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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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rakter haben, der neben dem übrigen nicht schwer zu unterschei-
den ist, und doch kann man schwanken, ob der Zustand eines Frem-
den oder der Korinthier dieß oder jenes erregt hat, wenn der
Apostel die betreffende Thatsache nicht erwähnt. In den neutest.
Briefen finden wir eigenthümliche Differenzen. Einige sind an
bestimmte Gemeinden gerichtet, andere an einzelne Personen, fer-
ner giebt es solche, die eine unbekannte, und andere, die eine
unbestimmte Bestimmung haben. Zu der ersteren Art gehören,
wie die Kritik lehrt, die Briefe an die Hebräer und an die Ephe-
sier, zu der lezteren Art der erste Joh. Brief. In andern katho-
lischen Briefen werden zwar bestimmte Landschaften genannt, aber
die Christen sind nicht als Einheit genannt, sondern unbestimmt,
als in der Zerstreuung lebende. Wo nun die Addresse unbestimmt
ist, ergiebt sich von selbst, was die Einheit eines solchen Briefes
sein kann. Zwar kann jeder Brief eine didaktische Einheit haben,
aber, wenn diese nicht darin ist, dann kann der Verfasser nicht
aus einem bestimmten Bilde von denen, an die der Brief gerichtet
ist, reden, weil diese keine Einheit haben und er nicht weiß, wo-
hin der Brief kommen wird. Da schreibt er also von allgemei-
nen Voraussezungen aus, oder von seinen eigenen Zuständen.
Anders ist es, wenn uns die Addresse eines Briefes unbekannt
ist, denn deswegen braucht sie für den Verfasser nicht unbestimmt
gewesen zu sein. Da ist also das eine wie das andere möglich.

Die Geschichte der Auslegung des N. T. zeigt, wie schwer
es sei, von solchen Voraussezungen aus, wo so viele Notizen
fehlen, welche nur durch Conjectur gefunden werden können, zu
interpretiren. Wie lange hat man geglaubt, es beziehe sich man-
ches Apostolische auf das Gnostische und sei daraus zu erklären,
bis man späterhin fand, daß damahls der Gnosticismus noch
nicht so weit ausgebildet war. Das ist eine hinreichende War-
nung, mit größter Vorsicht zu Werke zu gehen, wenn man feh-
lende Kenntnisse durch Hypothesen ersezen will. Jene falsche Vor-
aussezung war sehr natürlich. Die Kenntniß der Umstände war
nicht gegeben, man war also an die älteste Geschichte des Chri-

rakter haben, der neben dem uͤbrigen nicht ſchwer zu unterſchei-
den iſt, und doch kann man ſchwanken, ob der Zuſtand eines Frem-
den oder der Korinthier dieß oder jenes erregt hat, wenn der
Apoſtel die betreffende Thatſache nicht erwaͤhnt. In den neuteſt.
Briefen finden wir eigenthuͤmliche Differenzen. Einige ſind an
beſtimmte Gemeinden gerichtet, andere an einzelne Perſonen, fer-
ner giebt es ſolche, die eine unbekannte, und andere, die eine
unbeſtimmte Beſtimmung haben. Zu der erſteren Art gehoͤren,
wie die Kritik lehrt, die Briefe an die Hebraͤer und an die Ephe-
ſier, zu der lezteren Art der erſte Joh. Brief. In andern katho-
liſchen Briefen werden zwar beſtimmte Landſchaften genannt, aber
die Chriſten ſind nicht als Einheit genannt, ſondern unbeſtimmt,
als in der Zerſtreuung lebende. Wo nun die Addreſſe unbeſtimmt
iſt, ergiebt ſich von ſelbſt, was die Einheit eines ſolchen Briefes
ſein kann. Zwar kann jeder Brief eine didaktiſche Einheit haben,
aber, wenn dieſe nicht darin iſt, dann kann der Verfaſſer nicht
aus einem beſtimmten Bilde von denen, an die der Brief gerichtet
iſt, reden, weil dieſe keine Einheit haben und er nicht weiß, wo-
hin der Brief kommen wird. Da ſchreibt er alſo von allgemei-
nen Vorausſezungen aus, oder von ſeinen eigenen Zuſtaͤnden.
Anders iſt es, wenn uns die Addreſſe eines Briefes unbekannt
iſt, denn deswegen braucht ſie fuͤr den Verfaſſer nicht unbeſtimmt
geweſen zu ſein. Da iſt alſo das eine wie das andere moͤglich.

Die Geſchichte der Auslegung des N. T. zeigt, wie ſchwer
es ſei, von ſolchen Vorausſezungen aus, wo ſo viele Notizen
fehlen, welche nur durch Conjectur gefunden werden koͤnnen, zu
interpretiren. Wie lange hat man geglaubt, es beziehe ſich man-
ches Apoſtoliſche auf das Gnoſtiſche und ſei daraus zu erklaͤren,
bis man ſpaͤterhin fand, daß damahls der Gnoſticismus noch
nicht ſo weit ausgebildet war. Das iſt eine hinreichende War-
nung, mit groͤßter Vorſicht zu Werke zu gehen, wenn man feh-
lende Kenntniſſe durch Hypotheſen erſezen will. Jene falſche Vor-
ausſezung war ſehr natuͤrlich. Die Kenntniß der Umſtaͤnde war
nicht gegeben, man war alſo an die aͤlteſte Geſchichte des Chri-

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[186/0210] rakter haben, der neben dem uͤbrigen nicht ſchwer zu unterſchei- den iſt, und doch kann man ſchwanken, ob der Zuſtand eines Frem- den oder der Korinthier dieß oder jenes erregt hat, wenn der Apoſtel die betreffende Thatſache nicht erwaͤhnt. In den neuteſt. Briefen finden wir eigenthuͤmliche Differenzen. Einige ſind an beſtimmte Gemeinden gerichtet, andere an einzelne Perſonen, fer- ner giebt es ſolche, die eine unbekannte, und andere, die eine unbeſtimmte Beſtimmung haben. Zu der erſteren Art gehoͤren, wie die Kritik lehrt, die Briefe an die Hebraͤer und an die Ephe- ſier, zu der lezteren Art der erſte Joh. Brief. In andern katho- liſchen Briefen werden zwar beſtimmte Landſchaften genannt, aber die Chriſten ſind nicht als Einheit genannt, ſondern unbeſtimmt, als in der Zerſtreuung lebende. Wo nun die Addreſſe unbeſtimmt iſt, ergiebt ſich von ſelbſt, was die Einheit eines ſolchen Briefes ſein kann. Zwar kann jeder Brief eine didaktiſche Einheit haben, aber, wenn dieſe nicht darin iſt, dann kann der Verfaſſer nicht aus einem beſtimmten Bilde von denen, an die der Brief gerichtet iſt, reden, weil dieſe keine Einheit haben und er nicht weiß, wo- hin der Brief kommen wird. Da ſchreibt er alſo von allgemei- nen Vorausſezungen aus, oder von ſeinen eigenen Zuſtaͤnden. Anders iſt es, wenn uns die Addreſſe eines Briefes unbekannt iſt, denn deswegen braucht ſie fuͤr den Verfaſſer nicht unbeſtimmt geweſen zu ſein. Da iſt alſo das eine wie das andere moͤglich. Die Geſchichte der Auslegung des N. T. zeigt, wie ſchwer es ſei, von ſolchen Vorausſezungen aus, wo ſo viele Notizen fehlen, welche nur durch Conjectur gefunden werden koͤnnen, zu interpretiren. Wie lange hat man geglaubt, es beziehe ſich man- ches Apoſtoliſche auf das Gnoſtiſche und ſei daraus zu erklaͤren, bis man ſpaͤterhin fand, daß damahls der Gnoſticismus noch nicht ſo weit ausgebildet war. Das iſt eine hinreichende War- nung, mit groͤßter Vorſicht zu Werke zu gehen, wenn man feh- lende Kenntniſſe durch Hypotheſen erſezen will. Jene falſche Vor- ausſezung war ſehr natuͤrlich. Die Kenntniß der Umſtaͤnde war nicht gegeben, man war alſo an die aͤlteſte Geſchichte des Chri-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/210>, abgerufen am 07.05.2024.