Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite


herrührt oder nicht? -- Die Frage kann leichter und schwerer
zu entscheiden sein. Leicht ist's, wenn ein unwissender Mensch
das Urtheil gefällt und den Namen Platons zu einem Werke ge-
schrieben hat, welches Niemand für Platonisch halten kann.

Ein solcher Irrthum kann aber noch auf eine andere Art
entstehend gedacht werden, wenn nemlich Jemand z. B. in jenem
Falle nur fragend oder zweifelnd den Namen Platons an den
Rand schrieb, und der Abschreiber einer solchen Handschrift den
Namen aufnahm. Da ist auch eine freie Handlung, aber von
ganz anderer Art, er hat vielleicht nicht über die Sache nachge-
dacht, sondern nur gemeint, weil der Name am Rande stand,
gehöre er mit hinein. Hätte der erstere ein Zeichen der Ungewiß-
heit gemacht, würde der zweite sich nicht versehen haben. Aber
man kann sich denken, daß ein ähnlich lautender Name aufge-
nommen, oder ein den Unterschied zwischen zwei Schriftstellern
bestimmender Beiname übersehen und weggelassen worden ist.
Da kann denn ein mechanisches Versehen angenommen werden.
So laufen in diesem Falle die beiden Entstehungsweisen des Irr-
thums ineinander.

Die Hauptfälle der philologischen Kritik sind in den obigen
Beispielen zusammengefaßt. Wir finden in den wenigsten Fällen
die beiden Entstehungsweisen unterscheidbar. Um das kritische
Verfahren in jedem gegebenen Falle zu bestimmen, muß man
auf die eine oder andere Entstehungsweise zurückgehen. Dieß ist
immer hypothetisch. Aber die Aufgaben lassen sich nicht anders,
als darnach sondern und eintheilen.

Wir können noch weiter zurückgehen und sagen, dasjenige
wodurch alle Operation der Kritik bedingt ist, ist die Entstehung
des Verdachts, daß etwas ist, was nicht sein soll. Wo ein sol-
cher Verdacht nicht ist, kann auch kein kritisches Verfahren ein-
geleitet werden.

Der Verdacht kann gleich von vorn herein entstehen bei
einem augenscheinlichen Fehler, wie z. B. im Gespräch, wenn
Jemand sich verspricht, Namen oder Zahl verwechselnd; er


herruͤhrt oder nicht? — Die Frage kann leichter und ſchwerer
zu entſcheiden ſein. Leicht iſt's, wenn ein unwiſſender Menſch
das Urtheil gefaͤllt und den Namen Platons zu einem Werke ge-
ſchrieben hat, welches Niemand fuͤr Platoniſch halten kann.

Ein ſolcher Irrthum kann aber noch auf eine andere Art
entſtehend gedacht werden, wenn nemlich Jemand z. B. in jenem
Falle nur fragend oder zweifelnd den Namen Platons an den
Rand ſchrieb, und der Abſchreiber einer ſolchen Handſchrift den
Namen aufnahm. Da iſt auch eine freie Handlung, aber von
ganz anderer Art, er hat vielleicht nicht uͤber die Sache nachge-
dacht, ſondern nur gemeint, weil der Name am Rande ſtand,
gehoͤre er mit hinein. Haͤtte der erſtere ein Zeichen der Ungewiß-
heit gemacht, wuͤrde der zweite ſich nicht verſehen haben. Aber
man kann ſich denken, daß ein aͤhnlich lautender Name aufge-
nommen, oder ein den Unterſchied zwiſchen zwei Schriftſtellern
beſtimmender Beiname uͤberſehen und weggelaſſen worden iſt.
Da kann denn ein mechaniſches Verſehen angenommen werden.
So laufen in dieſem Falle die beiden Entſtehungsweiſen des Irr-
thums ineinander.

Die Hauptfaͤlle der philologiſchen Kritik ſind in den obigen
Beiſpielen zuſammengefaßt. Wir finden in den wenigſten Faͤllen
die beiden Entſtehungsweiſen unterſcheidbar. Um das kritiſche
Verfahren in jedem gegebenen Falle zu beſtimmen, muß man
auf die eine oder andere Entſtehungsweiſe zuruͤckgehen. Dieß iſt
immer hypothetiſch. Aber die Aufgaben laſſen ſich nicht anders,
als darnach ſondern und eintheilen.

Wir koͤnnen noch weiter zuruͤckgehen und ſagen, dasjenige
wodurch alle Operation der Kritik bedingt iſt, iſt die Entſtehung
des Verdachts, daß etwas iſt, was nicht ſein ſoll. Wo ein ſol-
cher Verdacht nicht iſt, kann auch kein kritiſches Verfahren ein-
geleitet werden.

Der Verdacht kann gleich von vorn herein entſtehen bei
einem augenſcheinlichen Fehler, wie z. B. im Geſpraͤch, wenn
Jemand ſich verſpricht, Namen oder Zahl verwechſelnd; er

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0305" n="281"/><lb/>
herru&#x0364;hrt oder nicht? &#x2014; Die Frage kann leichter und &#x017F;chwerer<lb/>
zu ent&#x017F;cheiden &#x017F;ein. Leicht i&#x017F;t's, wenn ein unwi&#x017F;&#x017F;ender Men&#x017F;ch<lb/>
das Urtheil gefa&#x0364;llt und den Namen Platons zu einem Werke ge-<lb/>
&#x017F;chrieben hat, welches Niemand fu&#x0364;r Platoni&#x017F;ch halten kann.</p><lb/>
          <p>Ein &#x017F;olcher Irrthum kann aber noch auf eine andere Art<lb/>
ent&#x017F;tehend gedacht werden, wenn nemlich Jemand z. B. in jenem<lb/>
Falle nur fragend oder zweifelnd den Namen Platons an den<lb/>
Rand &#x017F;chrieb, und der Ab&#x017F;chreiber einer &#x017F;olchen Hand&#x017F;chrift den<lb/>
Namen aufnahm. Da i&#x017F;t auch eine freie Handlung, aber von<lb/>
ganz anderer Art, er hat vielleicht nicht u&#x0364;ber die Sache nachge-<lb/>
dacht, &#x017F;ondern nur gemeint, weil der Name am Rande &#x017F;tand,<lb/>
geho&#x0364;re er mit hinein. Ha&#x0364;tte der er&#x017F;tere ein Zeichen der Ungewiß-<lb/>
heit gemacht, wu&#x0364;rde der zweite &#x017F;ich nicht ver&#x017F;ehen haben. Aber<lb/>
man kann &#x017F;ich denken, daß ein a&#x0364;hnlich lautender Name aufge-<lb/>
nommen, oder ein den Unter&#x017F;chied zwi&#x017F;chen zwei Schrift&#x017F;tellern<lb/>
be&#x017F;timmender Beiname u&#x0364;ber&#x017F;ehen und weggela&#x017F;&#x017F;en worden i&#x017F;t.<lb/>
Da kann denn ein mechani&#x017F;ches Ver&#x017F;ehen angenommen werden.<lb/>
So laufen in die&#x017F;em Falle die beiden Ent&#x017F;tehungswei&#x017F;en des Irr-<lb/>
thums ineinander.</p><lb/>
          <p>Die Hauptfa&#x0364;lle der philologi&#x017F;chen Kritik &#x017F;ind in den obigen<lb/>
Bei&#x017F;pielen zu&#x017F;ammengefaßt. Wir finden in den wenig&#x017F;ten Fa&#x0364;llen<lb/>
die beiden Ent&#x017F;tehungswei&#x017F;en unter&#x017F;cheidbar. Um das kriti&#x017F;che<lb/>
Verfahren in jedem gegebenen Falle zu be&#x017F;timmen, muß man<lb/>
auf die eine oder andere Ent&#x017F;tehungswei&#x017F;e zuru&#x0364;ckgehen. Dieß i&#x017F;t<lb/>
immer hypotheti&#x017F;ch. Aber die Aufgaben la&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich nicht anders,<lb/>
als darnach &#x017F;ondern und eintheilen.</p><lb/>
          <p>Wir ko&#x0364;nnen noch weiter zuru&#x0364;ckgehen und &#x017F;agen, dasjenige<lb/>
wodurch alle Operation der Kritik bedingt i&#x017F;t, i&#x017F;t die Ent&#x017F;tehung<lb/>
des Verdachts, daß etwas i&#x017F;t, was nicht &#x017F;ein &#x017F;oll. Wo ein &#x017F;ol-<lb/>
cher Verdacht nicht i&#x017F;t, kann auch kein kriti&#x017F;ches Verfahren ein-<lb/>
geleitet werden.</p><lb/>
          <p>Der Verdacht kann gleich von vorn herein ent&#x017F;tehen bei<lb/>
einem augen&#x017F;cheinlichen Fehler, wie z. B. im Ge&#x017F;pra&#x0364;ch, wenn<lb/>
Jemand &#x017F;ich ver&#x017F;pricht, Namen oder Zahl verwech&#x017F;elnd; er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0305] herruͤhrt oder nicht? — Die Frage kann leichter und ſchwerer zu entſcheiden ſein. Leicht iſt's, wenn ein unwiſſender Menſch das Urtheil gefaͤllt und den Namen Platons zu einem Werke ge- ſchrieben hat, welches Niemand fuͤr Platoniſch halten kann. Ein ſolcher Irrthum kann aber noch auf eine andere Art entſtehend gedacht werden, wenn nemlich Jemand z. B. in jenem Falle nur fragend oder zweifelnd den Namen Platons an den Rand ſchrieb, und der Abſchreiber einer ſolchen Handſchrift den Namen aufnahm. Da iſt auch eine freie Handlung, aber von ganz anderer Art, er hat vielleicht nicht uͤber die Sache nachge- dacht, ſondern nur gemeint, weil der Name am Rande ſtand, gehoͤre er mit hinein. Haͤtte der erſtere ein Zeichen der Ungewiß- heit gemacht, wuͤrde der zweite ſich nicht verſehen haben. Aber man kann ſich denken, daß ein aͤhnlich lautender Name aufge- nommen, oder ein den Unterſchied zwiſchen zwei Schriftſtellern beſtimmender Beiname uͤberſehen und weggelaſſen worden iſt. Da kann denn ein mechaniſches Verſehen angenommen werden. So laufen in dieſem Falle die beiden Entſtehungsweiſen des Irr- thums ineinander. Die Hauptfaͤlle der philologiſchen Kritik ſind in den obigen Beiſpielen zuſammengefaßt. Wir finden in den wenigſten Faͤllen die beiden Entſtehungsweiſen unterſcheidbar. Um das kritiſche Verfahren in jedem gegebenen Falle zu beſtimmen, muß man auf die eine oder andere Entſtehungsweiſe zuruͤckgehen. Dieß iſt immer hypothetiſch. Aber die Aufgaben laſſen ſich nicht anders, als darnach ſondern und eintheilen. Wir koͤnnen noch weiter zuruͤckgehen und ſagen, dasjenige wodurch alle Operation der Kritik bedingt iſt, iſt die Entſtehung des Verdachts, daß etwas iſt, was nicht ſein ſoll. Wo ein ſol- cher Verdacht nicht iſt, kann auch kein kritiſches Verfahren ein- geleitet werden. Der Verdacht kann gleich von vorn herein entſtehen bei einem augenſcheinlichen Fehler, wie z. B. im Geſpraͤch, wenn Jemand ſich verſpricht, Namen oder Zahl verwechſelnd; er

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/305
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/305>, abgerufen am 04.05.2024.