Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit
der wachsenden Breite abnehmen, aber während die russische Armee
auf ihrem Marsch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch
Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten-
grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede
solcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Voraussetzung Werth,
daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des
Aequators in völligen Ebenen mit Substanzen bedeckt wäre, die sich
gegen Wärmestrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in
Ruhe sind. Von allen diesen Bedingungen ist aber keine einzige auf
der Erde verwirklicht. Man wurde also auf die unmittelbare Beobach-
tung gewiesen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages-
und Jahreszeiten verschieden vertheilt ist, doch derselbe Ort durch-
schnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm-
lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der
Wärmegrade nimmt und diese mittleren Zahlen von allen Tagen im
Jahre zusammenstellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht,
so weicht der so gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden
oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine
größere Anzahl Jahre z. B. 20, so erhält man einen Werth, der von
dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein
Zehntel eines Grades verschieden ist. -- Humboldt kam nun zuerst auf
den sinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben
beschriebenen Bestimmungsweise gleiche mittlere Temperatur haben,
durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Isotherme oder Linie
gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß so sehr auch diese
Isothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreisen abweichen,
doch sich die Vegetationsgrenzen viel näher an sie schmiegen als an
diese. Noch immer aber blieben viele Räthsel ungelöst. Drontheim
z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der südlichsten Spitze von
Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inseln
haben eine um fast 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat
Drontheim noch Obst- und Weizenbau, während der Weizenbau

Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit
der wachſenden Breite abnehmen, aber während die ruſſiſche Armee
auf ihrem Marſch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch
Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten-
grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede
ſolcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Vorausſetzung Werth,
daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des
Aequators in völligen Ebenen mit Subſtanzen bedeckt wäre, die ſich
gegen Wärmeſtrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in
Ruhe ſind. Von allen dieſen Bedingungen iſt aber keine einzige auf
der Erde verwirklicht. Man wurde alſo auf die unmittelbare Beobach-
tung gewieſen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages-
und Jahreszeiten verſchieden vertheilt iſt, doch derſelbe Ort durch-
ſchnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm-
lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der
Wärmegrade nimmt und dieſe mittleren Zahlen von allen Tagen im
Jahre zuſammenſtellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht,
ſo weicht der ſo gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden
oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine
größere Anzahl Jahre z. B. 20, ſo erhält man einen Werth, der von
dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein
Zehntel eines Grades verſchieden iſt. — Humboldt kam nun zuerſt auf
den ſinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben
beſchriebenen Beſtimmungsweiſe gleiche mittlere Temperatur haben,
durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Iſotherme oder Linie
gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß ſo ſehr auch dieſe
Iſothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreiſen abweichen,
doch ſich die Vegetationsgrenzen viel näher an ſie ſchmiegen als an
dieſe. Noch immer aber blieben viele Räthſel ungelöſt. Drontheim
z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der ſüdlichſten Spitze von
Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inſeln
haben eine um faſt 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat
Drontheim noch Obſt- und Weizenbau, während der Weizenbau

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0247" n="231"/>
Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit<lb/>
der wach&#x017F;enden Breite abnehmen, aber während die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Armee<lb/>
auf ihrem Mar&#x017F;ch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch<lb/>
Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten-<lb/>
grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede<lb/>
&#x017F;olcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Voraus&#x017F;etzung Werth,<lb/>
daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des<lb/>
Aequators in völligen Ebenen mit Sub&#x017F;tanzen bedeckt wäre, die &#x017F;ich<lb/>
gegen Wärme&#x017F;trahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in<lb/>
Ruhe &#x017F;ind. Von allen die&#x017F;en Bedingungen i&#x017F;t aber keine einzige auf<lb/>
der Erde verwirklicht. Man wurde al&#x017F;o auf die unmittelbare Beobach-<lb/>
tung gewie&#x017F;en. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages-<lb/>
und Jahreszeiten ver&#x017F;chieden vertheilt i&#x017F;t, doch der&#x017F;elbe Ort durch-<lb/>
&#x017F;chnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm-<lb/>
lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der<lb/>
Wärmegrade nimmt und die&#x017F;e mittleren Zahlen von allen Tagen im<lb/>
Jahre zu&#x017F;ammen&#x017F;tellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht,<lb/>
&#x017F;o weicht der &#x017F;o gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden<lb/>
oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine<lb/>
größere Anzahl Jahre z. B. 20, &#x017F;o erhält man einen Werth, der von<lb/>
dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein<lb/>
Zehntel eines Grades ver&#x017F;chieden i&#x017F;t. &#x2014; <hi rendition="#g">Humboldt</hi> kam nun zuer&#x017F;t auf<lb/>
den &#x017F;innreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben<lb/>
be&#x017F;chriebenen Be&#x017F;timmungswei&#x017F;e gleiche mittlere Temperatur haben,<lb/>
durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (I&#x017F;otherme oder Linie<lb/>
gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß &#x017F;o &#x017F;ehr auch die&#x017F;e<lb/>
I&#x017F;othermen in ihren Biegungen von den Parallelkrei&#x017F;en abweichen,<lb/>
doch &#x017F;ich die Vegetationsgrenzen viel näher an &#x017F;ie &#x017F;chmiegen als an<lb/>
die&#x017F;e. Noch immer aber blieben viele Räth&#x017F;el ungelö&#x017F;t. <hi rendition="#g">Drontheim</hi><lb/>
z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der &#x017F;üdlich&#x017F;ten Spitze von<lb/><hi rendition="#g">Island</hi>, die <hi rendition="#g">Hebriden, Orkaden</hi> und <hi rendition="#g">Shettlands In&#x017F;eln</hi><lb/>
haben eine um fa&#x017F;t 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat<lb/><hi rendition="#g">Drontheim</hi> noch Ob&#x017F;t- und Weizenbau, während der Weizenbau<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[231/0247] Wirklichkeit. Natürlich müßte dann die Temperatur regelmäßig mit der wachſenden Breite abnehmen, aber während die ruſſiſche Armee auf ihrem Marſch nach Chiwa unter dem 40. Grad der Breite durch Kälte zu Grunde ging, bleiben auf den Faröern unter dem 62. Breiten- grade die Schaafe während des ganzen Winters auf der Weide. Jede ſolcher Berechnungen hat nämlich nur unter der Vorausſetzung Werth, daß die ganze Erde vollkommen gleichförmig zu beiden Seiten des Aequators in völligen Ebenen mit Subſtanzen bedeckt wäre, die ſich gegen Wärmeſtrahlen völlig gleich verhalten und endlich völlig in Ruhe ſind. Von allen dieſen Bedingungen iſt aber keine einzige auf der Erde verwirklicht. Man wurde alſo auf die unmittelbare Beobach- tung gewieſen. Man fand, daß wenn auch die Wärme in Tages- und Jahreszeiten verſchieden vertheilt iſt, doch derſelbe Ort durch- ſchnittlich jedes Jahr eine gleiche Temperatur habe. Wenn man näm- lich von mehreren täglichen Beobachtungen die mittlere Zahl der Wärmegrade nimmt und dieſe mittleren Zahlen von allen Tagen im Jahre zuſammenſtellt und daraus abermals einen Mittelwerth zieht, ſo weicht der ſo gewonnene Mittelwerth von dem des vorhergehenden oder folgenden Jahres nur um wenige Grade ab. Nimmt man eine größere Anzahl Jahre z. B. 20, ſo erhält man einen Werth, der von dem der vorhergehenden oder nachfolgenden 20 Jahre kaum noch ein Zehntel eines Grades verſchieden iſt. — Humboldt kam nun zuerſt auf den ſinnreichen Gedanken, alle Orte auf der Erde, die nach der eben beſchriebenen Beſtimmungsweiſe gleiche mittlere Temperatur haben, durch eine Linie auf der Karte zu verbinden (Iſotherme oder Linie gleicher Wärme), und bald fand man nun, daß ſo ſehr auch dieſe Iſothermen in ihren Biegungen von den Parallelkreiſen abweichen, doch ſich die Vegetationsgrenzen viel näher an ſie ſchmiegen als an dieſe. Noch immer aber blieben viele Räthſel ungelöſt. Drontheim z. B. hat gleiche mittlere Temperatur mit der ſüdlichſten Spitze von Island, die Hebriden, Orkaden und Shettlands Inſeln haben eine um faſt 3 ° höhere mittlere Temperatur. Gleichwohl hat Drontheim noch Obſt- und Weizenbau, während der Weizenbau

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/247
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/247>, abgerufen am 08.05.2024.