Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

mente, an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer bestimmten
Richtung, dagegen an dem einzelnen Hervortreten, der losen Ver-
knüpfung der Bestandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbe-
stimmte. Überragt nun eins von beiden, so wird sich auch ein
bestimmter Wendepunkt zeigen, und um dieß zu entdecken, dazu
dient die allgemeine Übersicht. Wir haben im N. T. keine Ur-
sache, bei den Briefen eine rhetorische Einheit anzunehmen. Denn
in dieser Zeit der Entwickelung kam es nicht gleich darauf an,
einen bestimmten Entschluß hervorzubringen. Allerdings müssen
wir etwas dem verwandtes, nemlich eine bestimmte Handlungsweise
hervorzubringen, als bestimmten Zweck ansehen. Aber dadurch
wird die Schrift nur eine praktisch didaktische. So haben
wir die zwei Richtungen, die strengere, didaktische und die
durch äußere Veranlassung hervorgerufene freie Mittheilung.
Darüber kann nicht leicht Streit sein. Indessen fordert doch die
Sache noch eine genauere Betrachtung der neutestam. Verhältnisse.
Im Allgemeinen ist das Verhältniß zwischen den Verfassern und
Empfängern der neutest. Briefe seiner Natur nach ein didaktisches.
So läßt sich erwarten, daß auch die freie Mittheilung einen di-
daktischen Charakter haben werde. Daraus folgt aber nicht, daß
ein bestimmter Zweck vorwaltet. Man hat dieß häufig verwechselt
und die freie Mittheilung nicht genug als Ergebniß der natürli-
chen Verhältnisse, die aber didaktischer Art waren, beurtheilt.
Stellt man die Sache so, daß zu unterscheiden sei, wo ein be-
stimmter didaktischer Zweck sei oder die freie Mittheilung didakti-
scher Art, so wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle un-
sicher bleiben können. Im Allgemeinen müssen wir die neutest.
Briefe darnach eintheilen, wonach denn für jede Classe spezielle
Regeln eintreten und ein besonderes Verfahren. Aber gerade bei
diesen Briefen findet die Möglichkeit einer doppelten Richtung sehr
leicht statt. Es findet ein bestimmter Lehrzweck statt und dieser bildet
die vorwaltende Einheit des Ganzen, aber ehe der Brief zu Ende ist,
tritt die freie Mittheilung ein mit didaktischem Charakter, oder
auch umgekehrt. Dieß ist im N. T. wirklich der Fall, und zwar

mente, an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer beſtimmten
Richtung, dagegen an dem einzelnen Hervortreten, der loſen Ver-
knuͤpfung der Beſtandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbe-
ſtimmte. Überragt nun eins von beiden, ſo wird ſich auch ein
beſtimmter Wendepunkt zeigen, und um dieß zu entdecken, dazu
dient die allgemeine Überſicht. Wir haben im N. T. keine Ur-
ſache, bei den Briefen eine rhetoriſche Einheit anzunehmen. Denn
in dieſer Zeit der Entwickelung kam es nicht gleich darauf an,
einen beſtimmten Entſchluß hervorzubringen. Allerdings muͤſſen
wir etwas dem verwandtes, nemlich eine beſtimmte Handlungsweiſe
hervorzubringen, als beſtimmten Zweck anſehen. Aber dadurch
wird die Schrift nur eine praktiſch didaktiſche. So haben
wir die zwei Richtungen, die ſtrengere, didaktiſche und die
durch aͤußere Veranlaſſung hervorgerufene freie Mittheilung.
Daruͤber kann nicht leicht Streit ſein. Indeſſen fordert doch die
Sache noch eine genauere Betrachtung der neuteſtam. Verhaͤltniſſe.
Im Allgemeinen iſt das Verhaͤltniß zwiſchen den Verfaſſern und
Empfaͤngern der neuteſt. Briefe ſeiner Natur nach ein didaktiſches.
So laͤßt ſich erwarten, daß auch die freie Mittheilung einen di-
daktiſchen Charakter haben werde. Daraus folgt aber nicht, daß
ein beſtimmter Zweck vorwaltet. Man hat dieß haͤufig verwechſelt
und die freie Mittheilung nicht genug als Ergebniß der natuͤrli-
chen Verhaͤltniſſe, die aber didaktiſcher Art waren, beurtheilt.
Stellt man die Sache ſo, daß zu unterſcheiden ſei, wo ein be-
ſtimmter didaktiſcher Zweck ſei oder die freie Mittheilung didakti-
ſcher Art, ſo wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle un-
ſicher bleiben koͤnnen. Im Allgemeinen muͤſſen wir die neuteſt.
Briefe darnach eintheilen, wonach denn fuͤr jede Claſſe ſpezielle
Regeln eintreten und ein beſonderes Verfahren. Aber gerade bei
dieſen Briefen findet die Moͤglichkeit einer doppelten Richtung ſehr
leicht ſtatt. Es findet ein beſtimmter Lehrzweck ſtatt und dieſer bildet
die vorwaltende Einheit des Ganzen, aber ehe der Brief zu Ende iſt,
tritt die freie Mittheilung ein mit didaktiſchem Charakter, oder
auch umgekehrt. Dieß iſt im N. T. wirklich der Fall, und zwar

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0204" n="180"/>
mente, an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer be&#x017F;timmten<lb/>
Richtung, dagegen an dem einzelnen Hervortreten, der lo&#x017F;en Ver-<lb/>
knu&#x0364;pfung der Be&#x017F;tandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbe-<lb/>
&#x017F;timmte. Überragt nun eins von beiden, &#x017F;o wird &#x017F;ich auch ein<lb/>
be&#x017F;timmter Wendepunkt zeigen, und um dieß zu entdecken, dazu<lb/>
dient die allgemeine Über&#x017F;icht. Wir haben im N. T. keine Ur-<lb/>
&#x017F;ache, bei den Briefen eine rhetori&#x017F;che Einheit anzunehmen. Denn<lb/>
in die&#x017F;er Zeit der Entwickelung kam es nicht gleich darauf an,<lb/>
einen be&#x017F;timmten Ent&#x017F;chluß hervorzubringen. Allerdings mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en<lb/>
wir etwas dem verwandtes, nemlich eine be&#x017F;timmte Handlungswei&#x017F;e<lb/>
hervorzubringen, als be&#x017F;timmten Zweck an&#x017F;ehen. Aber dadurch<lb/>
wird die Schrift nur eine prakti&#x017F;ch didakti&#x017F;che. So haben<lb/>
wir die zwei Richtungen, die &#x017F;trengere, didakti&#x017F;che und die<lb/>
durch a&#x0364;ußere Veranla&#x017F;&#x017F;ung hervorgerufene freie Mittheilung.<lb/>
Daru&#x0364;ber kann nicht leicht Streit &#x017F;ein. Inde&#x017F;&#x017F;en fordert doch die<lb/>
Sache noch eine genauere Betrachtung der neute&#x017F;tam. Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Im Allgemeinen i&#x017F;t das Verha&#x0364;ltniß zwi&#x017F;chen den Verfa&#x017F;&#x017F;ern und<lb/>
Empfa&#x0364;ngern der neute&#x017F;t. Briefe &#x017F;einer Natur nach ein didakti&#x017F;ches.<lb/>
So la&#x0364;ßt &#x017F;ich erwarten, daß auch die freie Mittheilung einen di-<lb/>
dakti&#x017F;chen Charakter haben werde. Daraus folgt aber nicht, daß<lb/>
ein be&#x017F;timmter Zweck vorwaltet. Man hat dieß ha&#x0364;ufig verwech&#x017F;elt<lb/>
und die freie Mittheilung nicht genug als Ergebniß der natu&#x0364;rli-<lb/>
chen Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e, die aber didakti&#x017F;cher Art waren, beurtheilt.<lb/>
Stellt man die Sache &#x017F;o, daß zu unter&#x017F;cheiden &#x017F;ei, wo ein be-<lb/>
&#x017F;timmter didakti&#x017F;cher Zweck &#x017F;ei oder die freie Mittheilung didakti-<lb/>
&#x017F;cher Art, &#x017F;o wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle un-<lb/>
&#x017F;icher bleiben ko&#x0364;nnen. Im Allgemeinen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir die neute&#x017F;t.<lb/>
Briefe darnach eintheilen, wonach denn fu&#x0364;r jede Cla&#x017F;&#x017F;e &#x017F;pezielle<lb/>
Regeln eintreten und ein be&#x017F;onderes Verfahren. Aber gerade bei<lb/>
die&#x017F;en Briefen findet die Mo&#x0364;glichkeit einer doppelten Richtung &#x017F;ehr<lb/>
leicht &#x017F;tatt. Es findet ein be&#x017F;timmter Lehrzweck &#x017F;tatt und die&#x017F;er bildet<lb/>
die vorwaltende Einheit des Ganzen, aber ehe der Brief zu Ende i&#x017F;t,<lb/>
tritt die freie Mittheilung ein mit didakti&#x017F;chem Charakter, oder<lb/>
auch umgekehrt. Dieß i&#x017F;t im N. T. wirklich der Fall, und zwar<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[180/0204] mente, an der Gleichartigkeit ihres Inhalts zu einer beſtimmten Richtung, dagegen an dem einzelnen Hervortreten, der loſen Ver- knuͤpfung der Beſtandtheile in ihrer Ungleichartigkeit die unbe- ſtimmte. Überragt nun eins von beiden, ſo wird ſich auch ein beſtimmter Wendepunkt zeigen, und um dieß zu entdecken, dazu dient die allgemeine Überſicht. Wir haben im N. T. keine Ur- ſache, bei den Briefen eine rhetoriſche Einheit anzunehmen. Denn in dieſer Zeit der Entwickelung kam es nicht gleich darauf an, einen beſtimmten Entſchluß hervorzubringen. Allerdings muͤſſen wir etwas dem verwandtes, nemlich eine beſtimmte Handlungsweiſe hervorzubringen, als beſtimmten Zweck anſehen. Aber dadurch wird die Schrift nur eine praktiſch didaktiſche. So haben wir die zwei Richtungen, die ſtrengere, didaktiſche und die durch aͤußere Veranlaſſung hervorgerufene freie Mittheilung. Daruͤber kann nicht leicht Streit ſein. Indeſſen fordert doch die Sache noch eine genauere Betrachtung der neuteſtam. Verhaͤltniſſe. Im Allgemeinen iſt das Verhaͤltniß zwiſchen den Verfaſſern und Empfaͤngern der neuteſt. Briefe ſeiner Natur nach ein didaktiſches. So laͤßt ſich erwarten, daß auch die freie Mittheilung einen di- daktiſchen Charakter haben werde. Daraus folgt aber nicht, daß ein beſtimmter Zweck vorwaltet. Man hat dieß haͤufig verwechſelt und die freie Mittheilung nicht genug als Ergebniß der natuͤrli- chen Verhaͤltniſſe, die aber didaktiſcher Art waren, beurtheilt. Stellt man die Sache ſo, daß zu unterſcheiden ſei, wo ein be- ſtimmter didaktiſcher Zweck ſei oder die freie Mittheilung didakti- ſcher Art, ſo wird man nicht leicht in einem einzelnen Falle un- ſicher bleiben koͤnnen. Im Allgemeinen muͤſſen wir die neuteſt. Briefe darnach eintheilen, wonach denn fuͤr jede Claſſe ſpezielle Regeln eintreten und ein beſonderes Verfahren. Aber gerade bei dieſen Briefen findet die Moͤglichkeit einer doppelten Richtung ſehr leicht ſtatt. Es findet ein beſtimmter Lehrzweck ſtatt und dieſer bildet die vorwaltende Einheit des Ganzen, aber ehe der Brief zu Ende iſt, tritt die freie Mittheilung ein mit didaktiſchem Charakter, oder auch umgekehrt. Dieß iſt im N. T. wirklich der Fall, und zwar

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/204
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/204>, abgerufen am 07.05.2024.