßig und typiſch ſich wiederholenden Erſcheinungsreihen: das ſind die ſo-genannten empiriſchen Geſetze, deren Kauſalverhältniſſe entweder noch gar nicht aufgedeckt oder wenigſtens noch nicht quantitativ gemeſſen ſind. Wirkliche Geſetze, d. h. Kauſalverbin- dungen, deren konſtante Wirkungsweiſe wir nicht bloß kennen, ſondern auch quantitativ beſtimmt haben, kennt auch die Naturwiſſenſchaft erſt wenige. Die Erfaſſung pſychiſcher Kräfte wird ſich quantitativer Meſſung wohl für immer entziehen. Es iſt aber jeden- falls charakteriſtiſch, daß wir auch in der Volkswirtſchaftslehre diejenigen aufgedeckten Kauſalzuſammenhänge mit Vorliebe Geſetze nennen, bei denen wenigſtens Verſuche vor- liegen, die Maſſenwirkung der pſychiſch-ſocialen Kräfte in konſtanten oder in beſtimmter Proportion ſich ändernden Zahlenergebniſſen zu meſſen: ich erinnere an die Ausdrücke Bevölkerungsgeſetz, Lohngeſetz, Preisgeſetz, Geſetz der Grundrente. Ein letztes einheitliches Geſetz volkswirtſchaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht Was wir erreicht haben, iſt ebenſo ſehr Folge deduktiver als induktiver Schlüſſe. Die Deduktion geht von feſtſtehenden analytiſchen oder ſynthetiſchen Wahrheiten Auch wo man noch weniger weit iſt, wo man noch viele Kauſalitätsverhältniſſe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0125" n="109"/><fw place="top" type="header">Volkswirtſchaftliche Geſetze. Weſen der Deduktion.</fw><lb/> nur die regelmäßig und typiſch ſich wiederholenden Erſcheinungsreihen: das ſind die ſo-<lb/> genannten empiriſchen Geſetze, deren Kauſalverhältniſſe entweder noch gar nicht aufgedeckt oder<lb/> wenigſtens noch nicht quantitativ gemeſſen ſind. Wirkliche Geſetze, d. h. Kauſalverbin-<lb/> dungen, deren konſtante Wirkungsweiſe wir nicht bloß kennen, ſondern auch quantitativ<lb/> beſtimmt haben, kennt auch die Naturwiſſenſchaft erſt wenige. Die Erfaſſung pſychiſcher<lb/> Kräfte wird ſich quantitativer Meſſung wohl für immer entziehen. Es iſt aber jeden-<lb/> falls charakteriſtiſch, daß wir auch in der Volkswirtſchaftslehre diejenigen aufgedeckten<lb/> Kauſalzuſammenhänge mit Vorliebe Geſetze nennen, bei denen wenigſtens Verſuche vor-<lb/> liegen, die Maſſenwirkung der pſychiſch-ſocialen Kräfte in konſtanten oder in beſtimmter<lb/> Proportion ſich ändernden Zahlenergebniſſen zu meſſen: ich erinnere an die Ausdrücke<lb/> Bevölkerungsgeſetz, Lohngeſetz, Preisgeſetz, Geſetz der Grundrente.</p><lb/> <p>Ein letztes einheitliches Geſetz volkswirtſchaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht<lb/> und kann es nicht geben; das Geſamtergebnis volkswirtſchaftlicher Urſachen einer Zeit<lb/> und eines Volkes iſt ſtets ein individuelles Bild, das wir aus Volkscharakter und Ge-<lb/> ſchichte heraus unter Zuhülfenahme allgemeiner volkswirtſchaftlicher, ſocialer und poli-<lb/> tiſcher Wahrheiten begreiflich machen, aber entfernt nicht reſtlos auf ſeine Urſachen<lb/> zurückführen können. Über die Geſamtentwickelung der menſchlichen Wirtſchaftsverhältniſſe<lb/> beſitzen wir nicht mehr als taſtende Verſuche, hypothetiſche Sätze und teleologiſche Be-<lb/> trachtungen. Aber wir haben feſten Boden unter den Füßen in Bezug auf zahlreiche<lb/> Elemente, aus denen ſich die Volkswirtſchaften der einzelnen Länder und Zeiten zuſammen-<lb/> ſetzen. Das Allgemeinſte bleibt als das Komplizierteſte ſtets das Unſicherſte, vom ein-<lb/> zelnen ausgehend dringen wir vor. Die einfacheren Verbindungen verſtehen wir, die<lb/> Entwickelung einzelner Seiten können wir kauſal ziemlich vollſtändig erklären, die Ge-<lb/> ſchichte einzelner Wirtſchaftsinſtitute überblicken wir.</p><lb/> <p>Was wir erreicht haben, iſt ebenſo ſehr Folge deduktiver als induktiver Schlüſſe.<lb/> Wer ſich überhaupt über die zwei Arten des Schlußverfahrens, die man ſo nennt, ganz<lb/> klar iſt, wird nie behaupten, es gebe die Wirklichkeit erklärende Wiſſenſchaften, die<lb/> ausſchließlich auf der einen Art ruhen. Nur zeitweiſe, nach dem jeweiligen Stande der<lb/> Erkenntnis, kann das eine Verfahren etwas mehr in den Vordergrund der einzelnen<lb/> Wiſſenſchaft rücken.</p><lb/> <p>Die Deduktion geht von feſtſtehenden analytiſchen oder ſynthetiſchen Wahrheiten<lb/> aus, ſucht aus ihnen durch Schlüſſe und Kombinationen neue zu gewinnen; verwickelte<lb/> Erſcheinungen verſucht ſie aus den bekannten Wahrheiten zu erklären; ihre Haupt-<lb/> bedeutung beſteht darin, daß der Unterſuchende neuen Problemen gegenüber eine möglichſt<lb/> große Zahl feſtſtehender Sätze in ihren Konſequenzen probierend, ſpielend, taſtend auf<lb/> die zu löſende Frage anwendet, ſo den Schlüſſel zu ihr ſuchend. Wir machen faſt keinen<lb/> Schritt unſeres wiſſenſchaftlichen Denkens ohne dieſe Operation. Je einfacheren Problemen<lb/> wir gegenüberſtehen, je weiter unſer Wiſſen auf einem Gebiete ſchon iſt, deſto mehr<lb/> werden wir damit ausreichen, deſto häufiger iſt das noch Unaufgeklärte nur ein kom-<lb/> plizierteres Ergebnis feſtſtehender Sätze. Daher die bekannte Thatſache, daß die einfacheren<lb/> Wiſſenſchaften ſchon ausſchließlich oder faſt ganz deduktive geworden ſind, wie die Mathematik,<lb/> die Mechanik, die Aſtronomie, daß die elementarſten Erſcheinungen der Volkswirtſchaft,<lb/> die Markterſcheinungen, der deduktiven Behandlung am zugänglichſten ſind; daher der<lb/> Drang aller Wiſſenſchaft, möglichſt deduktiv mit der Zeit zu werden.</p><lb/> <p>Auch wo man noch weniger weit iſt, wo man noch viele Kauſalitätsverhältniſſe<lb/> gar nicht aufgehellt hat, wo die verwirrte Komplikation der Erſcheinungen gar nicht<lb/> vermuten läßt, daß man ſchon alle Wahrheiten kenne, die zur vollſtändigen Erklärung<lb/> nötig wären, wendet man doch, ſo weit es geht, bekannte Wahrheiten deduktiv an. Vor<lb/> allem die von anderen vorbereitenden Wiſſenſchaften gelieferten und feſtgeſtellten Sätze<lb/> verwendet man deduktiv, alſo in der Nationalökonomie und in allen Staatswiſſenſchaften<lb/> die pſychologiſchen Wahrheiten. Man ſchließt aus dem Egoismus, dem Ehrgeiz, dem<lb/> Triebe der Liebe, kurz aus allen richtig beſtimmten pſychiſchen Sätzen deduktiv weiter.<lb/> Es iſt nur irreführend, wenn man aus einer Kraft ſchließt, wo mehrere wirken, von<lb/> einem Triebe eine falſche oder eine immer konſtante Stärke annimmt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [109/0125]
Volkswirtſchaftliche Geſetze. Weſen der Deduktion.
nur die regelmäßig und typiſch ſich wiederholenden Erſcheinungsreihen: das ſind die ſo-
genannten empiriſchen Geſetze, deren Kauſalverhältniſſe entweder noch gar nicht aufgedeckt oder
wenigſtens noch nicht quantitativ gemeſſen ſind. Wirkliche Geſetze, d. h. Kauſalverbin-
dungen, deren konſtante Wirkungsweiſe wir nicht bloß kennen, ſondern auch quantitativ
beſtimmt haben, kennt auch die Naturwiſſenſchaft erſt wenige. Die Erfaſſung pſychiſcher
Kräfte wird ſich quantitativer Meſſung wohl für immer entziehen. Es iſt aber jeden-
falls charakteriſtiſch, daß wir auch in der Volkswirtſchaftslehre diejenigen aufgedeckten
Kauſalzuſammenhänge mit Vorliebe Geſetze nennen, bei denen wenigſtens Verſuche vor-
liegen, die Maſſenwirkung der pſychiſch-ſocialen Kräfte in konſtanten oder in beſtimmter
Proportion ſich ändernden Zahlenergebniſſen zu meſſen: ich erinnere an die Ausdrücke
Bevölkerungsgeſetz, Lohngeſetz, Preisgeſetz, Geſetz der Grundrente.
Ein letztes einheitliches Geſetz volkswirtſchaftlicher Kräftebethätigung giebt es nicht
und kann es nicht geben; das Geſamtergebnis volkswirtſchaftlicher Urſachen einer Zeit
und eines Volkes iſt ſtets ein individuelles Bild, das wir aus Volkscharakter und Ge-
ſchichte heraus unter Zuhülfenahme allgemeiner volkswirtſchaftlicher, ſocialer und poli-
tiſcher Wahrheiten begreiflich machen, aber entfernt nicht reſtlos auf ſeine Urſachen
zurückführen können. Über die Geſamtentwickelung der menſchlichen Wirtſchaftsverhältniſſe
beſitzen wir nicht mehr als taſtende Verſuche, hypothetiſche Sätze und teleologiſche Be-
trachtungen. Aber wir haben feſten Boden unter den Füßen in Bezug auf zahlreiche
Elemente, aus denen ſich die Volkswirtſchaften der einzelnen Länder und Zeiten zuſammen-
ſetzen. Das Allgemeinſte bleibt als das Komplizierteſte ſtets das Unſicherſte, vom ein-
zelnen ausgehend dringen wir vor. Die einfacheren Verbindungen verſtehen wir, die
Entwickelung einzelner Seiten können wir kauſal ziemlich vollſtändig erklären, die Ge-
ſchichte einzelner Wirtſchaftsinſtitute überblicken wir.
Was wir erreicht haben, iſt ebenſo ſehr Folge deduktiver als induktiver Schlüſſe.
Wer ſich überhaupt über die zwei Arten des Schlußverfahrens, die man ſo nennt, ganz
klar iſt, wird nie behaupten, es gebe die Wirklichkeit erklärende Wiſſenſchaften, die
ausſchließlich auf der einen Art ruhen. Nur zeitweiſe, nach dem jeweiligen Stande der
Erkenntnis, kann das eine Verfahren etwas mehr in den Vordergrund der einzelnen
Wiſſenſchaft rücken.
Die Deduktion geht von feſtſtehenden analytiſchen oder ſynthetiſchen Wahrheiten
aus, ſucht aus ihnen durch Schlüſſe und Kombinationen neue zu gewinnen; verwickelte
Erſcheinungen verſucht ſie aus den bekannten Wahrheiten zu erklären; ihre Haupt-
bedeutung beſteht darin, daß der Unterſuchende neuen Problemen gegenüber eine möglichſt
große Zahl feſtſtehender Sätze in ihren Konſequenzen probierend, ſpielend, taſtend auf
die zu löſende Frage anwendet, ſo den Schlüſſel zu ihr ſuchend. Wir machen faſt keinen
Schritt unſeres wiſſenſchaftlichen Denkens ohne dieſe Operation. Je einfacheren Problemen
wir gegenüberſtehen, je weiter unſer Wiſſen auf einem Gebiete ſchon iſt, deſto mehr
werden wir damit ausreichen, deſto häufiger iſt das noch Unaufgeklärte nur ein kom-
plizierteres Ergebnis feſtſtehender Sätze. Daher die bekannte Thatſache, daß die einfacheren
Wiſſenſchaften ſchon ausſchließlich oder faſt ganz deduktive geworden ſind, wie die Mathematik,
die Mechanik, die Aſtronomie, daß die elementarſten Erſcheinungen der Volkswirtſchaft,
die Markterſcheinungen, der deduktiven Behandlung am zugänglichſten ſind; daher der
Drang aller Wiſſenſchaft, möglichſt deduktiv mit der Zeit zu werden.
Auch wo man noch weniger weit iſt, wo man noch viele Kauſalitätsverhältniſſe
gar nicht aufgehellt hat, wo die verwirrte Komplikation der Erſcheinungen gar nicht
vermuten läßt, daß man ſchon alle Wahrheiten kenne, die zur vollſtändigen Erklärung
nötig wären, wendet man doch, ſo weit es geht, bekannte Wahrheiten deduktiv an. Vor
allem die von anderen vorbereitenden Wiſſenſchaften gelieferten und feſtgeſtellten Sätze
verwendet man deduktiv, alſo in der Nationalökonomie und in allen Staatswiſſenſchaften
die pſychologiſchen Wahrheiten. Man ſchließt aus dem Egoismus, dem Ehrgeiz, dem
Triebe der Liebe, kurz aus allen richtig beſtimmten pſychiſchen Sätzen deduktiv weiter.
Es iſt nur irreführend, wenn man aus einer Kraft ſchließt, wo mehrere wirken, von
einem Triebe eine falſche oder eine immer konſtante Stärke annimmt.
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