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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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wir dabei denken? Das ist aber zunächst gar nicht die Unter-
suchung über die Ächtheit oder Unächtheit der Schrift selbst.

Man sagt nun, die niedere Kritik beziehe sich auf die Ächtheit
oder Unächtheit der einzelnen Buchstaben und Worte, die höhere
auf ganze Schriften und ganze Schrifttheile. Allein dieß ist eine
mechanische und unhaltbare Unterscheidung. Sind die Worte nicht
auch Theile der Schrift? Kann nicht die Ächtheit oder Unächt-
heit eines Wortes von viel größerer Bedeutung sein, als die
eines ganzen Theiles? -- Die Conjectur des Socinianers Sam.
Crell Joh. 1, 1. statt theos, theou en o logos zu lesen, würde
darnach zur niederen Kritik gehören, die Frage aber über die Pe-
rikope von der Ehebrecherin zur höheren. Und doch ist das
erstere wegen des ganzen Zusammenhanges des Evangeliums wich-
tiger zu wissen, als das leztere.

Es giebt offenbar Fälle, wo beides so ineinander geht, daß man
es gar nicht mehr zu unterscheiden vermag. Die Frage über die
Ächtheit oder Unächtheit eines Sazes, also eines Theiles der
Schrift, beruht oft auf einem einzelnen Wort. Man wird nicht
sagen können, ein Wort sei eigentlich kein Theil einer Schrift,
aber auch nicht, wenn von Säzen die Rede sei, da sei das Ge-
biet der höheren, wenn von den Elementen derselben, das Ge-
biet der niederen Kritik. Es giebt hier keine Grenze. Die ganze
Betrachtungsweise ist ungenügend und es ist besser, den ganzen
Unterschied wegzuwerfen.

Betrachten wir die beiden obigen Fälle von einer andern
Seite, so werden wir finden, es gehört zur Entscheidung über
jenes theos und theou eine ungleich größere Mannigfaltigkeit von
Operationen, auch Thätigkeiten höherer Art, als dazu, um über die
Ächtheit des Abschnitts von der Ehebrecherin zu urtheilen. Hier
kommt es eben nur auf den Werth der Handschriften an, welche
den Abschnitt haben oder nicht haben. Von der Leseart theou
aber haben wir in den Handschriften keine Spur, und man muß
vieles gelesen und untersucht haben, um darüber zu reden. So

wir dabei denken? Das iſt aber zunaͤchſt gar nicht die Unter-
ſuchung uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit der Schrift ſelbſt.

Man ſagt nun, die niedere Kritik beziehe ſich auf die Ächtheit
oder Unaͤchtheit der einzelnen Buchſtaben und Worte, die hoͤhere
auf ganze Schriften und ganze Schrifttheile. Allein dieß iſt eine
mechaniſche und unhaltbare Unterſcheidung. Sind die Worte nicht
auch Theile der Schrift? Kann nicht die Ächtheit oder Unaͤcht-
heit eines Wortes von viel groͤßerer Bedeutung ſein, als die
eines ganzen Theiles? — Die Conjectur des Socinianers Sam.
Crell Joh. 1, 1. ſtatt ϑεὸς, ϑεοῦ ἦν ὁ λὁγος zu leſen, wuͤrde
darnach zur niederen Kritik gehoͤren, die Frage aber uͤber die Pe-
rikope von der Ehebrecherin zur hoͤheren. Und doch iſt das
erſtere wegen des ganzen Zuſammenhanges des Evangeliums wich-
tiger zu wiſſen, als das leztere.

Es giebt offenbar Faͤlle, wo beides ſo ineinander geht, daß man
es gar nicht mehr zu unterſcheiden vermag. Die Frage uͤber die
Ächtheit oder Unaͤchtheit eines Sazes, alſo eines Theiles der
Schrift, beruht oft auf einem einzelnen Wort. Man wird nicht
ſagen koͤnnen, ein Wort ſei eigentlich kein Theil einer Schrift,
aber auch nicht, wenn von Saͤzen die Rede ſei, da ſei das Ge-
biet der hoͤheren, wenn von den Elementen derſelben, das Ge-
biet der niederen Kritik. Es giebt hier keine Grenze. Die ganze
Betrachtungsweiſe iſt ungenuͤgend und es iſt beſſer, den ganzen
Unterſchied wegzuwerfen.

Betrachten wir die beiden obigen Faͤlle von einer andern
Seite, ſo werden wir finden, es gehoͤrt zur Entſcheidung uͤber
jenes ϑεὸς und ϑεοῦ eine ungleich groͤßere Mannigfaltigkeit von
Operationen, auch Thaͤtigkeiten hoͤherer Art, als dazu, um uͤber die
Ächtheit des Abſchnitts von der Ehebrecherin zu urtheilen. Hier
kommt es eben nur auf den Werth der Handſchriften an, welche
den Abſchnitt haben oder nicht haben. Von der Leſeart ϑεοῦ
aber haben wir in den Handſchriften keine Spur, und man muß
vieles geleſen und unterſucht haben, um daruͤber zu reden. So

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[267/0291] wir dabei denken? Das iſt aber zunaͤchſt gar nicht die Unter- ſuchung uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit der Schrift ſelbſt. Man ſagt nun, die niedere Kritik beziehe ſich auf die Ächtheit oder Unaͤchtheit der einzelnen Buchſtaben und Worte, die hoͤhere auf ganze Schriften und ganze Schrifttheile. Allein dieß iſt eine mechaniſche und unhaltbare Unterſcheidung. Sind die Worte nicht auch Theile der Schrift? Kann nicht die Ächtheit oder Unaͤcht- heit eines Wortes von viel groͤßerer Bedeutung ſein, als die eines ganzen Theiles? — Die Conjectur des Socinianers Sam. Crell Joh. 1, 1. ſtatt ϑεὸς, ϑεοῦ ἦν ὁ λὁγος zu leſen, wuͤrde darnach zur niederen Kritik gehoͤren, die Frage aber uͤber die Pe- rikope von der Ehebrecherin zur hoͤheren. Und doch iſt das erſtere wegen des ganzen Zuſammenhanges des Evangeliums wich- tiger zu wiſſen, als das leztere. Es giebt offenbar Faͤlle, wo beides ſo ineinander geht, daß man es gar nicht mehr zu unterſcheiden vermag. Die Frage uͤber die Ächtheit oder Unaͤchtheit eines Sazes, alſo eines Theiles der Schrift, beruht oft auf einem einzelnen Wort. Man wird nicht ſagen koͤnnen, ein Wort ſei eigentlich kein Theil einer Schrift, aber auch nicht, wenn von Saͤzen die Rede ſei, da ſei das Ge- biet der hoͤheren, wenn von den Elementen derſelben, das Ge- biet der niederen Kritik. Es giebt hier keine Grenze. Die ganze Betrachtungsweiſe iſt ungenuͤgend und es iſt beſſer, den ganzen Unterſchied wegzuwerfen. Betrachten wir die beiden obigen Faͤlle von einer andern Seite, ſo werden wir finden, es gehoͤrt zur Entſcheidung uͤber jenes ϑεὸς und ϑεοῦ eine ungleich groͤßere Mannigfaltigkeit von Operationen, auch Thaͤtigkeiten hoͤherer Art, als dazu, um uͤber die Ächtheit des Abſchnitts von der Ehebrecherin zu urtheilen. Hier kommt es eben nur auf den Werth der Handſchriften an, welche den Abſchnitt haben oder nicht haben. Von der Leſeart ϑεοῦ aber haben wir in den Handſchriften keine Spur, und man muß vieles geleſen und unterſucht haben, um daruͤber zu reden. So

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/291>, abgerufen am 03.05.2024.