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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Kritik der individualistischen Volkswirtschaftslehre. Der Socialismus.
nicht abstrakt stehen bleiben; man mußte zu weiteren Unterscheidungen, zu tieferen
psychologischen Untersuchungen kommen, Arbeitsteilung, Verkehr und Marktwesen besser
analysieren, wieder im Zusammenhange mit Sitte, Recht, Verwaltung und staatlicher
Politik verstehen lernen. Es fehlte der ganzen Schule die breite Kenntnis anderer
Zeiten und Länder, die historische Auffassung des socialen und volkswirtschaftlichen
Entwickelungsprozesses. Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung und den
Bedürfnissen des praktischen Lebens sich entfernte und in abstrakten Begriffsspielereien
und dilettantischen Konstruktionen sich erging, desto wertloser wurden die Erzeugnisse
der Schule. Der praktische Idealismus war einst ihr Rechtstitel. Sie endete als eine
mammonistische Klassenwaffe der Kapitalisten und als ein gelehrtes Spielzeug welt-
flüchtiger Stubengelehrten. Der Bestand echter Wissenschaft, den sie geschaffen, lebt
umgeformt fort in den Schriften anderer Richtungen.

41. Die socialistische Litteratur. Seit in den hochentwickelten griechischen
Staaten arm und reich sich schroff gegenübergetreten, und man in Theorie und Praxis sich
darüber gestritten, ob die bestehende Produktion und Verteilung der Güter, das Privat-
eigentum, die Ehe, die Ständeunterschiede nicht einer besseren und gerechteren Ordnung
der Dinge weichen könnten, sind socialistische Gedanken, d. h. Vorstellungen und Lehren
über eine gerechtere Verteilung des Einkommens und eine vollkommenere Organisation der
Produktion und Güterverteilung zu Gunsten der Ärmeren durch Erziehung, Sitte und
Recht, durch gesellschaftliche und staatliche Reformen, nie wieder ganz verschwunden.
Wie die Stoa, so lehrten die Kirchenväter, daß ursprünglich alles gemein gewesen; das
Eigentum und die Ungleichheit, hieß es, sei nur durch den Sündenfall entstanden; ja
einzelne Väter verstiegen sich zu dem Satze: jeder Reiche sei ein Dieb oder eines Diebes
Erbe. Der Druck auf die unteren Klassen hatte auch im Mittelalter die Frage erzeugt:
als Adam grub und Eva spann, wer war denn da der Edelmann? Die Reformations-
zeit sah in den Wiedertäufern und Sektierern praktische, in Thomas Morus (Utopia
1516) einen theoretischen Versuch des Socialismus, der sich demokratisierend an Plato
anschloß. Und das im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Naturrecht wie die
individualistische Nationalökonomie waren teilweise von so allgemeinen Vorstellungen
der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von so starken Zweifeln an dem Rechte aller über-
lieferten Institutionen beherrscht, daß diese Prämissen zu socialistischen Systemen führen
mußten, sobald die optimistischen Harmonievorstellungen zurücktraten.

Morelly, Mably, Brissot (1755--80) sind socialistische Zeitgenossen Turgots und
A. Smiths; Baboeuf vertritt in der französischen Revolution die Idee einer nationalen,
von oben geleiteten Produktion, deren Güter allen gleichmäßig zugute kommen. Godwin
(Political justice, 1793), ein Schüler Lockes und Humes, ein weltunkundiger Dissenter-
prediger, glaubt die Menschen durch seine Tugendlehren so umwandeln zu können, daß
alle Staatsgewalt aufhören könne, daß jeder bei extremster individueller Freiheit seinen
Überfluß anderen abgebe, und die vollendeten Menschen Krankheit, Schlaf und Tod los
werden. Die deutsche Philosophie konstruierte in Fichte ein naturrechtliches System,
worin als Folge des Staatsvertrages für jeden die Garantie der Arbeit und des Unter-
haltes gefordert und dem geschlossenen Handelsstaate die Pflicht auferlegt wird, dies durch
Regulierung alles Erwerbslebens zu gewährleisten (Naturrecht 1796, geschlossener
Handelsstaat 1800). Während aber derartige Lehren früher doch mehr als wunderliche
Einfälle einzelner galten, haben sie mit der steigenden industriellen Entwickelung, mit
den zunehmenden Klassengegensätzen des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung
und Ausbildung erhalten.

Die optimistische Verherrlichung des eigennützigen Strebens der Individuen nach
Erwerb und Reichtum mußte einer pessimistischen Beurteilung weichen, als mit der
freien Konkurrenz, mit den Krisen der modernen Weltwirtschaft, den Fortschritten
der Technik die Zahl der Armen, der Arbeitslosen, wenigstens zeitweise stark zunahm,
die Vermögensungleichheit stieg, die Macht der Reichen sich vielfach von ungünstiger
Seite zeigte. Edle Menschenfreunde begannen die Nachtseiten der neuen volkswirtschaft-
lichen Organisation, zumal der freien Konkurrenz zu schildern, wie Sismondi (Nouveaux

Kritik der individualiſtiſchen Volkswirtſchaftslehre. Der Socialismus.
nicht abſtrakt ſtehen bleiben; man mußte zu weiteren Unterſcheidungen, zu tieferen
pſychologiſchen Unterſuchungen kommen, Arbeitsteilung, Verkehr und Marktweſen beſſer
analyſieren, wieder im Zuſammenhange mit Sitte, Recht, Verwaltung und ſtaatlicher
Politik verſtehen lernen. Es fehlte der ganzen Schule die breite Kenntnis anderer
Zeiten und Länder, die hiſtoriſche Auffaſſung des ſocialen und volkswirtſchaftlichen
Entwickelungsprozeſſes. Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung und den
Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens ſich entfernte und in abſtrakten Begriffsſpielereien
und dilettantiſchen Konſtruktionen ſich erging, deſto wertloſer wurden die Erzeugniſſe
der Schule. Der praktiſche Idealismus war einſt ihr Rechtstitel. Sie endete als eine
mammoniſtiſche Klaſſenwaffe der Kapitaliſten und als ein gelehrtes Spielzeug welt-
flüchtiger Stubengelehrten. Der Beſtand echter Wiſſenſchaft, den ſie geſchaffen, lebt
umgeformt fort in den Schriften anderer Richtungen.

41. Die ſocialiſtiſche Litteratur. Seit in den hochentwickelten griechiſchen
Staaten arm und reich ſich ſchroff gegenübergetreten, und man in Theorie und Praxis ſich
darüber geſtritten, ob die beſtehende Produktion und Verteilung der Güter, das Privat-
eigentum, die Ehe, die Ständeunterſchiede nicht einer beſſeren und gerechteren Ordnung
der Dinge weichen könnten, ſind ſocialiſtiſche Gedanken, d. h. Vorſtellungen und Lehren
über eine gerechtere Verteilung des Einkommens und eine vollkommenere Organiſation der
Produktion und Güterverteilung zu Gunſten der Ärmeren durch Erziehung, Sitte und
Recht, durch geſellſchaftliche und ſtaatliche Reformen, nie wieder ganz verſchwunden.
Wie die Stoa, ſo lehrten die Kirchenväter, daß urſprünglich alles gemein geweſen; das
Eigentum und die Ungleichheit, hieß es, ſei nur durch den Sündenfall entſtanden; ja
einzelne Väter verſtiegen ſich zu dem Satze: jeder Reiche ſei ein Dieb oder eines Diebes
Erbe. Der Druck auf die unteren Klaſſen hatte auch im Mittelalter die Frage erzeugt:
als Adam grub und Eva ſpann, wer war denn da der Edelmann? Die Reformations-
zeit ſah in den Wiedertäufern und Sektierern praktiſche, in Thomas Morus (Utopia
1516) einen theoretiſchen Verſuch des Socialismus, der ſich demokratiſierend an Plato
anſchloß. Und das im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Naturrecht wie die
individualiſtiſche Nationalökonomie waren teilweiſe von ſo allgemeinen Vorſtellungen
der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von ſo ſtarken Zweifeln an dem Rechte aller über-
lieferten Inſtitutionen beherrſcht, daß dieſe Prämiſſen zu ſocialiſtiſchen Syſtemen führen
mußten, ſobald die optimiſtiſchen Harmonievorſtellungen zurücktraten.

Morelly, Mably, Briſſot (1755—80) ſind ſocialiſtiſche Zeitgenoſſen Turgots und
A. Smiths; Baboeuf vertritt in der franzöſiſchen Revolution die Idee einer nationalen,
von oben geleiteten Produktion, deren Güter allen gleichmäßig zugute kommen. Godwin
(Political justice, 1793), ein Schüler Lockes und Humes, ein weltunkundiger Diſſenter-
prediger, glaubt die Menſchen durch ſeine Tugendlehren ſo umwandeln zu können, daß
alle Staatsgewalt aufhören könne, daß jeder bei extremſter individueller Freiheit ſeinen
Überfluß anderen abgebe, und die vollendeten Menſchen Krankheit, Schlaf und Tod los
werden. Die deutſche Philoſophie konſtruierte in Fichte ein naturrechtliches Syſtem,
worin als Folge des Staatsvertrages für jeden die Garantie der Arbeit und des Unter-
haltes gefordert und dem geſchloſſenen Handelsſtaate die Pflicht auferlegt wird, dies durch
Regulierung alles Erwerbslebens zu gewährleiſten (Naturrecht 1796, geſchloſſener
Handelsſtaat 1800). Während aber derartige Lehren früher doch mehr als wunderliche
Einfälle einzelner galten, haben ſie mit der ſteigenden induſtriellen Entwickelung, mit
den zunehmenden Klaſſengegenſätzen des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung
und Ausbildung erhalten.

Die optimiſtiſche Verherrlichung des eigennützigen Strebens der Individuen nach
Erwerb und Reichtum mußte einer peſſimiſtiſchen Beurteilung weichen, als mit der
freien Konkurrenz, mit den Kriſen der modernen Weltwirtſchaft, den Fortſchritten
der Technik die Zahl der Armen, der Arbeitsloſen, wenigſtens zeitweiſe ſtark zunahm,
die Vermögensungleichheit ſtieg, die Macht der Reichen ſich vielfach von ungünſtiger
Seite zeigte. Edle Menſchenfreunde begannen die Nachtſeiten der neuen volkswirtſchaft-
lichen Organiſation, zumal der freien Konkurrenz zu ſchildern, wie Sismondi (Nouveaux

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[93/0109] Kritik der individualiſtiſchen Volkswirtſchaftslehre. Der Socialismus. nicht abſtrakt ſtehen bleiben; man mußte zu weiteren Unterſcheidungen, zu tieferen pſychologiſchen Unterſuchungen kommen, Arbeitsteilung, Verkehr und Marktweſen beſſer analyſieren, wieder im Zuſammenhange mit Sitte, Recht, Verwaltung und ſtaatlicher Politik verſtehen lernen. Es fehlte der ganzen Schule die breite Kenntnis anderer Zeiten und Länder, die hiſtoriſche Auffaſſung des ſocialen und volkswirtſchaftlichen Entwickelungsprozeſſes. Je weiter eine hohle Theorie von der Beobachtung und den Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens ſich entfernte und in abſtrakten Begriffsſpielereien und dilettantiſchen Konſtruktionen ſich erging, deſto wertloſer wurden die Erzeugniſſe der Schule. Der praktiſche Idealismus war einſt ihr Rechtstitel. Sie endete als eine mammoniſtiſche Klaſſenwaffe der Kapitaliſten und als ein gelehrtes Spielzeug welt- flüchtiger Stubengelehrten. Der Beſtand echter Wiſſenſchaft, den ſie geſchaffen, lebt umgeformt fort in den Schriften anderer Richtungen. 41. Die ſocialiſtiſche Litteratur. Seit in den hochentwickelten griechiſchen Staaten arm und reich ſich ſchroff gegenübergetreten, und man in Theorie und Praxis ſich darüber geſtritten, ob die beſtehende Produktion und Verteilung der Güter, das Privat- eigentum, die Ehe, die Ständeunterſchiede nicht einer beſſeren und gerechteren Ordnung der Dinge weichen könnten, ſind ſocialiſtiſche Gedanken, d. h. Vorſtellungen und Lehren über eine gerechtere Verteilung des Einkommens und eine vollkommenere Organiſation der Produktion und Güterverteilung zu Gunſten der Ärmeren durch Erziehung, Sitte und Recht, durch geſellſchaftliche und ſtaatliche Reformen, nie wieder ganz verſchwunden. Wie die Stoa, ſo lehrten die Kirchenväter, daß urſprünglich alles gemein geweſen; das Eigentum und die Ungleichheit, hieß es, ſei nur durch den Sündenfall entſtanden; ja einzelne Väter verſtiegen ſich zu dem Satze: jeder Reiche ſei ein Dieb oder eines Diebes Erbe. Der Druck auf die unteren Klaſſen hatte auch im Mittelalter die Frage erzeugt: als Adam grub und Eva ſpann, wer war denn da der Edelmann? Die Reformations- zeit ſah in den Wiedertäufern und Sektierern praktiſche, in Thomas Morus (Utopia 1516) einen theoretiſchen Verſuch des Socialismus, der ſich demokratiſierend an Plato anſchloß. Und das im 17. und 18. Jahrhundert aufkommende Naturrecht wie die individualiſtiſche Nationalökonomie waren teilweiſe von ſo allgemeinen Vorſtellungen der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von ſo ſtarken Zweifeln an dem Rechte aller über- lieferten Inſtitutionen beherrſcht, daß dieſe Prämiſſen zu ſocialiſtiſchen Syſtemen führen mußten, ſobald die optimiſtiſchen Harmonievorſtellungen zurücktraten. Morelly, Mably, Briſſot (1755—80) ſind ſocialiſtiſche Zeitgenoſſen Turgots und A. Smiths; Baboeuf vertritt in der franzöſiſchen Revolution die Idee einer nationalen, von oben geleiteten Produktion, deren Güter allen gleichmäßig zugute kommen. Godwin (Political justice, 1793), ein Schüler Lockes und Humes, ein weltunkundiger Diſſenter- prediger, glaubt die Menſchen durch ſeine Tugendlehren ſo umwandeln zu können, daß alle Staatsgewalt aufhören könne, daß jeder bei extremſter individueller Freiheit ſeinen Überfluß anderen abgebe, und die vollendeten Menſchen Krankheit, Schlaf und Tod los werden. Die deutſche Philoſophie konſtruierte in Fichte ein naturrechtliches Syſtem, worin als Folge des Staatsvertrages für jeden die Garantie der Arbeit und des Unter- haltes gefordert und dem geſchloſſenen Handelsſtaate die Pflicht auferlegt wird, dies durch Regulierung alles Erwerbslebens zu gewährleiſten (Naturrecht 1796, geſchloſſener Handelsſtaat 1800). Während aber derartige Lehren früher doch mehr als wunderliche Einfälle einzelner galten, haben ſie mit der ſteigenden induſtriellen Entwickelung, mit den zunehmenden Klaſſengegenſätzen des 19. Jahrhunderts eine ganz andere Bedeutung und Ausbildung erhalten. Die optimiſtiſche Verherrlichung des eigennützigen Strebens der Individuen nach Erwerb und Reichtum mußte einer peſſimiſtiſchen Beurteilung weichen, als mit der freien Konkurrenz, mit den Kriſen der modernen Weltwirtſchaft, den Fortſchritten der Technik die Zahl der Armen, der Arbeitsloſen, wenigſtens zeitweiſe ſtark zunahm, die Vermögensungleichheit ſtieg, die Macht der Reichen ſich vielfach von ungünſtiger Seite zeigte. Edle Menſchenfreunde begannen die Nachtſeiten der neuen volkswirtſchaft- lichen Organiſation, zumal der freien Konkurrenz zu ſchildern, wie Sismondi (Nouveaux

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/109>, abgerufen am 27.04.2024.