Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848.

Bild:
<< vorherige Seite

Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar
deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein
und derselbe ist, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräsentirt und
als solche fortwachsen und fortleben kann. Die Gestalten sind hier mei-
stentheils von außerordentlich vagen Umrissen begrenzt, am meisten bei
den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror-
dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden ist. Die gewöhnlich
im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper sind nämlich nur
die Fortpflanzungsorgane, gleichsam die Früchte der Pflanze. Aehn-
liche Unbestimmtheit der Formen herrscht noch bei den einfachen Algen,
lauter Wasserpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten,
den sogenannten Krustenflechten, welche als ein weißlicher, grauer
oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen.
Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas
bestimmter und zeigen oft sehr constante Gestalten, die selbst die
Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß sie
dieselbe Bedeutung, denselben morphologischen Werth wie in der
zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten.

Erst in dieser zeigen sich zwei so wesentlich verschiedene Entwick-
lungsprocesse an einer und derselben Pflanze, daß man die Producte
derselben als wesentlich verschiedene Grundorgane der Pflanze be-
trachten muß.

Das eine Organ ist das Erste, Ursprüngliche, und bildet sich immer
an seinen beiden freien Enden fort, diese Enden sind immer seine jüngsten
zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieses Organ Stengel im weite-
sten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An diesem ersten
Grundorgan und aus demselben hervor bildet sich dann ein zweites, des-
sen freies Ende zuerst entsteht, also der älteste Theil des Organs ist, es
wächst nur an seinem Grunde, wo es mit dem Stengel zusammen-
hängt und auch hier nur eine gewisse Zeit lang fort, und wird auf
diese Weise gleichsam aus dem Stengel hervorgeschoben. Es wird
Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe-
grenztes Wachsthum als möglich erscheinen läßt, ist dieses durch die

Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar
deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein
und derſelbe iſt, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräſentirt und
als ſolche fortwachſen und fortleben kann. Die Geſtalten ſind hier mei-
ſtentheils von außerordentlich vagen Umriſſen begrenzt, am meiſten bei
den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror-
dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden iſt. Die gewöhnlich
im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper ſind nämlich nur
die Fortpflanzungsorgane, gleichſam die Früchte der Pflanze. Aehn-
liche Unbeſtimmtheit der Formen herrſcht noch bei den einfachen Algen,
lauter Waſſerpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten,
den ſogenannten Kruſtenflechten, welche als ein weißlicher, grauer
oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen.
Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas
beſtimmter und zeigen oft ſehr conſtante Geſtalten, die ſelbſt die
Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß ſie
dieſelbe Bedeutung, denſelben morphologiſchen Werth wie in der
zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten.

Erſt in dieſer zeigen ſich zwei ſo weſentlich verſchiedene Entwick-
lungsproceſſe an einer und derſelben Pflanze, daß man die Producte
derſelben als weſentlich verſchiedene Grundorgane der Pflanze be-
trachten muß.

Das eine Organ iſt das Erſte, Urſprüngliche, und bildet ſich immer
an ſeinen beiden freien Enden fort, dieſe Enden ſind immer ſeine jüngſten
zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieſes Organ Stengel im weite-
ſten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An dieſem erſten
Grundorgan und aus demſelben hervor bildet ſich dann ein zweites, deſ-
ſen freies Ende zuerſt entſteht, alſo der älteſte Theil des Organs iſt, es
wächſt nur an ſeinem Grunde, wo es mit dem Stengel zuſammen-
hängt und auch hier nur eine gewiſſe Zeit lang fort, und wird auf
dieſe Weiſe gleichſam aus dem Stengel hervorgeſchoben. Es wird
Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe-
grenztes Wachsthum als möglich erſcheinen läßt, iſt dieſes durch die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0109" n="93"/>
Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar<lb/>
deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein<lb/>
und der&#x017F;elbe i&#x017F;t, jeder Theil daher die ganze Pflanze reprä&#x017F;entirt und<lb/>
als &#x017F;olche fortwach&#x017F;en und fortleben kann. Die Ge&#x017F;talten &#x017F;ind hier mei-<lb/>
&#x017F;tentheils von außerordentlich vagen Umri&#x017F;&#x017F;en begrenzt, am mei&#x017F;ten bei<lb/>
den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror-<lb/>
dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden i&#x017F;t. Die gewöhnlich<lb/>
im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper &#x017F;ind nämlich nur<lb/>
die Fortpflanzungsorgane, gleich&#x017F;am die Früchte der Pflanze. Aehn-<lb/>
liche Unbe&#x017F;timmtheit der Formen herr&#x017F;cht noch bei den einfachen Algen,<lb/>
lauter Wa&#x017F;&#x017F;erpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten,<lb/>
den &#x017F;ogenannten Kru&#x017F;tenflechten, welche als ein weißlicher, grauer<lb/>
oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen.<lb/>
Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas<lb/>
be&#x017F;timmter und zeigen oft &#x017F;ehr con&#x017F;tante Ge&#x017F;talten, die &#x017F;elb&#x017F;t die<lb/>
Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß &#x017F;ie<lb/>
die&#x017F;elbe Bedeutung, den&#x017F;elben morphologi&#x017F;chen Werth wie in der<lb/>
zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten.</p><lb/>
        <p>Er&#x017F;t in die&#x017F;er zeigen &#x017F;ich zwei &#x017F;o we&#x017F;entlich ver&#x017F;chiedene Entwick-<lb/>
lungsproce&#x017F;&#x017F;e an einer und der&#x017F;elben Pflanze, daß man die Producte<lb/>
der&#x017F;elben als we&#x017F;entlich ver&#x017F;chiedene Grundorgane der Pflanze be-<lb/>
trachten muß.</p><lb/>
        <p>Das eine Organ i&#x017F;t das Er&#x017F;te, Ur&#x017F;prüngliche, und bildet &#x017F;ich immer<lb/>
an &#x017F;einen beiden freien Enden fort, die&#x017F;e Enden &#x017F;ind immer &#x017F;eine jüng&#x017F;ten<lb/>
zuletzt gebildeten Theile, wir nennen die&#x017F;es Organ <hi rendition="#g">Stengel</hi> im weite-<lb/>
&#x017F;ten Sinne des Worts, oder <hi rendition="#g">Axe der Pflanze</hi>. An die&#x017F;em er&#x017F;ten<lb/>
Grundorgan und aus dem&#x017F;elben hervor bildet &#x017F;ich dann ein zweites, de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en freies Ende zuer&#x017F;t ent&#x017F;teht, al&#x017F;o der älte&#x017F;te Theil des Organs i&#x017F;t, es<lb/>
wäch&#x017F;t nur an &#x017F;einem Grunde, wo es mit dem Stengel zu&#x017F;ammen-<lb/>
hängt und auch hier nur eine gewi&#x017F;&#x017F;e Zeit lang fort, und wird auf<lb/>
die&#x017F;e Wei&#x017F;e gleich&#x017F;am aus dem Stengel hervorge&#x017F;choben. Es wird<lb/><hi rendition="#g">Blatt</hi> in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe-<lb/>
grenztes Wachsthum als möglich er&#x017F;cheinen läßt, i&#x017F;t die&#x017F;es durch die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[93/0109] Bildung der Fortpflanzungszellen überhaupt nicht die Rede und zwar deshalb, weil der Entwicklungsproceß in allen Theilen der Pflanze ein und derſelbe iſt, jeder Theil daher die ganze Pflanze repräſentirt und als ſolche fortwachſen und fortleben kann. Die Geſtalten ſind hier mei- ſtentheils von außerordentlich vagen Umriſſen begrenzt, am meiſten bei den Schwämmen, bei denen die eigentliche Pflanze nur ein außeror- dentlich vergängliches Geflecht einiger zarten Fäden iſt. Die gewöhnlich im gemeinen Leben als Schwämme bezeichneten Körper ſind nämlich nur die Fortpflanzungsorgane, gleichſam die Früchte der Pflanze. Aehn- liche Unbeſtimmtheit der Formen herrſcht noch bei den einfachen Algen, lauter Waſſerpflanzen, und nicht minder bei den niederen Flechten, den ſogenannten Kruſtenflechten, welche als ein weißlicher, grauer oder gelber Schorf alte Mauern, Steine und Planken überziehen. Nur bei den höheren Algen und Flechten werden die Formen etwas beſtimmter und zeigen oft ſehr conſtante Geſtalten, die ſelbſt die Aehnlichkeit von Stengeln und Blättern erhalten, aber ohne daß ſie dieſelbe Bedeutung, denſelben morphologiſchen Werth wie in der zweiten großen Pflanzenabtheilung erhielten. Erſt in dieſer zeigen ſich zwei ſo weſentlich verſchiedene Entwick- lungsproceſſe an einer und derſelben Pflanze, daß man die Producte derſelben als weſentlich verſchiedene Grundorgane der Pflanze be- trachten muß. Das eine Organ iſt das Erſte, Urſprüngliche, und bildet ſich immer an ſeinen beiden freien Enden fort, dieſe Enden ſind immer ſeine jüngſten zuletzt gebildeten Theile, wir nennen dieſes Organ Stengel im weite- ſten Sinne des Worts, oder Axe der Pflanze. An dieſem erſten Grundorgan und aus demſelben hervor bildet ſich dann ein zweites, deſ- ſen freies Ende zuerſt entſteht, alſo der älteſte Theil des Organs iſt, es wächſt nur an ſeinem Grunde, wo es mit dem Stengel zuſammen- hängt und auch hier nur eine gewiſſe Zeit lang fort, und wird auf dieſe Weiſe gleichſam aus dem Stengel hervorgeſchoben. Es wird Blatt in weiterer Bedeutung genannt. Während jenes ein unbe- grenztes Wachsthum als möglich erſcheinen läßt, iſt dieſes durch die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/109
Zitationshilfe: Schleiden, Matthias Jacob: Die Pflanze und ihr Leben. Leipzig, 1848, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiden_pflanze_1848/109>, abgerufen am 05.05.2024.