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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Man wird es nicht für ungeziemend halten, wenn ich,
mir selbst zu einer Art von Lohn, am Schluß versuche, auf
die eigenthümliche Stellung und Bedeutung dieses Werkes in
der Wissenschaft aufmerksam zu machen.

Schon der Name Schleiermachers läßt eine eigenthüm-
liche, neue Behandlung erwarten. Es war ihm überall un-
möglich, nur an dem bisherigen Gewebe fortzuweben; er fing
gern überall von Neuem an, und hatte und gebrauchte alles auf
eigenthümliche Weise. Er hat auch auf diesem Gebiete die frü-
heren Arbeiten nicht vornehm verschmähet. Litterarische No-
tizen waren freilich seine Sache nicht, aber überall zeigt er
Kenntniß und sorgsame Beachtung und Aneignung des frü-
her Geleisteten. Er geht von Ernestis institutio interpretis,
als der ihm zunächst liegenden früheren Epoche auf diesem
Gebiete, aus, und benutzt auch was nach Ernesti dafür gethan
ist, aber es wird unter seinen Händen ein neues Gebilde aus
frischem Geiste, und er legt es auf eine neue Epoche an.
War Ernesti derjenige, der die Observationen auf diesem
Gebiete zunächst ordnete und läuterte, und die Auslegung
des N. T. auf ihre allgemeineren philologischen Principien
zurückführte, so erscheint Schleiermacher auf dem entgegen-
gesetzten Endpunkte der Ernestischen Periode als der Begrün-
der einer wahren systematischen Construction von innen heraus.

Ernesti und Beck haben die Hermeneutik und Kritik
des N. T. vereinigt vorgetragen, aber mehr zufällig und
ohne Einsicht in den Grund und Grad ihrer Zusammenge-
hörigkeit und Verschiedenheit. Nachher haben Keil und An-
dere die Hermeneutik von der Kritik getrennt behandelt, und
dadurch Raum gewonnen für eine vollständigere Entwicklung
der hermeneutischen Operationen. Schleiermacher hat beide

Man wird es nicht fuͤr ungeziemend halten, wenn ich,
mir ſelbſt zu einer Art von Lohn, am Schluß verſuche, auf
die eigenthuͤmliche Stellung und Bedeutung dieſes Werkes in
der Wiſſenſchaft aufmerkſam zu machen.

Schon der Name Schleiermachers laͤßt eine eigenthuͤm-
liche, neue Behandlung erwarten. Es war ihm uͤberall un-
moͤglich, nur an dem bisherigen Gewebe fortzuweben; er fing
gern uͤberall von Neuem an, und hatte und gebrauchte alles auf
eigenthuͤmliche Weiſe. Er hat auch auf dieſem Gebiete die fruͤ-
heren Arbeiten nicht vornehm verſchmaͤhet. Litterariſche No-
tizen waren freilich ſeine Sache nicht, aber uͤberall zeigt er
Kenntniß und ſorgſame Beachtung und Aneignung des fruͤ-
her Geleiſteten. Er geht von Erneſtis institutio interpretis,
als der ihm zunaͤchſt liegenden fruͤheren Epoche auf dieſem
Gebiete, aus, und benutzt auch was nach Erneſti dafuͤr gethan
iſt, aber es wird unter ſeinen Haͤnden ein neues Gebilde aus
friſchem Geiſte, und er legt es auf eine neue Epoche an.
War Erneſti derjenige, der die Obſervationen auf dieſem
Gebiete zunaͤchſt ordnete und laͤuterte, und die Auslegung
des N. T. auf ihre allgemeineren philologiſchen Principien
zuruͤckfuͤhrte, ſo erſcheint Schleiermacher auf dem entgegen-
geſetzten Endpunkte der Erneſtiſchen Periode als der Begruͤn-
der einer wahren ſyſtematiſchen Conſtruction von innen heraus.

Erneſti und Beck haben die Hermeneutik und Kritik
des N. T. vereinigt vorgetragen, aber mehr zufaͤllig und
ohne Einſicht in den Grund und Grad ihrer Zuſammenge-
hoͤrigkeit und Verſchiedenheit. Nachher haben Keil und An-
dere die Hermeneutik von der Kritik getrennt behandelt, und
dadurch Raum gewonnen fuͤr eine vollſtaͤndigere Entwicklung
der hermeneutiſchen Operationen. Schleiermacher hat beide

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[XIII/0019] Man wird es nicht fuͤr ungeziemend halten, wenn ich, mir ſelbſt zu einer Art von Lohn, am Schluß verſuche, auf die eigenthuͤmliche Stellung und Bedeutung dieſes Werkes in der Wiſſenſchaft aufmerkſam zu machen. Schon der Name Schleiermachers laͤßt eine eigenthuͤm- liche, neue Behandlung erwarten. Es war ihm uͤberall un- moͤglich, nur an dem bisherigen Gewebe fortzuweben; er fing gern uͤberall von Neuem an, und hatte und gebrauchte alles auf eigenthuͤmliche Weiſe. Er hat auch auf dieſem Gebiete die fruͤ- heren Arbeiten nicht vornehm verſchmaͤhet. Litterariſche No- tizen waren freilich ſeine Sache nicht, aber uͤberall zeigt er Kenntniß und ſorgſame Beachtung und Aneignung des fruͤ- her Geleiſteten. Er geht von Erneſtis institutio interpretis, als der ihm zunaͤchſt liegenden fruͤheren Epoche auf dieſem Gebiete, aus, und benutzt auch was nach Erneſti dafuͤr gethan iſt, aber es wird unter ſeinen Haͤnden ein neues Gebilde aus friſchem Geiſte, und er legt es auf eine neue Epoche an. War Erneſti derjenige, der die Obſervationen auf dieſem Gebiete zunaͤchſt ordnete und laͤuterte, und die Auslegung des N. T. auf ihre allgemeineren philologiſchen Principien zuruͤckfuͤhrte, ſo erſcheint Schleiermacher auf dem entgegen- geſetzten Endpunkte der Erneſtiſchen Periode als der Begruͤn- der einer wahren ſyſtematiſchen Conſtruction von innen heraus. Erneſti und Beck haben die Hermeneutik und Kritik des N. T. vereinigt vorgetragen, aber mehr zufaͤllig und ohne Einſicht in den Grund und Grad ihrer Zuſammenge- hoͤrigkeit und Verſchiedenheit. Nachher haben Keil und An- dere die Hermeneutik von der Kritik getrennt behandelt, und dadurch Raum gewonnen fuͤr eine vollſtaͤndigere Entwicklung der hermeneutiſchen Operationen. Schleiermacher hat beide

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. XIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/19>, abgerufen am 05.12.2024.