Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

wir sagen, es giebt in der ersten Entwicklung des Einzelnen, die
wir Meditation nennen, ein Fortschreiten, welches mehr an der
Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortschreiten, welches mehr
unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erste immer
gleich die Form bestimmen, und es wird da ein Wechsel sein zwi-
schen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein-
zelne wird im Zusammenhange nur mit seiner Stelle gefunden.
Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des
Einzelnen hat, für sich gefunden, wo dann mannigfaltige Zusam-
menstellungen möglich sind. Das Ganze wird ein Anderes sein,
wenn es auf die eine oder andere Weise verstanden wird, also
mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein-
zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver-
stehen können, wenn wir die Genesis verstehen. Daher die uner-
laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenstand der Herme-
neutik sein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verstehen.
Sobald man sich mehr an das eine oder andere hält, wird die
Lösung der Aufgabe unvollkommen sein. Es wird freilich bei
dieser Aufgabe Jeder durch sich selbst eine vorherrschende Richtung
auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darstellung
der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unsre eigenen ver-
stehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abstoßung sein.
Daher wird die Art der hermeneutischen Operation sich nach der
eigenen Gedankenentwicklung bestimmen. Es giebt viele, die sich,
wenn sie lesen, aus der Form nichts machen und nur auf den
Inhalt sehen. Dabei ist ein unordentliches Verfahren möglich.
Denke ich den Inhalt von der Form gesondert, so kann ich überall
anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten ansehe.
Manche Arten von Darstellungen ertragen das eher, als andere.
Es giebt aber auch Leser, die es überwiegend auf die Form an-
legen. Dabei ist denn gewöhnlich im Hinterhalt, daß man denkt,
sich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu
können in dem Maaße, in welchem man das Ganze nöthig hat.
Aber in der That sobald bei dem Verstehenwollen die Richtung

wir ſagen, es giebt in der erſten Entwicklung des Einzelnen, die
wir Meditation nennen, ein Fortſchreiten, welches mehr an der
Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortſchreiten, welches mehr
unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erſte immer
gleich die Form beſtimmen, und es wird da ein Wechſel ſein zwi-
ſchen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein-
zelne wird im Zuſammenhange nur mit ſeiner Stelle gefunden.
Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des
Einzelnen hat, fuͤr ſich gefunden, wo dann mannigfaltige Zuſam-
menſtellungen moͤglich ſind. Das Ganze wird ein Anderes ſein,
wenn es auf die eine oder andere Weiſe verſtanden wird, alſo
mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein-
zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver-
ſtehen koͤnnen, wenn wir die Geneſis verſtehen. Daher die uner-
laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenſtand der Herme-
neutik ſein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verſtehen.
Sobald man ſich mehr an das eine oder andere haͤlt, wird die
Loͤſung der Aufgabe unvollkommen ſein. Es wird freilich bei
dieſer Aufgabe Jeder durch ſich ſelbſt eine vorherrſchende Richtung
auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darſtellung
der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unſre eigenen ver-
ſtehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abſtoßung ſein.
Daher wird die Art der hermeneutiſchen Operation ſich nach der
eigenen Gedankenentwicklung beſtimmen. Es giebt viele, die ſich,
wenn ſie leſen, aus der Form nichts machen und nur auf den
Inhalt ſehen. Dabei iſt ein unordentliches Verfahren moͤglich.
Denke ich den Inhalt von der Form geſondert, ſo kann ich uͤberall
anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten anſehe.
Manche Arten von Darſtellungen ertragen das eher, als andere.
Es giebt aber auch Leſer, die es uͤberwiegend auf die Form an-
legen. Dabei iſt denn gewoͤhnlich im Hinterhalt, daß man denkt,
ſich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu
koͤnnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze noͤthig hat.
Aber in der That ſobald bei dem Verſtehenwollen die Richtung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0228" n="204"/>
wir &#x017F;agen, es giebt in der er&#x017F;ten Entwicklung des Einzelnen, die<lb/>
wir Meditation nennen, ein Fort&#x017F;chreiten, welches mehr an der<lb/>
Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fort&#x017F;chreiten, welches mehr<lb/>
unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Er&#x017F;te immer<lb/>
gleich die Form be&#x017F;timmen, und es wird da ein Wech&#x017F;el &#x017F;ein zwi-<lb/>
&#x017F;chen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein-<lb/>
zelne wird im Zu&#x017F;ammenhange nur mit &#x017F;einer Stelle gefunden.<lb/>
Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des<lb/>
Einzelnen hat, fu&#x0364;r &#x017F;ich gefunden, wo dann mannigfaltige Zu&#x017F;am-<lb/>
men&#x017F;tellungen mo&#x0364;glich &#x017F;ind. Das Ganze wird ein Anderes &#x017F;ein,<lb/>
wenn es auf die eine oder andere Wei&#x017F;e ver&#x017F;tanden wird, al&#x017F;o<lb/>
mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein-<lb/>
zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver-<lb/>
&#x017F;tehen ko&#x0364;nnen, wenn wir die Gene&#x017F;is ver&#x017F;tehen. Daher die uner-<lb/>
laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegen&#x017F;tand der Herme-<lb/>
neutik &#x017F;ein kann, in jener zweifachen Beziehung zu ver&#x017F;tehen.<lb/>
Sobald man &#x017F;ich mehr an das eine oder andere ha&#x0364;lt, wird die<lb/>
Lo&#x0364;&#x017F;ung der Aufgabe unvollkommen &#x017F;ein. Es wird freilich bei<lb/>
die&#x017F;er Aufgabe Jeder durch &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t eine vorherr&#x017F;chende Richtung<lb/>
auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Dar&#x017F;tellung<lb/>
der Gedanken eines Andern in Beziehung auf un&#x017F;re eigenen ver-<lb/>
&#x017F;tehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Ab&#x017F;toßung &#x017F;ein.<lb/>
Daher wird die Art der hermeneuti&#x017F;chen Operation &#x017F;ich nach der<lb/>
eigenen Gedankenentwicklung be&#x017F;timmen. Es giebt viele, die &#x017F;ich,<lb/>
wenn &#x017F;ie le&#x017F;en, aus der Form nichts machen und nur auf den<lb/>
Inhalt &#x017F;ehen. Dabei i&#x017F;t ein unordentliches Verfahren mo&#x0364;glich.<lb/>
Denke ich den Inhalt von der Form ge&#x017F;ondert, &#x017F;o kann ich u&#x0364;berall<lb/>
anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten an&#x017F;ehe.<lb/>
Manche Arten von Dar&#x017F;tellungen ertragen das eher, als andere.<lb/>
Es giebt aber auch Le&#x017F;er, die es u&#x0364;berwiegend auf die Form an-<lb/>
legen. Dabei i&#x017F;t denn gewo&#x0364;hnlich im Hinterhalt, daß man denkt,<lb/>
&#x017F;ich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu<lb/>
ko&#x0364;nnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze no&#x0364;thig hat.<lb/>
Aber in der That &#x017F;obald bei dem Ver&#x017F;tehenwollen die Richtung<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[204/0228] wir ſagen, es giebt in der erſten Entwicklung des Einzelnen, die wir Meditation nennen, ein Fortſchreiten, welches mehr an der Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortſchreiten, welches mehr unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erſte immer gleich die Form beſtimmen, und es wird da ein Wechſel ſein zwi- ſchen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein- zelne wird im Zuſammenhange nur mit ſeiner Stelle gefunden. Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des Einzelnen hat, fuͤr ſich gefunden, wo dann mannigfaltige Zuſam- menſtellungen moͤglich ſind. Das Ganze wird ein Anderes ſein, wenn es auf die eine oder andere Weiſe verſtanden wird, alſo mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein- zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver- ſtehen koͤnnen, wenn wir die Geneſis verſtehen. Daher die uner- laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenſtand der Herme- neutik ſein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verſtehen. Sobald man ſich mehr an das eine oder andere haͤlt, wird die Loͤſung der Aufgabe unvollkommen ſein. Es wird freilich bei dieſer Aufgabe Jeder durch ſich ſelbſt eine vorherrſchende Richtung auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darſtellung der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unſre eigenen ver- ſtehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abſtoßung ſein. Daher wird die Art der hermeneutiſchen Operation ſich nach der eigenen Gedankenentwicklung beſtimmen. Es giebt viele, die ſich, wenn ſie leſen, aus der Form nichts machen und nur auf den Inhalt ſehen. Dabei iſt ein unordentliches Verfahren moͤglich. Denke ich den Inhalt von der Form geſondert, ſo kann ich uͤberall anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten anſehe. Manche Arten von Darſtellungen ertragen das eher, als andere. Es giebt aber auch Leſer, die es uͤberwiegend auf die Form an- legen. Dabei iſt denn gewoͤhnlich im Hinterhalt, daß man denkt, ſich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu koͤnnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze noͤthig hat. Aber in der That ſobald bei dem Verſtehenwollen die Richtung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/228
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/228>, abgerufen am 07.05.2024.