des Künstlers darauf eingegraben ist. Der Name kann aber dem Werke anderweitig beigelegt sein. Dann ist die Frage weiter die, ob die einzelnen Theile ächt sind, ob etwas restaurirt ist u. s. w. Das sind dieselben Operationen, welche die philologische Kritik zu üben hat. Da sehen wir aber schon die Verschiedenheit beider Arten der Kritik, der doctrinalen und philologischen, in denselben Gegen- ständen. Denn jene kümmert sich gar nicht um den Verfasser, sondern um die Idee des Werkes, ob dieses jener entspricht oder nicht. Man kann nun aber sagen, das doctrinale Urtheil z. B. über eine Ode werde doch ein falsches, wenn sich darin einzelne Ele- mente späteren Ursprungs finden; so hange also die doctrinale und philologische Kritik genauer zusammen. Allein der doctrinalen Kritik als solcher ist es gleich viel, ob eine Unvollkommenheit des Werkes ursprünglich von dem Verfasser herührt oder von einem Andern. Die philologische Kritik hingegen sagt, wenn sie einmal ausgemacht und bewiesen habe, daß eine Ode von Horaz herrühre oder nicht, so kümmere sie sich in beiden Fällen nicht, ob sie besser oder schlechter sei. So wären also die Aufgaben und Funktio- nen der doctrinalen und philologischen Kritik durchaus verschie- den, während die Operation der archäologischen und philologi- schen Kritik bei aller Verschiedenheit des Stoffes wesentlich diesel- ben sind.
Indessen läßt sich doch eine gewisse Gemeinschaft zwischen der doctrinalen und philologischen Kritik nicht verkennen. Diese nemlich hat doch großentheils damit zu thun, die Richtigkeit zu beurtheilen, mit der sich eine Schrift fortgepflanzt hat. Dieß aber läßt sich gewissermaaßen unter den Begriff der doctrinalen Kritik bringen. Zu dieser nemlich gehört die ethische Kritik, die Beur- theilung menschlicher Handlungen nach dem, was sie in Beziehung auf gewisse Geseze, Lebensweisen u. s. w. sein sollen. Nun ist die Handschrift die Handlung eines Menschen, und so handelt es sich um die Treue und Genauigkeit, womit er abgeschrieben hat. Sagt man, eine Handschrift sei ungenau, schlecht gemacht, u. s. w., so ist das doch etwas, was ins philologische Gebiet ge-
des Kuͤnſtlers darauf eingegraben iſt. Der Name kann aber dem Werke anderweitig beigelegt ſein. Dann iſt die Frage weiter die, ob die einzelnen Theile aͤcht ſind, ob etwas reſtaurirt iſt u. ſ. w. Das ſind dieſelben Operationen, welche die philologiſche Kritik zu uͤben hat. Da ſehen wir aber ſchon die Verſchiedenheit beider Arten der Kritik, der doctrinalen und philologiſchen, in denſelben Gegen- ſtaͤnden. Denn jene kuͤmmert ſich gar nicht um den Verfaſſer, ſondern um die Idee des Werkes, ob dieſes jener entſpricht oder nicht. Man kann nun aber ſagen, das doctrinale Urtheil z. B. uͤber eine Ode werde doch ein falſches, wenn ſich darin einzelne Ele- mente ſpaͤteren Urſprungs finden; ſo hange alſo die doctrinale und philologiſche Kritik genauer zuſammen. Allein der doctrinalen Kritik als ſolcher iſt es gleich viel, ob eine Unvollkommenheit des Werkes urſpruͤnglich von dem Verfaſſer heruͤhrt oder von einem Andern. Die philologiſche Kritik hingegen ſagt, wenn ſie einmal ausgemacht und bewieſen habe, daß eine Ode von Horaz herruͤhre oder nicht, ſo kuͤmmere ſie ſich in beiden Faͤllen nicht, ob ſie beſſer oder ſchlechter ſei. So waͤren alſo die Aufgaben und Funktio- nen der doctrinalen und philologiſchen Kritik durchaus verſchie- den, waͤhrend die Operation der archaͤologiſchen und philologi- ſchen Kritik bei aller Verſchiedenheit des Stoffes weſentlich dieſel- ben ſind.
Indeſſen laͤßt ſich doch eine gewiſſe Gemeinſchaft zwiſchen der doctrinalen und philologiſchen Kritik nicht verkennen. Dieſe nemlich hat doch großentheils damit zu thun, die Richtigkeit zu beurtheilen, mit der ſich eine Schrift fortgepflanzt hat. Dieß aber laͤßt ſich gewiſſermaaßen unter den Begriff der doctrinalen Kritik bringen. Zu dieſer nemlich gehoͤrt die ethiſche Kritik, die Beur- theilung menſchlicher Handlungen nach dem, was ſie in Beziehung auf gewiſſe Geſeze, Lebensweiſen u. ſ. w. ſein ſollen. Nun iſt die Handſchrift die Handlung eines Menſchen, und ſo handelt es ſich um die Treue und Genauigkeit, womit er abgeſchrieben hat. Sagt man, eine Handſchrift ſei ungenau, ſchlecht gemacht, u. ſ. w., ſo iſt das doch etwas, was ins philologiſche Gebiet ge-
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des Kuͤnſtlers darauf eingegraben iſt. Der Name kann aber dem
Werke anderweitig beigelegt ſein. Dann iſt die Frage weiter die,
ob die einzelnen Theile aͤcht ſind, ob etwas reſtaurirt iſt u. ſ. w.
Das ſind dieſelben Operationen, welche die philologiſche Kritik zu
uͤben hat. Da ſehen wir aber ſchon die Verſchiedenheit beider Arten
der Kritik, der doctrinalen und philologiſchen, in denſelben Gegen-
ſtaͤnden. Denn jene kuͤmmert ſich gar nicht um den Verfaſſer,
ſondern um die Idee des Werkes, ob dieſes jener entſpricht oder
nicht. Man kann nun aber ſagen, das doctrinale Urtheil z. B. uͤber
eine Ode werde doch ein falſches, wenn ſich darin einzelne Ele-
mente ſpaͤteren Urſprungs finden; ſo hange alſo die doctrinale und
philologiſche Kritik genauer zuſammen. Allein der doctrinalen
Kritik als ſolcher iſt es gleich viel, ob eine Unvollkommenheit des
Werkes urſpruͤnglich von dem Verfaſſer heruͤhrt oder von einem
Andern. Die philologiſche Kritik hingegen ſagt, wenn ſie einmal
ausgemacht und bewieſen habe, daß eine Ode von Horaz herruͤhre
oder nicht, ſo kuͤmmere ſie ſich in beiden Faͤllen nicht, ob ſie
beſſer oder ſchlechter ſei. So waͤren alſo die Aufgaben und Funktio-
nen der doctrinalen und philologiſchen Kritik durchaus verſchie-
den, waͤhrend die Operation der archaͤologiſchen und philologi-
ſchen Kritik bei aller Verſchiedenheit des Stoffes weſentlich dieſel-
ben ſind.
Indeſſen laͤßt ſich doch eine gewiſſe Gemeinſchaft zwiſchen
der doctrinalen und philologiſchen Kritik nicht verkennen. Dieſe
nemlich hat doch großentheils damit zu thun, die Richtigkeit zu
beurtheilen, mit der ſich eine Schrift fortgepflanzt hat. Dieß aber
laͤßt ſich gewiſſermaaßen unter den Begriff der doctrinalen Kritik
bringen. Zu dieſer nemlich gehoͤrt die ethiſche Kritik, die Beur-
theilung menſchlicher Handlungen nach dem, was ſie in Beziehung
auf gewiſſe Geſeze, Lebensweiſen u. ſ. w. ſein ſollen. Nun iſt
die Handſchrift die Handlung eines Menſchen, und ſo handelt
es ſich um die Treue und Genauigkeit, womit er abgeſchrieben
hat. Sagt man, eine Handſchrift ſei ungenau, ſchlecht gemacht,
u. ſ. w., ſo iſt das doch etwas, was ins philologiſche Gebiet ge-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/294>, abgerufen am 23.12.2024.
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