ziehung auf die Sprache voraus, bei der er eigentlich nicht hätte schreiben sollen.
Hier ist auf etwas häufig Vorkommendes aufmerksam zu ma- chen. Die neutest. Schriftsteller stehen in dem Credit, nicht litte- rärisch gebildete Männer gewesen zu sein, außer Paulus. Man steigert das nun oft so, daß man sagt, sie hätten mit der Sprache gar nicht umzugehen gewußt, um sich deutlich zu machen. Wenn nun der Exeget die Auslegungen, welche von einem Partheiin- teresse aus gemacht worden sind, so widerlegt, daß er sagt, es lasse sich nicht denken, daß Jemand so sollte geschrieben haben, wenn das seine Meinung gewesen, und dergl. -- so wird oft eingewendet, das sei für die neutest. Schriftsteller viel zu kunst- gemäß. Allein wenn man diese Schriftsteller dadurch jeder Will- kühr Preis geben will, so ist das eine ganz falsche Anwendung der an sich unleugbaren Thatsache, daß sie nicht litterärisch ge- bildet waren. Gehören diese Schriftsteller zur Classe der ersten Verkündiger des Evangeliums, waren sie von den Principien desselben auf eine eminente Weise durchdrungen, sind sie es ge- rade gewesen, die bewirkt haben, daß das Christenthum seine be- stimmte Stelle in der Welt eingenommen, so ist Besseres von ihnen anzunehmen. Da kommt freilich noch ein anderer Umstand in Betracht. Man kann sagen, jene Dunkelheiten seien nicht aus ihrer Unfähigkeit im Denken und in der Mittheilung der Ge- danken durch die Sprache hervorgegangen, aber sie mußten doch griechisch sprechen und dies war ihre eigentliche Sprache nicht; die Nothwendigkeit in eine andere, fremde Sprache überzugehen, das sei der eigentliche Grund ihrer Unfähigkeit. Allein kein neu- test. Schriftsteller konnte in den Fall kommen, das Griechische schreiben zu müssen, wenn er nicht zuvor in dem Fall gewesen war, es reden zu müssen. Ja es kann angenommen werden, daß die Apostel in ihrem Lehramte selbst in Jerusalem sich mehr haben griechisch ausdrücken müssen. So fällt also auch der Grund zur Willkühr in der Auslegung weg. Auf rhetorische Kunstmä- ßigkeit machen sie freilich keinen Anspruch, aber auf die bei jedem
Hermeneutik u. Kritik. 17
ziehung auf die Sprache voraus, bei der er eigentlich nicht haͤtte ſchreiben ſollen.
Hier iſt auf etwas haͤufig Vorkommendes aufmerkſam zu ma- chen. Die neuteſt. Schriftſteller ſtehen in dem Credit, nicht litte- raͤriſch gebildete Maͤnner geweſen zu ſein, außer Paulus. Man ſteigert das nun oft ſo, daß man ſagt, ſie haͤtten mit der Sprache gar nicht umzugehen gewußt, um ſich deutlich zu machen. Wenn nun der Exeget die Auslegungen, welche von einem Partheiin- tereſſe aus gemacht worden ſind, ſo widerlegt, daß er ſagt, es laſſe ſich nicht denken, daß Jemand ſo ſollte geſchrieben haben, wenn das ſeine Meinung geweſen, und dergl. — ſo wird oft eingewendet, das ſei fuͤr die neuteſt. Schriftſteller viel zu kunſt- gemaͤß. Allein wenn man dieſe Schriftſteller dadurch jeder Will- kuͤhr Preis geben will, ſo iſt das eine ganz falſche Anwendung der an ſich unleugbaren Thatſache, daß ſie nicht litteraͤriſch ge- bildet waren. Gehoͤren dieſe Schriftſteller zur Claſſe der erſten Verkuͤndiger des Evangeliums, waren ſie von den Principien deſſelben auf eine eminente Weiſe durchdrungen, ſind ſie es ge- rade geweſen, die bewirkt haben, daß das Chriſtenthum ſeine be- ſtimmte Stelle in der Welt eingenommen, ſo iſt Beſſeres von ihnen anzunehmen. Da kommt freilich noch ein anderer Umſtand in Betracht. Man kann ſagen, jene Dunkelheiten ſeien nicht aus ihrer Unfaͤhigkeit im Denken und in der Mittheilung der Ge- danken durch die Sprache hervorgegangen, aber ſie mußten doch griechiſch ſprechen und dies war ihre eigentliche Sprache nicht; die Nothwendigkeit in eine andere, fremde Sprache uͤberzugehen, das ſei der eigentliche Grund ihrer Unfaͤhigkeit. Allein kein neu- teſt. Schriftſteller konnte in den Fall kommen, das Griechiſche ſchreiben zu muͤſſen, wenn er nicht zuvor in dem Fall geweſen war, es reden zu muͤſſen. Ja es kann angenommen werden, daß die Apoſtel in ihrem Lehramte ſelbſt in Jeruſalem ſich mehr haben griechiſch ausdruͤcken muͤſſen. So faͤllt alſo auch der Grund zur Willkuͤhr in der Auslegung weg. Auf rhetoriſche Kunſtmaͤ- ßigkeit machen ſie freilich keinen Anſpruch, aber auf die bei jedem
Hermeneutik u. Kritik. 17
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ziehung auf die Sprache voraus, bei der er eigentlich nicht haͤtte
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Hier iſt auf etwas haͤufig Vorkommendes aufmerkſam zu ma-
chen. Die neuteſt. Schriftſteller ſtehen in dem Credit, nicht litte-
raͤriſch gebildete Maͤnner geweſen zu ſein, außer Paulus. Man
ſteigert das nun oft ſo, daß man ſagt, ſie haͤtten mit der Sprache
gar nicht umzugehen gewußt, um ſich deutlich zu machen. Wenn
nun der Exeget die Auslegungen, welche von einem Partheiin-
tereſſe aus gemacht worden ſind, ſo widerlegt, daß er ſagt, es
laſſe ſich nicht denken, daß Jemand ſo ſollte geſchrieben haben,
wenn das ſeine Meinung geweſen, und dergl. — ſo wird oft
eingewendet, das ſei fuͤr die neuteſt. Schriftſteller viel zu kunſt-
gemaͤß. Allein wenn man dieſe Schriftſteller dadurch jeder Will-
kuͤhr Preis geben will, ſo iſt das eine ganz falſche Anwendung
der an ſich unleugbaren Thatſache, daß ſie nicht litteraͤriſch ge-
bildet waren. Gehoͤren dieſe Schriftſteller zur Claſſe der erſten
Verkuͤndiger des Evangeliums, waren ſie von den Principien
deſſelben auf eine eminente Weiſe durchdrungen, ſind ſie es ge-
rade geweſen, die bewirkt haben, daß das Chriſtenthum ſeine be-
ſtimmte Stelle in der Welt eingenommen, ſo iſt Beſſeres von
ihnen anzunehmen. Da kommt freilich noch ein anderer Umſtand
in Betracht. Man kann ſagen, jene Dunkelheiten ſeien nicht
aus ihrer Unfaͤhigkeit im Denken und in der Mittheilung der Ge-
danken durch die Sprache hervorgegangen, aber ſie mußten doch
griechiſch ſprechen und dies war ihre eigentliche Sprache nicht;
die Nothwendigkeit in eine andere, fremde Sprache uͤberzugehen,
das ſei der eigentliche Grund ihrer Unfaͤhigkeit. Allein kein neu-
teſt. Schriftſteller konnte in den Fall kommen, das Griechiſche
ſchreiben zu muͤſſen, wenn er nicht zuvor in dem Fall geweſen
war, es reden zu muͤſſen. Ja es kann angenommen werden,
daß die Apoſtel in ihrem Lehramte ſelbſt in Jeruſalem ſich mehr
haben griechiſch ausdruͤcken muͤſſen. So faͤllt alſo auch der Grund
zur Willkuͤhr in der Auslegung weg. Auf rhetoriſche Kunſtmaͤ-
ßigkeit machen ſie freilich keinen Anſpruch, aber auf die bei jedem
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/281>, abgerufen am 22.12.2024.
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