teresses willen, weil es uns an den dazu gehörigen sichern Prä- missen fehlt. Die neutest. Schriftsteller versiren fast ohne Aus- nahme im Gebiet der gewöhnlichen Umgangssprache, der sunetheia, aber eben deßwegen ist es unmöglich, die individuelle Sprach- behandlung des Einzelnen mit Sicherheit aufzustellen, weil das Geschriebene nur ein unendlich kleiner Theil des Gesprochenen ist. Selbst bei dem reichsten, dem Apostel Paulus, haben wir doch nur ein apospasmation seines Mündlichen. Es läßt sich wol Manches aufstellen, daß man in einzelnen Fällen sagen kann, das klinge ganz fremd. Aber nun gar bei Schriftstellern, von denen wir so wenig haben, die Andere sprechen lassen und an- führen. Kurz wir sind unter diesen Verhältnissen nicht berechtigt, im N. T. das divinatorische Verfahren anders, als für das un- mittelbare hermeneutische Bedürfniß in Anwendung zu bringen.
Wir kommen nun aber bei dem Lesen des N. T. oft in den Fall, daß wir, um den Text zu bilden, zwischen verschiedenem Urkundlichen zu wählen haben. Wenn also das Urkundliche ein Mannigfaltiges von verschiedenem Werth ist, wie haben wir da zu verfahren? Die Aufgabe ist für den Leser um so größer, wenn der Herausgeber ihn nicht bestochen hat für das, was sein Re- sultat ist.
Es kommt dabei zweierlei in Betracht. Erstlich die Beschaf- fenheit der Urkunden, worin die Differenzen sind, und zweitens die Differenzen selbst. Was das erste betrifft, so ist alles, wo- von wir keine Spur haben, daß es schon ehedem gelesen ist, oder was nur in späteren Handschriften sich findet ohne die Bürg- schaft eines alten Textes, nicht unter das rein Urkundliche zu stel- len, sondern als Resultat einer kritischen Operation anzusehen. Können wir nun behaupten, daß die Urkunden, die übrig blei- ben, sich ihrem Werthe nach auf bestimmte Weise classificiren lassen, so daß vermöge der Classification einigen ein allgemeiner Vorzug vor andern gebühre, andern nur in gewissen Fällen?
Mit dieser Frage kommen wir auf das eigentliche diplomati- sche Gebiet der neutest. Kritik. Aber eben dieses ganze Gebiet
tereſſes willen, weil es uns an den dazu gehoͤrigen ſichern Praͤ- miſſen fehlt. Die neuteſt. Schriftſteller verſiren faſt ohne Aus- nahme im Gebiet der gewoͤhnlichen Umgangsſprache, der συνήϑεια, aber eben deßwegen iſt es unmoͤglich, die individuelle Sprach- behandlung des Einzelnen mit Sicherheit aufzuſtellen, weil das Geſchriebene nur ein unendlich kleiner Theil des Geſprochenen iſt. Selbſt bei dem reichſten, dem Apoſtel Paulus, haben wir doch nur ein ἀποσπασμάτιον ſeines Muͤndlichen. Es laͤßt ſich wol Manches aufſtellen, daß man in einzelnen Faͤllen ſagen kann, das klinge ganz fremd. Aber nun gar bei Schriftſtellern, von denen wir ſo wenig haben, die Andere ſprechen laſſen und an- fuͤhren. Kurz wir ſind unter dieſen Verhaͤltniſſen nicht berechtigt, im N. T. das divinatoriſche Verfahren anders, als fuͤr das un- mittelbare hermeneutiſche Beduͤrfniß in Anwendung zu bringen.
Wir kommen nun aber bei dem Leſen des N. T. oft in den Fall, daß wir, um den Text zu bilden, zwiſchen verſchiedenem Urkundlichen zu waͤhlen haben. Wenn alſo das Urkundliche ein Mannigfaltiges von verſchiedenem Werth iſt, wie haben wir da zu verfahren? Die Aufgabe iſt fuͤr den Leſer um ſo groͤßer, wenn der Herausgeber ihn nicht beſtochen hat fuͤr das, was ſein Re- ſultat iſt.
Es kommt dabei zweierlei in Betracht. Erſtlich die Beſchaf- fenheit der Urkunden, worin die Differenzen ſind, und zweitens die Differenzen ſelbſt. Was das erſte betrifft, ſo iſt alles, wo- von wir keine Spur haben, daß es ſchon ehedem geleſen iſt, oder was nur in ſpaͤteren Handſchriften ſich findet ohne die Buͤrg- ſchaft eines alten Textes, nicht unter das rein Urkundliche zu ſtel- len, ſondern als Reſultat einer kritiſchen Operation anzuſehen. Koͤnnen wir nun behaupten, daß die Urkunden, die uͤbrig blei- ben, ſich ihrem Werthe nach auf beſtimmte Weiſe claſſificiren laſſen, ſo daß vermoͤge der Claſſification einigen ein allgemeiner Vorzug vor andern gebuͤhre, andern nur in gewiſſen Faͤllen?
Mit dieſer Frage kommen wir auf das eigentliche diplomati- ſche Gebiet der neuteſt. Kritik. Aber eben dieſes ganze Gebiet
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nahme im Gebiet der gewoͤhnlichen Umgangsſprache, der συνήϑεια,
aber eben deßwegen iſt es unmoͤglich, die individuelle Sprach-
behandlung des Einzelnen mit Sicherheit aufzuſtellen, weil das
Geſchriebene nur ein unendlich kleiner Theil des Geſprochenen
iſt. Selbſt bei dem reichſten, dem Apoſtel Paulus, haben wir
doch nur ein ἀποσπασμάτιον ſeines Muͤndlichen. Es laͤßt ſich
wol Manches aufſtellen, daß man in einzelnen Faͤllen ſagen kann,
das klinge ganz fremd. Aber nun gar bei Schriftſtellern, von
denen wir ſo wenig haben, die Andere ſprechen laſſen und an-
fuͤhren. Kurz wir ſind unter dieſen Verhaͤltniſſen nicht berechtigt,
im N. T. das divinatoriſche Verfahren anders, als fuͤr das un-
mittelbare hermeneutiſche Beduͤrfniß in Anwendung zu bringen.
Wir kommen nun aber bei dem Leſen des N. T. oft in den
Fall, daß wir, um den Text zu bilden, zwiſchen verſchiedenem
Urkundlichen zu waͤhlen haben. Wenn alſo das Urkundliche ein
Mannigfaltiges von verſchiedenem Werth iſt, wie haben wir da
zu verfahren? Die Aufgabe iſt fuͤr den Leſer um ſo groͤßer, wenn
der Herausgeber ihn nicht beſtochen hat fuͤr das, was ſein Re-
ſultat iſt.
Es kommt dabei zweierlei in Betracht. Erſtlich die Beſchaf-
fenheit der Urkunden, worin die Differenzen ſind, und zweitens
die Differenzen ſelbſt. Was das erſte betrifft, ſo iſt alles, wo-
von wir keine Spur haben, daß es ſchon ehedem geleſen iſt,
oder was nur in ſpaͤteren Handſchriften ſich findet ohne die Buͤrg-
ſchaft eines alten Textes, nicht unter das rein Urkundliche zu ſtel-
len, ſondern als Reſultat einer kritiſchen Operation anzuſehen.
Koͤnnen wir nun behaupten, daß die Urkunden, die uͤbrig blei-
ben, ſich ihrem Werthe nach auf beſtimmte Weiſe claſſificiren
laſſen, ſo daß vermoͤge der Claſſification einigen ein allgemeiner
Vorzug vor andern gebuͤhre, andern nur in gewiſſen Faͤllen?
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/338>, abgerufen am 22.12.2024.
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