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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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zunächst das Lesen, nicht die eigene Gedankenproduktion in der
fremden Sprache, Auf diesem Wege kann es geschehen, daß man
die fremde Sprache in ihrer eigenthümlichen Lebendigkeit erfaßt.
Will man aber den Versuch machen, die Sprache selbst zu ge-
brauchen, so wird, weil man in der Muttersprache gewohnt ist
zu denken, zunächst eine Übersezung entstehen. Dabei ist ein Un-
terschied, ob man im unmittelbaren Leben den Versuch macht,
oder ob man sich in ein vergangenes Leben zurückversezt. Dieß
leztere findet statt bei dem Gebrauch der klassischen Sprache. Da-
her die Rede gewöhnlich nur in Reminiscenzen besteht aus dem
alterthümlichen Gedankenkreise. Gebraucht man dagegen die fremde
Sprache im unmittelbaren Leben in unsrem Gedankenkreise, so
wird immer Analoges entstehen von dem was die neutest. Sprache
zeigt. Es werden Germanismen entstehen. Nimmt man diese
bei dem Corrigiren weg, so ist das nur ein zweiter Akt; das
Denken bleibt immer wenn auch nur dunkel deutsch. --

Die neutest. Sprache gehört nun zu jenem zweiten Fall, wo
die fremde Sprache nicht wissenschaftlich und schulgemäß gelernt
wird, und der Einfluß und die Reminiscenzen aus der Muttersprache
nicht zu vermeiden sind. So müssen wir also bei der Auslegung
des N. T. immer die beiden Sprachen, die griechische und he-
bräische, im Sinn haben. Die neutest. Sprachmischung war un-
ter den Juden schon vor der Abfassung des N. T. vorhanden,
selbst schon schriftlich. Um das ganze Verhältniß, wie diese Sprach-
mischung entstanden ist, vor Augen zu haben, muß man folgen-
des bedenken. Das jüdische Volk wohnte in jener Periode nur
zum Theil in Palästina. Aber auch Palästina war nicht allein
vom jüdischen Volke bewohnt, sondern es gab auch Gegenden,
wo ein bedeutender Theil der Einwohner von anderer Abstam-
mung war. So nicht nur in Samarien, wo von früherher Mi-
schung stattfand, sondern auch in Galiläa und Peräa. Im lez-
teren Landstrich gab es Städte mit griechischem Namen, also
griechischer Colonisation. Eben so in Galiläa, und hier gab es
daneben noch Vermischung mit phönizischen Einwohnern. Für

zunaͤchſt das Leſen, nicht die eigene Gedankenproduktion in der
fremden Sprache, Auf dieſem Wege kann es geſchehen, daß man
die fremde Sprache in ihrer eigenthuͤmlichen Lebendigkeit erfaßt.
Will man aber den Verſuch machen, die Sprache ſelbſt zu ge-
brauchen, ſo wird, weil man in der Mutterſprache gewohnt iſt
zu denken, zunaͤchſt eine Überſezung entſtehen. Dabei iſt ein Un-
terſchied, ob man im unmittelbaren Leben den Verſuch macht,
oder ob man ſich in ein vergangenes Leben zuruͤckverſezt. Dieß
leztere findet ſtatt bei dem Gebrauch der klaſſiſchen Sprache. Da-
her die Rede gewoͤhnlich nur in Reminiſcenzen beſteht aus dem
alterthuͤmlichen Gedankenkreiſe. Gebraucht man dagegen die fremde
Sprache im unmittelbaren Leben in unſrem Gedankenkreiſe, ſo
wird immer Analoges entſtehen von dem was die neuteſt. Sprache
zeigt. Es werden Germanismen entſtehen. Nimmt man dieſe
bei dem Corrigiren weg, ſo iſt das nur ein zweiter Akt; das
Denken bleibt immer wenn auch nur dunkel deutſch. —

Die neuteſt. Sprache gehoͤrt nun zu jenem zweiten Fall, wo
die fremde Sprache nicht wiſſenſchaftlich und ſchulgemaͤß gelernt
wird, und der Einfluß und die Reminiſcenzen aus der Mutterſprache
nicht zu vermeiden ſind. So muͤſſen wir alſo bei der Auslegung
des N. T. immer die beiden Sprachen, die griechiſche und he-
braͤiſche, im Sinn haben. Die neuteſt. Sprachmiſchung war un-
ter den Juden ſchon vor der Abfaſſung des N. T. vorhanden,
ſelbſt ſchon ſchriftlich. Um das ganze Verhaͤltniß, wie dieſe Sprach-
miſchung entſtanden iſt, vor Augen zu haben, muß man folgen-
des bedenken. Das juͤdiſche Volk wohnte in jener Periode nur
zum Theil in Palaͤſtina. Aber auch Palaͤſtina war nicht allein
vom juͤdiſchen Volke bewohnt, ſondern es gab auch Gegenden,
wo ein bedeutender Theil der Einwohner von anderer Abſtam-
mung war. So nicht nur in Samarien, wo von fruͤherher Mi-
ſchung ſtattfand, ſondern auch in Galilaͤa und Peraͤa. Im lez-
teren Landſtrich gab es Staͤdte mit griechiſchem Namen, alſo
griechiſcher Coloniſation. Eben ſo in Galilaͤa, und hier gab es
daneben noch Vermiſchung mit phoͤniziſchen Einwohnern. Fuͤr

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[61/0085] zunaͤchſt das Leſen, nicht die eigene Gedankenproduktion in der fremden Sprache, Auf dieſem Wege kann es geſchehen, daß man die fremde Sprache in ihrer eigenthuͤmlichen Lebendigkeit erfaßt. Will man aber den Verſuch machen, die Sprache ſelbſt zu ge- brauchen, ſo wird, weil man in der Mutterſprache gewohnt iſt zu denken, zunaͤchſt eine Überſezung entſtehen. Dabei iſt ein Un- terſchied, ob man im unmittelbaren Leben den Verſuch macht, oder ob man ſich in ein vergangenes Leben zuruͤckverſezt. Dieß leztere findet ſtatt bei dem Gebrauch der klaſſiſchen Sprache. Da- her die Rede gewoͤhnlich nur in Reminiſcenzen beſteht aus dem alterthuͤmlichen Gedankenkreiſe. Gebraucht man dagegen die fremde Sprache im unmittelbaren Leben in unſrem Gedankenkreiſe, ſo wird immer Analoges entſtehen von dem was die neuteſt. Sprache zeigt. Es werden Germanismen entſtehen. Nimmt man dieſe bei dem Corrigiren weg, ſo iſt das nur ein zweiter Akt; das Denken bleibt immer wenn auch nur dunkel deutſch. — Die neuteſt. Sprache gehoͤrt nun zu jenem zweiten Fall, wo die fremde Sprache nicht wiſſenſchaftlich und ſchulgemaͤß gelernt wird, und der Einfluß und die Reminiſcenzen aus der Mutterſprache nicht zu vermeiden ſind. So muͤſſen wir alſo bei der Auslegung des N. T. immer die beiden Sprachen, die griechiſche und he- braͤiſche, im Sinn haben. Die neuteſt. Sprachmiſchung war un- ter den Juden ſchon vor der Abfaſſung des N. T. vorhanden, ſelbſt ſchon ſchriftlich. Um das ganze Verhaͤltniß, wie dieſe Sprach- miſchung entſtanden iſt, vor Augen zu haben, muß man folgen- des bedenken. Das juͤdiſche Volk wohnte in jener Periode nur zum Theil in Palaͤſtina. Aber auch Palaͤſtina war nicht allein vom juͤdiſchen Volke bewohnt, ſondern es gab auch Gegenden, wo ein bedeutender Theil der Einwohner von anderer Abſtam- mung war. So nicht nur in Samarien, wo von fruͤherher Mi- ſchung ſtattfand, ſondern auch in Galilaͤa und Peraͤa. Im lez- teren Landſtrich gab es Staͤdte mit griechiſchem Namen, alſo griechiſcher Coloniſation. Eben ſo in Galilaͤa, und hier gab es daneben noch Vermiſchung mit phoͤniziſchen Einwohnern. Fuͤr

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/85>, abgerufen am 30.04.2024.