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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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dert und mit den künftigen Theologen auf Gymnasien statt der
Klassiker die Kirchenväter gelesen werden möchten, weil Sprache
und Ideenkreis der ersteren zu ungleich wären. Das würde schlechte
Früchte bringen. Es wäre schlimm, wenn die Theologen bloß
patristisch gelehrt wären. Unsere allgemeine Bildung ist schon zu
sehr durch das klassische Alterthum bestimmt, so daß eine verderb-
liche Differenz zwischen der Bildung der Theologen und den An-
dern eintreten müßte. Man kann es mit der Sache des Chri-
stenthums sehr redlich meinen, sehr christlich gesinnt sein ohne
den Zusammenhang mit dem heidnischen Alterthume abbrechen zu
wollen. Die Periode, in der die gebildetsten Kirchenväter schrieben,
war doch die des Verfalls. Diese kann aber nicht aus sich selbst
verstanden werden, sondern nur durch Vergleichung mit dem vor-
angegangenen Culminationspunkt der Litteratur. Kommt jemand
mit rechter Liebe zu den christlichen Denkmälern, um so mehr
wird er sie nun verstehen aus der mitgebrachten Kenntniß des
klassischen Alterthums, und um so weniger wird er dann von
dem nichtchristlichen Inhalt der Klassiker Nachtheil erfahren.

Der unvermeidliche Mangel aber an gehöriger Vorbereitung
zum akademischen Studium der neutest. Exegese ließe sich corrigiren
durch voraufgehenden vollständigen Unterricht in der neutest.
Grammatik, und biblischen Archäologie, Einleitung u. s. w. Al-
lein das würde theils zu weit führen, theils immer schon wieder
Exegese voraussezen. So bleibt nichts übrig, als den akademi-
schen Vortrag der Exegese genetisch einzurichten, so daß unter
Anleitung zum richtigen, selbstständigen Gebrauch der vorhandenen
Hülfsmittel, woraus die neutest. Sprache, die biblische Archäo-
logie u. s. w. zu lernen ist, in jedem gegebenen Falle die herme-
neutischen Regeln in ihrer rechten Anwendung zum Bewußtsein
gebracht werden; die rechte Sicherheit aber entsteht nur, wenn
der Lernende mit dem Vortrage des Lehrers die eigene Übung
verbindet. Aber diese muß nothwendig vom leichteren zum schwe-
reren fortschreiten mit verständiger Benuzung der dargebotenen
Hülfsmittel.

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dert und mit den kuͤnftigen Theologen auf Gymnaſien ſtatt der
Klaſſiker die Kirchenvaͤter geleſen werden moͤchten, weil Sprache
und Ideenkreis der erſteren zu ungleich waͤren. Das wuͤrde ſchlechte
Fruͤchte bringen. Es waͤre ſchlimm, wenn die Theologen bloß
patriſtiſch gelehrt waͤren. Unſere allgemeine Bildung iſt ſchon zu
ſehr durch das klaſſiſche Alterthum beſtimmt, ſo daß eine verderb-
liche Differenz zwiſchen der Bildung der Theologen und den An-
dern eintreten muͤßte. Man kann es mit der Sache des Chri-
ſtenthums ſehr redlich meinen, ſehr chriſtlich geſinnt ſein ohne
den Zuſammenhang mit dem heidniſchen Alterthume abbrechen zu
wollen. Die Periode, in der die gebildetſten Kirchenvaͤter ſchrieben,
war doch die des Verfalls. Dieſe kann aber nicht aus ſich ſelbſt
verſtanden werden, ſondern nur durch Vergleichung mit dem vor-
angegangenen Culminationspunkt der Litteratur. Kommt jemand
mit rechter Liebe zu den chriſtlichen Denkmaͤlern, um ſo mehr
wird er ſie nun verſtehen aus der mitgebrachten Kenntniß des
klaſſiſchen Alterthums, und um ſo weniger wird er dann von
dem nichtchriſtlichen Inhalt der Klaſſiker Nachtheil erfahren.

Der unvermeidliche Mangel aber an gehoͤriger Vorbereitung
zum akademiſchen Studium der neuteſt. Exegeſe ließe ſich corrigiren
durch voraufgehenden vollſtaͤndigen Unterricht in der neuteſt.
Grammatik, und bibliſchen Archaͤologie, Einleitung u. ſ. w. Al-
lein das wuͤrde theils zu weit fuͤhren, theils immer ſchon wieder
Exegeſe vorausſezen. So bleibt nichts uͤbrig, als den akademi-
ſchen Vortrag der Exegeſe genetiſch einzurichten, ſo daß unter
Anleitung zum richtigen, ſelbſtſtaͤndigen Gebrauch der vorhandenen
Huͤlfsmittel, woraus die neuteſt. Sprache, die bibliſche Archaͤo-
logie u. ſ. w. zu lernen iſt, in jedem gegebenen Falle die herme-
neutiſchen Regeln in ihrer rechten Anwendung zum Bewußtſein
gebracht werden; die rechte Sicherheit aber entſteht nur, wenn
der Lernende mit dem Vortrage des Lehrers die eigene Übung
verbindet. Aber dieſe muß nothwendig vom leichteren zum ſchwe-
reren fortſchreiten mit verſtaͤndiger Benuzung der dargebotenen
Huͤlfsmittel.

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[35/0059] dert und mit den kuͤnftigen Theologen auf Gymnaſien ſtatt der Klaſſiker die Kirchenvaͤter geleſen werden moͤchten, weil Sprache und Ideenkreis der erſteren zu ungleich waͤren. Das wuͤrde ſchlechte Fruͤchte bringen. Es waͤre ſchlimm, wenn die Theologen bloß patriſtiſch gelehrt waͤren. Unſere allgemeine Bildung iſt ſchon zu ſehr durch das klaſſiſche Alterthum beſtimmt, ſo daß eine verderb- liche Differenz zwiſchen der Bildung der Theologen und den An- dern eintreten muͤßte. Man kann es mit der Sache des Chri- ſtenthums ſehr redlich meinen, ſehr chriſtlich geſinnt ſein ohne den Zuſammenhang mit dem heidniſchen Alterthume abbrechen zu wollen. Die Periode, in der die gebildetſten Kirchenvaͤter ſchrieben, war doch die des Verfalls. Dieſe kann aber nicht aus ſich ſelbſt verſtanden werden, ſondern nur durch Vergleichung mit dem vor- angegangenen Culminationspunkt der Litteratur. Kommt jemand mit rechter Liebe zu den chriſtlichen Denkmaͤlern, um ſo mehr wird er ſie nun verſtehen aus der mitgebrachten Kenntniß des klaſſiſchen Alterthums, und um ſo weniger wird er dann von dem nichtchriſtlichen Inhalt der Klaſſiker Nachtheil erfahren. Der unvermeidliche Mangel aber an gehoͤriger Vorbereitung zum akademiſchen Studium der neuteſt. Exegeſe ließe ſich corrigiren durch voraufgehenden vollſtaͤndigen Unterricht in der neuteſt. Grammatik, und bibliſchen Archaͤologie, Einleitung u. ſ. w. Al- lein das wuͤrde theils zu weit fuͤhren, theils immer ſchon wieder Exegeſe vorausſezen. So bleibt nichts uͤbrig, als den akademi- ſchen Vortrag der Exegeſe genetiſch einzurichten, ſo daß unter Anleitung zum richtigen, ſelbſtſtaͤndigen Gebrauch der vorhandenen Huͤlfsmittel, woraus die neuteſt. Sprache, die bibliſche Archaͤo- logie u. ſ. w. zu lernen iſt, in jedem gegebenen Falle die herme- neutiſchen Regeln in ihrer rechten Anwendung zum Bewußtſein gebracht werden; die rechte Sicherheit aber entſteht nur, wenn der Lernende mit dem Vortrage des Lehrers die eigene Übung verbindet. Aber dieſe muß nothwendig vom leichteren zum ſchwe- reren fortſchreiten mit verſtaͤndiger Benuzung der dargebotenen Huͤlfsmittel. 3*

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/59>, abgerufen am 02.05.2024.