blattloser Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlschmek- kende süße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bil- dungskraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten von Orotava auf Teneriffa, eine riesige baumartige Lilienpflanze, erzählt dem sinnigen Lauscher die Sagen von vielen Jahrtausenden.
Sechs Vegetationsgürtel sind wir so durchzogen, in denen die allmä- lig steigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere Vegetation hervorrief und wir beschließen unsere Wanderung, indem wir nach kurzer Rast unter jenen fünftausendjährigen Dracänen den Pic von Teyde ersteigen. Am flachen Fuße desselben hat der Mensch vom Boden Besitz genommen und die ursprüngliche Vegeta- tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder steigen wir aufwärts bis uns die Schatten immergrüner Lorbeern umfangen. Sei- delbastarten und ähnliche Pflanzen schließen sich an, wir durchwan- dern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laubhölzer. Auf einer Höhe von 4000 Fuß verlieren sich die Pflanzen, die uns bis dahin begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigenthümlicher Gewächse deu- tet uns eine schnell durchschrittne Zone sommergrüner Laubhöl- zer an, und wir sind umgeben von den harzigen Stämmen der canari- schen Kiefer. Ein Gürtel der Nadelhölzer schützt uns gegen die Sonnenstrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vege- tation plötzlich niedrig, durch niedriges Gebüsch geht sie über in eine Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt nackter Fels jedem organischen Leben eine Schranke setzt und nur deshalb kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil seine Höhe von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis so nahen Lage nicht bis in die Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als 50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetations- grenzen beurtheilen, hier aufwärts steigend in wenigen Stunden zu- rückgemessen. --
Auf diesem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts zur Spitze des Teyde, verändert sich die Vegetation conform mit den
blattloſer Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlſchmek- kende ſüße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bil- dungskraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten von Orotava auf Teneriffa, eine rieſige baumartige Lilienpflanze, erzählt dem ſinnigen Lauſcher die Sagen von vielen Jahrtauſenden.
Sechs Vegetationsgürtel ſind wir ſo durchzogen, in denen die allmä- lig ſteigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere Vegetation hervorrief und wir beſchließen unſere Wanderung, indem wir nach kurzer Raſt unter jenen fünftauſendjährigen Dracänen den Pic von Teyde erſteigen. Am flachen Fuße deſſelben hat der Menſch vom Boden Beſitz genommen und die urſprüngliche Vegeta- tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder ſteigen wir aufwärts bis uns die Schatten immergrüner Lorbeern umfangen. Sei- delbaſtarten und ähnliche Pflanzen ſchließen ſich an, wir durchwan- dern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laubhölzer. Auf einer Höhe von 4000 Fuß verlieren ſich die Pflanzen, die uns bis dahin begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigenthümlicher Gewächſe deu- tet uns eine ſchnell durchſchrittne Zone ſommergrüner Laubhöl- zer an, und wir ſind umgeben von den harzigen Stämmen der canari- ſchen Kiefer. Ein Gürtel der Nadelhölzer ſchützt uns gegen die Sonnenſtrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vege- tation plötzlich niedrig, durch niedriges Gebüſch geht ſie über in eine Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt nackter Fels jedem organiſchen Leben eine Schranke ſetzt und nur deshalb kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil ſeine Höhe von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis ſo nahen Lage nicht bis in die Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als 50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetations- grenzen beurtheilen, hier aufwärts ſteigend in wenigen Stunden zu- rückgemeſſen. —
Auf dieſem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts zur Spitze des Teyde, verändert ſich die Vegetation conform mit den
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blattloſer Wolfsmilcharten, durch ihre giftige oder wohlſchmek-
kende ſüße Milch ausgezeichnet, verrathen eine eigenthümliche Bil-
dungskraft in der Natur und der Drachenbaum in den Gärten
von Orotava auf Teneriffa, eine rieſige baumartige Lilienpflanze,
erzählt dem ſinnigen Lauſcher die Sagen von vielen Jahrtauſenden.
Sechs Vegetationsgürtel ſind wir ſo durchzogen, in denen die allmä-
lig ſteigende Temperatur des Climas eine immer andere, eine üppigere
Vegetation hervorrief und wir beſchließen unſere Wanderung, indem
wir nach kurzer Raſt unter jenen fünftauſendjährigen Dracänen
den Pic von Teyde erſteigen. Am flachen Fuße deſſelben hat der
Menſch vom Boden Beſitz genommen und die urſprüngliche Vegeta-
tion verdrängt. Durch Weinberge und Maisfelder ſteigen wir aufwärts
bis uns die Schatten immergrüner Lorbeern umfangen. Sei-
delbaſtarten und ähnliche Pflanzen ſchließen ſich an, wir durchwan-
dern eine Zeitlang einen Gürtel immergrüner Laubhölzer. Auf
einer Höhe von 4000 Fuß verlieren ſich die Pflanzen, die uns bis dahin
begleitet haben. Nur eine geringe Anzahl eigenthümlicher Gewächſe deu-
tet uns eine ſchnell durchſchrittne Zone ſommergrüner Laubhöl-
zer an, und wir ſind umgeben von den harzigen Stämmen der canari-
ſchen Kiefer. Ein Gürtel der Nadelhölzer ſchützt uns gegen die
Sonnenſtrahlen bis zu einer Höhe von 6000 Fuß, dann wird die Vege-
tation plötzlich niedrig, durch niedriges Gebüſch geht ſie über in eine
Flor, welche ganz den Character der Alpenkräuter trägt, bis zuletzt
nackter Fels jedem organiſchen Leben eine Schranke ſetzt und nur deshalb
kein Schnee und Eis die Spitze des Berges bedeckt, weil ſeine Höhe
von 11430 Fuß bei einer dem Wendekreis ſo nahen Lage nicht bis in die
Region des ewigen Schnees hinaufreicht. Den weiten Weg von
Spitzbergen bis zu den Canaren, eine Ausdehnung von mehr als
50 Breitengraden, haben wir, wenn wir ihn nach den Vegetations-
grenzen beurtheilen, hier aufwärts ſteigend in wenigen Stunden zu-
rückgemeſſen. —
Auf dieſem ganzen Wege, abwärts nach Süden und aufwärts
zur Spitze des Teyde, verändert ſich die Vegetation conform mit den
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Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 229. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/245>, abgerufen am 23.11.2024.
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