Auch meine Lebensaufgabe ist es, nach meinen Kräften an dieser Entgeistigung der Natur zu arbeiten und es war mir in meiner frü- hern Vorlesung vergönnt, nachzuweisen, wie die das sinnige Gemüth so lebendig ansprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr so geheimniß- voll scheinendes stilles Weben und Wirken sich vor dem Auge des besonnenen Naturforschers auflöst in chemisch-physicalische Processe, die an und in einem unscheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor sich gehen. Aber die ganze Pflanze ist nicht eine einzelne Zelle, son- dern nur aus solchen zusammengesetzt, und zwar nach einer so be- stimmten Regel zusammengesetzt, daß seit Jahrtausenden auf allen Puncten der Erde dieselben feststehenden Formen wiederkehren. Es fragt sich nun allerdings, ob denn auch dieses Zusammentreten der Zellen zu ganzen Pflanzen bestimmten Naturgesetzen unterworfen sey? Ehe man aber zur Beantwortung dieser Frage geht, muß man die Art und Weise, wie sich gewisse Pflanzenformen in der Natur erhal- ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins Auge fassen.
Es sey mir verstattet, mich dieser Aufgabe auf einem Umwege zu nähern. Am zweckmäßigsten lassen wir uns hier von einer Ueber- sicht der Massen animalischen Lebens auf der Erde leiten. Wohin immer den Menschen seine Noth, Eigennutz oder edler Forschungstrieb führt, begleitet ihn das thierische Leben. Auf dem Meere umspielt ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pilot gleitet seinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute ge- wärtig. Auf dem Lande überall regt sich um ihn, friedlich oder feind- lich zu ihm gestellt, der Thierwelt mannigfaches Formenspiel. In dem beeisten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier, fängt er sich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund, stellt sich ihm der Eisbär zum wilden Kampfe entgegen. Unter den senkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der scharfe Zahn der großen Katzen, umspielt ihn die schlanke Gazelle, bietet ihm "was wiederkäut und die Klauen spaltet" Nahrung und Kleidung dar. Auf den starrenden Schneeflächen des Chimborasso umflatterte
Auch meine Lebensaufgabe iſt es, nach meinen Kräften an dieſer Entgeiſtigung der Natur zu arbeiten und es war mir in meiner frü- hern Vorleſung vergönnt, nachzuweiſen, wie die das ſinnige Gemüth ſo lebendig anſprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr ſo geheimniß- voll ſcheinendes ſtilles Weben und Wirken ſich vor dem Auge des beſonnenen Naturforſchers auflöſt in chemiſch-phyſicaliſche Proceſſe, die an und in einem unſcheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor ſich gehen. Aber die ganze Pflanze iſt nicht eine einzelne Zelle, ſon- dern nur aus ſolchen zuſammengeſetzt, und zwar nach einer ſo be- ſtimmten Regel zuſammengeſetzt, daß ſeit Jahrtauſenden auf allen Puncten der Erde dieſelben feſtſtehenden Formen wiederkehren. Es fragt ſich nun allerdings, ob denn auch dieſes Zuſammentreten der Zellen zu ganzen Pflanzen beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen ſey? Ehe man aber zur Beantwortung dieſer Frage geht, muß man die Art und Weiſe, wie ſich gewiſſe Pflanzenformen in der Natur erhal- ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins Auge faſſen.
Es ſey mir verſtattet, mich dieſer Aufgabe auf einem Umwege zu nähern. Am zweckmäßigſten laſſen wir uns hier von einer Ueber- ſicht der Maſſen animaliſchen Lebens auf der Erde leiten. Wohin immer den Menſchen ſeine Noth, Eigennutz oder edler Forſchungstrieb führt, begleitet ihn das thieriſche Leben. Auf dem Meere umſpielt ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pilot gleitet ſeinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute ge- wärtig. Auf dem Lande überall regt ſich um ihn, friedlich oder feind- lich zu ihm geſtellt, der Thierwelt mannigfaches Formenſpiel. In dem beeiſten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier, fängt er ſich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund, ſtellt ſich ihm der Eisbär zum wilden Kampfe entgegen. Unter den ſenkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der ſcharfe Zahn der großen Katzen, umſpielt ihn die ſchlanke Gazelle, bietet ihm „was wiederkäut und die Klauen ſpaltet“ Nahrung und Kleidung dar. Auf den ſtarrenden Schneeflächen des Chimboraſſo umflatterte
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Auch meine Lebensaufgabe iſt es, nach meinen Kräften an dieſer
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hern Vorleſung vergönnt, nachzuweiſen, wie die das ſinnige Gemüth
ſo lebendig anſprechende Formenwelt der Pflanzen, ihr ſo geheimniß-
voll ſcheinendes ſtilles Weben und Wirken ſich vor dem Auge des
beſonnenen Naturforſchers auflöſt in chemiſch-phyſicaliſche Proceſſe,
die an und in einem unſcheinbaren Bläschen, der Pflanzenzelle, vor
ſich gehen. Aber die ganze Pflanze iſt nicht eine einzelne Zelle, ſon-
dern nur aus ſolchen zuſammengeſetzt, und zwar nach einer ſo be-
ſtimmten Regel zuſammengeſetzt, daß ſeit Jahrtauſenden auf allen
Puncten der Erde dieſelben feſtſtehenden Formen wiederkehren. Es
fragt ſich nun allerdings, ob denn auch dieſes Zuſammentreten der
Zellen zu ganzen Pflanzen beſtimmten Naturgeſetzen unterworfen ſey?
Ehe man aber zur Beantwortung dieſer Frage geht, muß man die
Art und Weiſe, wie ſich gewiſſe Pflanzenformen in der Natur erhal-
ten, mit einem Worte die Fortpflanzung der Vegetabilien genauer ins
Auge faſſen.
Es ſey mir verſtattet, mich dieſer Aufgabe auf einem Umwege
zu nähern. Am zweckmäßigſten laſſen wir uns hier von einer Ueber-
ſicht der Maſſen animaliſchen Lebens auf der Erde leiten. Wohin
immer den Menſchen ſeine Noth, Eigennutz oder edler Forſchungstrieb
führt, begleitet ihn das thieriſche Leben. Auf dem Meere umſpielt
ihn die gewandte Schaar der Gefährten des Nereus, der Pilot gleitet
ſeinem Schiffe voran und der gefräßige Hai folgt ihm, der Beute ge-
wärtig. Auf dem Lande überall regt ſich um ihn, friedlich oder feind-
lich zu ihm geſtellt, der Thierwelt mannigfaches Formenſpiel. In dem
beeiſten Norden begleitet ihn der treue Hund, das nützliche Rennthier,
fängt er ſich den Kleidung, Nahrung und Licht gebenden Seehund,
ſtellt ſich ihm der Eisbär zum wilden Kampfe entgegen. Unter den
ſenkrechten Strahlen der glühenden Sonne droht ihm der ſcharfe
Zahn der großen Katzen, umſpielt ihn die ſchlanke Gazelle, bietet ihm
„was wiederkäut und die Klauen ſpaltet“ Nahrung und Kleidung
dar. Auf den ſtarrenden Schneeflächen des Chimboraſſo umflatterte
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/74>, abgerufen am 05.12.2024.
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