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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Barnabas genommen, und kam dieser in Gegenden, die nachher
und vorher berührt werden, so mußte der Verfasser auch etwas
darüber sagen können. Da haben wir also eine bestimmte For-
mel über den Zweck der Composition. Darnach reicht der ange-
gebene Zweck nicht aus. -- Hält man die Verhältnisse ihrem
Gegenstande nach zusammen, so hat man das Resultat, daß vie-
les sein müsse, was nicht ist, und vieles anders, als es ist. --
Der Verfasser giebt sich zu erkennen als derselbe, der das Evan-
gelium geschrieben. Die AG. soll der zweite Theil zu jenem
Werke sein, auch knüpft sie eng an das Evangelium an. Es ist
also zu erwarten, daß die AG. nach demselben Princip compo-
nirt ist, wie das Evangelium. Die Untersuchung über dieses hat
ein Resultat gegeben, dem die Einleitung zu dem ganzen Werke
entspricht, daß der Verfasser einzelne früher vorhandene Elemente
zusammengestellt. Daraus folgt aber, daß die Elemente auch in
der AG. so zusammengestellt sind, sonst wäre diese nicht der zweite
Theil des Evangeliums. Da fragt sich nun, hat der Verfasser
in der AG. mehr Materialien gehabt, eben so ausgeführt, oder
eben nur das, was er zusammenstellt? -- Die Frage ist eine
andere, als die vorhergestellte. Denn dort läßt sich denken, daß
der Verfasser Notizen gehabt, die nicht in den Zweck gehörten;
es waren aber eben nur Notizen. Hatte er hingegen keine Ma-
terialien, so war es möglich, daß er sich dieselben nicht hatte ver-
schaffen können, er hätte sie erst componiren müssen. Da er dieß
aber in dem Evangelium nicht gethan hat, so wollte und durfte
er es auch nicht in der AG. Die Stiftung der Gemeinde von
Jerusalem am Pfingsttage war eine so höchst merkwürdige Bege-
benheit, daß sich darüber leicht Jemand ein Memoire aufsezen
oder einer aus derselben Zeit leicht von Andern dazu aufgefor-
dert werden konnte. Eben so besteht alles übrige über Jerusalem
mitgetheilte aus einzelnen prägnanten Momenten. Dagegen sehen
wir auf den lez[t]en Aufenthalt des Apostels Paulus in Jerusalem, so
erkennen wir, wie sich das Christenthum damals schon so ver-
breitet hatte, daß in dem größeren Gesammtleben das Einzelne


Barnabas genommen, und kam dieſer in Gegenden, die nachher
und vorher beruͤhrt werden, ſo mußte der Verfaſſer auch etwas
daruͤber ſagen koͤnnen. Da haben wir alſo eine beſtimmte For-
mel uͤber den Zweck der Compoſition. Darnach reicht der ange-
gebene Zweck nicht aus. — Haͤlt man die Verhaͤltniſſe ihrem
Gegenſtande nach zuſammen, ſo hat man das Reſultat, daß vie-
les ſein muͤſſe, was nicht iſt, und vieles anders, als es iſt. —
Der Verfaſſer giebt ſich zu erkennen als derſelbe, der das Evan-
gelium geſchrieben. Die AG. ſoll der zweite Theil zu jenem
Werke ſein, auch knuͤpft ſie eng an das Evangelium an. Es iſt
alſo zu erwarten, daß die AG. nach demſelben Princip compo-
nirt iſt, wie das Evangelium. Die Unterſuchung uͤber dieſes hat
ein Reſultat gegeben, dem die Einleitung zu dem ganzen Werke
entſpricht, daß der Verfaſſer einzelne fruͤher vorhandene Elemente
zuſammengeſtellt. Daraus folgt aber, daß die Elemente auch in
der AG. ſo zuſammengeſtellt ſind, ſonſt waͤre dieſe nicht der zweite
Theil des Evangeliums. Da fragt ſich nun, hat der Verfaſſer
in der AG. mehr Materialien gehabt, eben ſo ausgefuͤhrt, oder
eben nur das, was er zuſammenſtellt? — Die Frage iſt eine
andere, als die vorhergeſtellte. Denn dort laͤßt ſich denken, daß
der Verfaſſer Notizen gehabt, die nicht in den Zweck gehoͤrten;
es waren aber eben nur Notizen. Hatte er hingegen keine Ma-
terialien, ſo war es moͤglich, daß er ſich dieſelben nicht hatte ver-
ſchaffen koͤnnen, er haͤtte ſie erſt componiren muͤſſen. Da er dieß
aber in dem Evangelium nicht gethan hat, ſo wollte und durfte
er es auch nicht in der AG. Die Stiftung der Gemeinde von
Jeruſalem am Pfingſttage war eine ſo hoͤchſt merkwuͤrdige Bege-
benheit, daß ſich daruͤber leicht Jemand ein Memoire aufſezen
oder einer aus derſelben Zeit leicht von Andern dazu aufgefor-
dert werden konnte. Eben ſo beſteht alles uͤbrige uͤber Jeruſalem
mitgetheilte aus einzelnen praͤgnanten Momenten. Dagegen ſehen
wir auf den lez[t]en Aufenthalt des Apoſtels Paulus in Jeruſalem, ſo
erkennen wir, wie ſich das Chriſtenthum damals ſchon ſo ver-
breitet hatte, daß in dem groͤßeren Geſammtleben das Einzelne

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[231/0255] Barnabas genommen, und kam dieſer in Gegenden, die nachher und vorher beruͤhrt werden, ſo mußte der Verfaſſer auch etwas daruͤber ſagen koͤnnen. Da haben wir alſo eine beſtimmte For- mel uͤber den Zweck der Compoſition. Darnach reicht der ange- gebene Zweck nicht aus. — Haͤlt man die Verhaͤltniſſe ihrem Gegenſtande nach zuſammen, ſo hat man das Reſultat, daß vie- les ſein muͤſſe, was nicht iſt, und vieles anders, als es iſt. — Der Verfaſſer giebt ſich zu erkennen als derſelbe, der das Evan- gelium geſchrieben. Die AG. ſoll der zweite Theil zu jenem Werke ſein, auch knuͤpft ſie eng an das Evangelium an. Es iſt alſo zu erwarten, daß die AG. nach demſelben Princip compo- nirt iſt, wie das Evangelium. Die Unterſuchung uͤber dieſes hat ein Reſultat gegeben, dem die Einleitung zu dem ganzen Werke entſpricht, daß der Verfaſſer einzelne fruͤher vorhandene Elemente zuſammengeſtellt. Daraus folgt aber, daß die Elemente auch in der AG. ſo zuſammengeſtellt ſind, ſonſt waͤre dieſe nicht der zweite Theil des Evangeliums. Da fragt ſich nun, hat der Verfaſſer in der AG. mehr Materialien gehabt, eben ſo ausgefuͤhrt, oder eben nur das, was er zuſammenſtellt? — Die Frage iſt eine andere, als die vorhergeſtellte. Denn dort laͤßt ſich denken, daß der Verfaſſer Notizen gehabt, die nicht in den Zweck gehoͤrten; es waren aber eben nur Notizen. Hatte er hingegen keine Ma- terialien, ſo war es moͤglich, daß er ſich dieſelben nicht hatte ver- ſchaffen koͤnnen, er haͤtte ſie erſt componiren muͤſſen. Da er dieß aber in dem Evangelium nicht gethan hat, ſo wollte und durfte er es auch nicht in der AG. Die Stiftung der Gemeinde von Jeruſalem am Pfingſttage war eine ſo hoͤchſt merkwuͤrdige Bege- benheit, daß ſich daruͤber leicht Jemand ein Memoire aufſezen oder einer aus derſelben Zeit leicht von Andern dazu aufgefor- dert werden konnte. Eben ſo beſteht alles uͤbrige uͤber Jeruſalem mitgetheilte aus einzelnen praͤgnanten Momenten. Dagegen ſehen wir auf den lezten Aufenthalt des Apoſtels Paulus in Jeruſalem, ſo erkennen wir, wie ſich das Chriſtenthum damals ſchon ſo ver- breitet hatte, daß in dem groͤßeren Geſammtleben das Einzelne

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/255>, abgerufen am 04.05.2024.