dem Vorhandenen eine richtige kritische Operation zu bilden, so muß ich dieß auch vollständig vor mir haben, ich muß selbst die Schriftzüge kennen, um Verwechselungen und dergleichen erklären zu können. Es kann also viel Falsches gemacht werden, wenn man nur auf den gedruckten Text zurückgeht. Sodann aber kann man das neutest. Sprachgebiet so wenig genau bestimmen. Man hat in dieser Hinsicht zwei Richtungen verfolgt. Beide zu einem einstimmigen Resultat zu bringen, ist noch nicht gelungen, und eben deßhalb auch nicht, das neutest. Sprachgebiet genau zu fixiren. Die eine Richtung geht von dem Individuellen in der neutest. Sammlung aus. Allein wegen des geringen Umfangs dessen, was man von den Meisten hat, und wegen der proble- matischen Identität ist hier eine unauflösliche Aufgabe. Die an- dere Richtung ist die nach dem Gemeinsamen. Dieß hat nun eine zweifache Beziehung, die eine auf die griechische Sprache, wie sie damals anderwärts bestand, die andere auf das Helleni- stische. Doch ist auch hier schwer zu einem genügenden Resultate zu gelangen. Wollte man z. B. behaupten, was Philo und Jo- sephus geschrieben gehöre unmittelbar dem neutest. Sprachgebiete an, so wäre das nicht zu rechtfertigen. Eben so, wenn man sagen wollte, was dem Macedonischen Sprachgebiete angehöre, sei unmittelbar auch das neutestamentliche. Da ist also eine Un- sicherheit nach beiden Seiten und des Feststehenden noch wenig. Nach obiger Regel müßte man bei den neutest. Schriftstellern stehen bleiben, aber da ist der Umfang dessen, woraus Bewäh- rung herzunehmen ist, zu beschränkt. So müssen wir sagen, daß die divinatorische Kritik im N. T. weit unsicherer ist, als im Ge- biet der classischen Litteratur.
In Beziehung auf die Aufgabe, aus dem Gefundenen das Vorhandene zu erklären, stehen wir scheinbar mit dem N. T. besser, weil wir von dem handschriftlich ältesten Text eine große Succession von Dokumenten haben, Handschriften aus allen Jahrhunderten. Aber wenn wir nun auch den gehörig bezeugten ältesten Text haben, so ist die Aufgabe nicht leichter, denn die
dem Vorhandenen eine richtige kritiſche Operation zu bilden, ſo muß ich dieß auch vollſtaͤndig vor mir haben, ich muß ſelbſt die Schriftzuͤge kennen, um Verwechſelungen und dergleichen erklaͤren zu koͤnnen. Es kann alſo viel Falſches gemacht werden, wenn man nur auf den gedruckten Text zuruͤckgeht. Sodann aber kann man das neuteſt. Sprachgebiet ſo wenig genau beſtimmen. Man hat in dieſer Hinſicht zwei Richtungen verfolgt. Beide zu einem einſtimmigen Reſultat zu bringen, iſt noch nicht gelungen, und eben deßhalb auch nicht, das neuteſt. Sprachgebiet genau zu fixiren. Die eine Richtung geht von dem Individuellen in der neuteſt. Sammlung aus. Allein wegen des geringen Umfangs deſſen, was man von den Meiſten hat, und wegen der proble- matiſchen Identitaͤt iſt hier eine unaufloͤsliche Aufgabe. Die an- dere Richtung iſt die nach dem Gemeinſamen. Dieß hat nun eine zweifache Beziehung, die eine auf die griechiſche Sprache, wie ſie damals anderwaͤrts beſtand, die andere auf das Helleni- ſtiſche. Doch iſt auch hier ſchwer zu einem genuͤgenden Reſultate zu gelangen. Wollte man z. B. behaupten, was Philo und Jo- ſephus geſchrieben gehoͤre unmittelbar dem neuteſt. Sprachgebiete an, ſo waͤre das nicht zu rechtfertigen. Eben ſo, wenn man ſagen wollte, was dem Macedoniſchen Sprachgebiete angehoͤre, ſei unmittelbar auch das neuteſtamentliche. Da iſt alſo eine Un- ſicherheit nach beiden Seiten und des Feſtſtehenden noch wenig. Nach obiger Regel muͤßte man bei den neuteſt. Schriftſtellern ſtehen bleiben, aber da iſt der Umfang deſſen, woraus Bewaͤh- rung herzunehmen iſt, zu beſchraͤnkt. So muͤſſen wir ſagen, daß die divinatoriſche Kritik im N. T. weit unſicherer iſt, als im Ge- biet der claſſiſchen Litteratur.
In Beziehung auf die Aufgabe, aus dem Gefundenen das Vorhandene zu erklaͤren, ſtehen wir ſcheinbar mit dem N. T. beſſer, weil wir von dem handſchriftlich aͤlteſten Text eine große Succeſſion von Dokumenten haben, Handſchriften aus allen Jahrhunderten. Aber wenn wir nun auch den gehoͤrig bezeugten aͤlteſten Text haben, ſo iſt die Aufgabe nicht leichter, denn die
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dem Vorhandenen eine richtige kritiſche Operation zu bilden, ſo
muß ich dieß auch vollſtaͤndig vor mir haben, ich muß ſelbſt die
Schriftzuͤge kennen, um Verwechſelungen und dergleichen erklaͤren
zu koͤnnen. Es kann alſo viel Falſches gemacht werden, wenn
man nur auf den gedruckten Text zuruͤckgeht. Sodann aber
kann man das neuteſt. Sprachgebiet ſo wenig genau beſtimmen.
Man hat in dieſer Hinſicht zwei Richtungen verfolgt. Beide zu
einem einſtimmigen Reſultat zu bringen, iſt noch nicht gelungen,
und eben deßhalb auch nicht, das neuteſt. Sprachgebiet genau zu
fixiren. Die eine Richtung geht von dem Individuellen in der
neuteſt. Sammlung aus. Allein wegen des geringen Umfangs
deſſen, was man von den Meiſten hat, und wegen der proble-
matiſchen Identitaͤt iſt hier eine unaufloͤsliche Aufgabe. Die an-
dere Richtung iſt die nach dem Gemeinſamen. Dieß hat nun
eine zweifache Beziehung, die eine auf die griechiſche Sprache,
wie ſie damals anderwaͤrts beſtand, die andere auf das Helleni-
ſtiſche. Doch iſt auch hier ſchwer zu einem genuͤgenden Reſultate
zu gelangen. Wollte man z. B. behaupten, was Philo und Jo-
ſephus geſchrieben gehoͤre unmittelbar dem neuteſt. Sprachgebiete
an, ſo waͤre das nicht zu rechtfertigen. Eben ſo, wenn man
ſagen wollte, was dem Macedoniſchen Sprachgebiete angehoͤre,
ſei unmittelbar auch das neuteſtamentliche. Da iſt alſo eine Un-
ſicherheit nach beiden Seiten und des Feſtſtehenden noch wenig.
Nach obiger Regel muͤßte man bei den neuteſt. Schriftſtellern
ſtehen bleiben, aber da iſt der Umfang deſſen, woraus Bewaͤh-
rung herzunehmen iſt, zu beſchraͤnkt. So muͤſſen wir ſagen, daß
die divinatoriſche Kritik im N. T. weit unſicherer iſt, als im Ge-
biet der claſſiſchen Litteratur.
In Beziehung auf die Aufgabe, aus dem Gefundenen das
Vorhandene zu erklaͤren, ſtehen wir ſcheinbar mit dem N. T.
beſſer, weil wir von dem handſchriftlich aͤlteſten Text eine große
Succeſſion von Dokumenten haben, Handſchriften aus allen
Jahrhunderten. Aber wenn wir nun auch den gehoͤrig bezeugten
aͤlteſten Text haben, ſo iſt die Aufgabe nicht leichter, denn die
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/366>, abgerufen am 22.12.2024.
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